Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Die Verwaltung sitzt am  längeren Hebel
Martin Föhse, zvg.

Die Verwaltung sitzt am
längeren Hebel

Durch die steigende Komplexität und Zahl der Geschäfte gewinnt die Verwaltung an Macht – nicht nur gegenüber dem Bundesrat, sondern auch gegenüber dem Parlament.

 

«Stärker, als der Bürger weiss, wird die Regierung in ihrem Handeln von der Verwaltung bestimmt. Die Regierung hat zwar an Einfluss und sichtbarer Autorität gewonnen, aber zugleich ist ihre Bindung an den sachkundigen administrativen Apparat enger geworden. Sie ist nicht mehr in erster Linie das die Verwaltung lenkende Organ; sie ist in vielem – gewiss nicht in allem – weit eher die nach aussen gekehrte Seite der Verwaltung selbst.» Diese Zeilen stammen aus dem berühmten Aufsatz «Helvetisches Malaise» des Staatsrechtlers Max Imboden aus dem Jahr 1964.

Schon im Jahr 1877, also knapp neunzig Jahre zuvor, schrieb Jakob Dubs, die «Bureaukratie» habe durch die «grosse Vermehrung der Zahl der neuen Angestellten», die «bedeutende Erweiterung der Staatsaufgaben selbst ungemein an Kraft und Einfluss gewonnen». Dubs konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine Karriere als Nationalrat, Ständerat, Bundesrat und zuletzt Bundesrichter zurück­blicken.

Monströse Departemente

Zu jener Zeit, als Dubs die «grosse Vermehrung der Zahl neuer Angestellter» in der zentralen Bundesverwaltung beklagte, waren dort gut 1000 Personen beschäftigt. Heute sind es gegen 40 000, darunter dürften sich gegen 10 000 Akademikerinnen und Akademiker befinden. Viele von ihnen sind hochspezialisiert in ihrem Bereich und sitzen teilweise bereits seit Jahren auf ihren Posten. Bundesrätinnen und Bundesräte stehen mitunter monströs grossen Departementen vor, deren Politikbereiche in anderen Ländern gleich von mehreren Ministerien abgedeckt werden.

Übernimmt ein Mitglied des Bundesrats ein Departement, sieht er oder sie sich also zunächst einer halben Armee hochspezialisierter Fachleute mit grosser Erfahrung gegenüber. Gleichzeitig werden die Themen nicht einfacher – auch dies ein altes Lamento. Der Staatsrechtler Fritz Fleiner schrieb schon 1911, die Gesetze würden «von Jahr zu Jahr komplizierter». Er hat noch immer recht, nicht nur wegen der immer stärkeren Internationalisierung der Politik.

Es ist für die zuständige Departementschefin oder den zuständigen Departementschef enorm anspruchsvoll, mit der Verwaltung mit- oder ihr sogar entgegenzuhalten. Inwieweit dies gelingt, inwiefern eine politische Agenda durchsetzbar ist und die Verwaltung ihre dienende Rolle effizient und im Sinne der Leitung wahrnimmt, hängt stark von ihm oder ihr selbst ab, dem Stab, dem persönlichen Umfeld, aber auch in grossem Masse von der Loyalität und den Fähigkeiten der Mitarbeitenden des federführenden Amtes. Noch anspruchsvoller ist es für die sechs übrigen Kolleginnen und Kollegen im Gremium, den Durchblick in einem Dossier eines anderen Departements zu haben. Man beachte die enorme Geschäftsflut. Gemäss Website der Bundeskanzlei sind es rund 2500 Geschäfte pro Jahr bei rund einer Sitzung pro Woche à rund drei Stunden. Das Gros der Anträge dürfte durchgewunken werden, soweit es nicht um grundlegende Fragen geht. Der Bundesrat zerfällt nicht nur in die einzelnen Departemente, sondern es verlagert sich in weiten Teilen auch die Entscheidungsmacht hinab auf Stufe Bundesamt, obwohl formal der Bundesrat zuständig wäre.

Wie schon gezeigt, ist diese Problematik seit weit über hundert Jahren bekannt. Das Thema Staatsleitungsreform ist auch seit Jahrzehnten immer wieder auf der politischen Agenda. Die Versuche scheitern regelmässig. Schon nur die nackten Zahlen zum Bundespersonal machen aber ­offensichtlich, dass die Situation mit den Jahren schwerlich besser, sondern herausfordernder geworden ist. Die ursprünglich einfachen Verhältnisse, die die Schöpfer der Verfassung noch vor Augen hatten, haben sich radikal ­verändert. Die Regierung ist in enormem Mass von der ­Verwaltung abhängig. Was sich üblicherweise im Verborgenen abspielt, tritt in Krisenzeiten offen zutage. In der Pandemie ist das Bundesamt für Gesundheit als Berater und Lenker omnipräsent.

«Übernimmt ein Mitglied des Bundesrats ein Departement,

sieht er oder sie sich einer halben ­Armee hochspezialisierter

Fachleute mit grosser Erfahrung gegenüber.»

Berner Ausdauerathleten

Es ist nun aber nicht nur der Bundesrat, der von der Verwaltung abhängig ist. Es ist es – in nicht viel geringerem Masse – auch das Parlament. Und dies gar in der Königsdisziplin, der Rechtsetzung. In der Aussenwahrnehmung dürften viele der Illusion unterliegen, Gesetze würden im Parlament entstehen. Vergleicht man das Gesetzgebungsverfahren mit einem Marathon, nimmt der Läufer im Zeitpunkt, zu dem ein Gesetzesentwurf das Parlament erreicht, allerdings bereits die letzten zehn der zweiundvierzig Kilometer in Angriff. Die Erarbeitung des Gesetzesentwurfes liegt meist in der Verantwortung des Bundesrats – und damit ebenfalls in den Händen der Verwaltung. Wie stark in der wichtigen Vorbereitungsphase auch Dritte teilhaben, ist vor allem vom Politikbereich und dem Gewicht der jeweiligen Stakeholder, meist der Verbände, abhängig. Die Faustregel: Je wahrscheinlicher ein Referendum ist, desto stärker werden Interessengruppen einbezogen. Dennoch liegt es auch hier vielfach im Belieben der Verwaltung, wie gut sie zuhört oder sich gar am Zeug flicken lässt.

Die Verwaltung begleitet ihren Gesetzesentwurf, zusammen mit dem zuständigen Bundesratsmitglied, dann auch in den parlamentarischen Beratungen. Sie nimmt in beratender Funktion an den Kommissionssitzungen teil, wo sie auf die Abgeordneten trifft. Anders als im Bundesrat sind hier keine Profis, sondern Milizpolitikerinnen und -politiker am Werk, die, so die Theorie, nebenher noch ein wenig Gesetzgebung betreiben sollen. Das Problem, das der Bundesrat gegenüber der Verwaltung hat, hat aber ganz offensichtlich erst recht das Parlament.

Akzentuiert in Erscheinung tritt die Abhängigkeit bei parlamentarischen Initiativen. Diese sollte die Bundesversammlung an sich in Eigenregie erarbeiten. Dies ist bei komplexen Fragen aber völlig unrealistisch. Das Parlament ist auch hier auf die Expertise und Beratung der Verwaltung angewiesen. Es geht hier um weit mehr als nur darum, das Gewollte in einen Gesetzestext zu giessen. Es geht zum Beispiel auch darum, die Grundlagen für Entscheide zu liefern, Abhängigkeiten aufzuzeigen, auf Entwicklungen aufmerksam zu machen oder Kosten abzuschätzen. Das alles kann das Parlament aus eigener Kraft nicht leisten. Dies nimmt mitunter groteske Züge an. So kommt es vor, dass eine Verwaltungsmitarbeiterin den Gesetzesentwurf und die Erläuterungen zu einer parlamentarischen Initiative für eine Kommission redigiert, anschliessend aber auch die Stellungnahme des Bundesrates zur Vorlage – mit einschliessend die Sprechnotizen für die jeweiligen Voten im Plenum. Neckisch wird es, wenn der Bundesrat den Vorstoss nicht unterstützt und sie gegen ihren eigenen Text anzuschreiben hat.

Ist dann das Gesetz verabschiedet, widmet sich die Bundesversammlung wieder anderen Geschäften. Für besagte Mitarbeiterin geht es aber weiter. Sie arbeitet die Verordnung aus, die anschliessend vom Bundesrat als eines seiner 2500 Geschäfte verabschiedet wird. Am Ende ist sie dann noch mit dem Vollzug betraut und wendet das neue Recht an. Wohl nicht alle Legislativmitglieder sind sich des Ausmasses ihrer Abhängigkeit bewusst. Die Band-breite reicht von Demut über Begabung und hohe Sachkompetenz bis hin zu massloser Selbstüberschätzung. Immerhin ist man ja von Verfassung wegen «die oberste Gewalt im Bund». Das ist schmeichelhaft, kann aber auch zu einer Verblendung führen. Es ist paradox: Das Parlament kann alles – und doch kann es allein nichts.

Das heute durch die Bundesversammlung und den Bundesrat gesetzte Recht kann deshalb mitunter – natürlich nicht immer – ein demokratisches Legitimationsproblem haben. Dies namentlich dann, wenn man die Verfassung historisch auslegt und ein statisches Verfassungsverständnis hat, wie beispielsweise ein Zaccaria Giacometti. Die Juristen haben sich denn auch schon lange vom klassischen Gewaltenteilungsdogma verabschiedet. Man spricht von einer Staatsleitung zu gesamter Hand, von einem arbeitsteiligen Zusammenwirken, gerade zwischen Regierung und Parlament. Dennoch – die demokratische Legitimation der Erlasse von Bundesversammlung und Bundesrat sollte verbessert werden. Zugespitzt formuliert: Ein grosser Gewinn wäre bereits, wenn Bundesrat und Parlament schon nur halbwegs in die Lage versetzt würden, zu verstehen, was sie beschliessen.

Mehr Dossierfestigkeit für Bundesrat und Parlament

Ideen, wie man das Problem bewältigen könnte, gibt es viele. Ein immer wieder aufgewärmter Gedanke ist der Wechsel von einem Miliz- zu einem Berufsparlament. Dies wird das Problem aber nicht lösen. Faktisch sind schon heute die meisten Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf Bundesebene von ihrem Amt absorbiert und dementsprechend Profis – sofern sie die Aufgabe ernsthaft wahrnehmen. Ein anderer Weg, um den Wissensrückstand gegenüber der Verwaltung ein wenig auszugleichen, könnte aber sein, den Fraktionen finanzielle Mittel zu Verfügung zu stellen, um bei ausgewählten, wichtigen Geschäften Expertinnen und Experten ihrer Wahl als Beratende beizuziehen. Man müsste gar in Erwägung ziehen, diesen zu erlauben, den Kommissionssitzungen beizuwohnen (wohl aber nicht, das Wort zu ergreifen). Der Aufbau einer wissenschaftlichen Parlamentsverwaltung, die diese Aufgabe für die Fraktionen übernimmt – so wie sie etwa der Deutsche Bundestag kennt –, scheint mir für die Schweiz aber weder geeignet noch wirkungsvoll umsetzbar. Ebenso unrealistisch ist angesichts der bereits bestehenden Überlastung ein systematischer Einbezug des Parlaments im Vorverfahren der Gesetzgebung. Im Gegenteil: Es braucht eine «Verwesentlichung» der Geschäfte – weg von der formalen Scheinlegitimation durch Abnicken der Gesetze im Massengeschäft, hin zur materiellen Legitimation durch Begreifen und zu bewusstem Beschliessen grundlegender Fragen.

Die Erhöhung der Zahl der Bundesrätinnen und Bundesräte ist im gegenwärtigen System ebenso nicht zielführend. Hier muss man insbesondere im Auge behalten, dass der Bundesrat als Kollegium entscheiden muss. Es gibt heute keinen Premierminister, keine Kanzlerin, der oder die vorgeben könnte, wo’s langgeht. Das einzige, was man mit einer Erhöhung der Anzahl der Mitglieder erreichte, wären längere Diskussionen und eine schwierigere Be-schlussfassung. In bezug auf die Dossierfestigkeit dürfte die Massnahme im Verhältnis zu ihren Nachteilen kaum einen entscheidenden Mehrwert mit sich bringen. Das Zwischenschalten von Staatssekretärinnen und Staatssekretären auf einer zweiten Führungsebene könnte hingegen zu einer gewissen Entlastung zumindest im Tagesgeschäft führen, wenn es geschickt umgesetzt wird.

«Ein grosser Gewinn wäre bereits,

wenn Bundesrat und Parlament schon

nur halbwegs in die Lage versetzt würden,

zu verstehen, was sie beschliessen.»

Von der Bürokratie zur Regulierungsflut

Die Probleme von Bundesrat und Parlament sind hausgemacht. Es ist die Bundesversammlung, die darüber beschliesst, welche Aufgaben der Bund an sich ziehen soll und wie viel Ressourcen sie der Bundesverwaltung zugesteht. Wie Jakob Dubs auch bereits 1877 feststellte, haben nämlich «die neuen Angestellten den Trieb […], ihren Geschäftskreis zu erweitern (…)». Das dürfte noch immer zutreffen. Die einzelnen Ämter ziehen mitunter frischgebackene Akademikerinnen und Akademiker an, die in ihrem Leben manchmal noch nichts anderes gesehen haben als ein Schulzimmer oder einen Hörsaal von innen. So finden dann beispielsweise hochqualifizierte, feurige Umweltschützerinnen und Umweltschützer, die geradezu sprudeln vor Ideen, eine Anstellung im Bundesamt für Umwelt.

Ihre Hemmungen, an der Regulierungsschraube zu drehen, sind mitunter nicht allzu stark ausgebildet. Meist passiert es mit besten Absichten, die Welt zu retten, aber aus einer einseitigen Perspektive heraus und ohne Bewusstsein für die Rolle des Staates in einer freiheitlichen Rechtsordnung, für den fundamentalen Grundsatz, dass Bürgerinnen und Bürger freie Menschen sind. Der Staat muss sich rechtfertigen, wenn er in deren Freiheit, in ihr unternehmerisches Handeln eingreift, nicht die Bürgerinnen und Bürger, wenn sie vom Staat nicht behelligt werden wollen. Generell steht es mitunter dürftig um die staatsrechtliche Grundbildung in der Verwaltung. Manchmal fehlt es auch am Verständnis dafür, was neue Regeln für Auswirkungen auf den Alltag der Betroffenen haben. Abhilfe schaffen könnten hier schon nur zwei Massnahmen: (1) Bundespersonal auf Kaderstufe braucht zwingend eine staatsrechtliche Grundbildung. (2) Wer in die Bundesverwaltung eintritt, sollte zuvor mindestens vier Jahre in der Privatwirtschaft gearbeitet haben. Dies könnte bereits eine gewisse heilsame Wirkung entfalten.

Verfassungsgericht als Regulierungsbremse

Die Regulierungsbremse ist bereits in der Verfassung angelegt. Die Brandmauer zwischen Staat und Bürgerschaft sind die Grundrechte. Das Problem ist, dass sie in der Regulierung zu wenig beherzigt werden. Die Begründungen für staatliche Eingriffe in den Botschaften des Bundesrats oder in Erläuterungen zu Verordnungen sind mitunter geradezu pitoyabel. Das Problem ist, dass bei übermässigen Eingriffen in der Regel keine Konsequenzen drohen. Es bräuchte eine voll ausgebildete Verfassungsgerichtsbarkeit, die auch rasch entscheiden kann, um dem zu begegnen. Auch Kantone könnten sich so wehren, wenn der Bund rechts-widrig Kompetenzen an sich zieht. Eine solches Korrektiv fehlt aber in der Schweiz. Der Bundesgesetzgeber hat keinen richterlichen Hammer zu befürchten, wenn er verfassungswidriges Recht setzt. Der Bundesrat zwar schon – aber für Private ist es meist nicht realistisch, gegen eine Verordnung anzukämpfen, denn dies erfordert insbesondere Geld und Zeit. Ferner drohen Reputationsrisiken.

Die Einführung einer voll ausgebildeten Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene bedarf aber einer Verfassungsänderung, die wohl kaum die nötige Mehrheit bei Volk und Ständen finden würde. Das Anliegen dürfte paradoxerweise gerade an jenen scheitern, die sich am meisten über die Regulierungsflut beklagen.

Bis sich etwas ändert, kann man es nur mit Bismarck halten: «Wer weiss, wie Gesetze und Würste zustande kommen, kann nachts nicht mehr ruhig schlafen.»

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!