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(6) Die vermessene Psyche

Im Verlauf ihrer Entwicklung hat die Psychologie sich zunehmend von einer Geistes- zu einer Naturwissenschaft gewandelt – und auch hier findet diese Veränderung ihren deutlichsten Ausdruck in der Verdrängung qualitativer Aspekte durch quantifizierende Methoden.

Die Entwicklung hin zu Zahlen ist keineswegs neu. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir beispielsweise in der Psychodiagnostik eine starke Betonung der quantifizierenden Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen wie Merk-, Reaktions- und Auffassungsfähigkeit in den verschiedenen Sinnesbereichen. Vielfach wurden auch apparative Verfahren eingesetzt, die eine möglichst exakte Messung dieser Merkmale garantieren sollten, was den Repräsentanten dieser Richtung der Psychodiagnostik auch den Namen «Psychotechniker» eingetragen hat.

Aber auch im Bereich der allgemeinen Psychologie (heute bekannt unter dem Begriff der «kognitiven Psychologie») wurden die Wahrnehmungs-, Lern- und Denkprozesse mit Hilfe quantifizierender Methoden untersucht und die Ergebnisse in Zahlen dargestellt. Bekannte Vertreter dieser experimentellen Richtung sind Wilhelm Wundt (der 1886 Kriterien des psychologischen Experiments aufgestellt hat, die sich an der Definition des naturwissenschaftlichen Experiments orientierten), James McKeen Cattell (dessen bahnbrechendes, 1890 veröffentlichtes Werk «Mental Tests and Measurements» im Titel ausdrücklich den Begriff des Messens enthält) und Sir Francis Galton (der bereits 1882 in London ein Institut für experimentell-psychologische Untersuchungen gründete). Diese Forscher orientierten sich stark an den Naturwissenschaften und waren bestrebt, die psychischen Funktionen möglichst exakt zu erfassen und zu quantifizieren.

Schon bald erhob sich jedoch Kritik an dieser Art von Psychologie, die den Kritikern allzu mechanistisch erschien und den Menschen als Summe von Einzelfunktionen definierte. So postulierten die Vertreter der Gestaltpsychologie, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile und wiesen damit darauf hin, dass es am Wesen des Menschen vorbeigehe, wenn er als Bündel von Einzelfunktionen beschrieben werde. Er stelle vielmehr ein Funktionsgesamt dar, das etwas qualitativ anderes sei als eine Addition einzelner Persönlichkeitsmerkmale.

Auch die Psychoanalyse Sigmund Freuds ging von einem Persönlichkeitsmodell aus, das die dynamische Ganzheit des Menschen betonte und sich dadurch von der experimentellen Psychologie ihrer Zeit absetzte. Im Gegensatz zur quantifizierenden experimentellen Psychologie liegt der Psychoanalyse eine hermeneutische, der Philosophie nahestehende Methode zugrunde, auch wenn Sigmund Freud selbst sich der medizinischen Wissenschaft eng verbunden fühlte und sich immer wieder bemühte, Brücken zu schlagen zwischen der natur- und der geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise.

Im Verlauf der 70er, 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts schlug das Pendel in der «akademischen» Psychologie (mit «akademisch» meine ich die an den Universitäten gelehrte Psychologie und verbinde damit kein Werturteil) weit auf die Seite der quantifizierenden Methoden aus. In ihrem Bestreben, sich als eigenständige Wissenschaft zu definieren und sich von den Geisteswissenschaften zu distanzieren, orientierte sie sich – und orientiert sich immer noch – stark an den naturwissenschaftlichen Methoden und weist damit den «Zahlen» einen sehr grossen Stellenwert zu. Als «wissenschaftlich» gelten in dieser Sicht «exakte» Messungen und die Anwendung statistischer Methoden zur Absicherung von Aussagen, die aufgrund solcher Untersuchungen gemacht werden können.

Diese mitunter extrem quantifizierende Ausrichtung zeigt sich in praktisch allen Bereichen der Psychologie. Berühmt – und berüchtigt – sind in der Testpsychologie die Diskussionen um den Intelligenzquotienten (IQ), die mitunter zu einer wahren Zahlenakrobatik führen. Voller Stolz brüsten sich die getesteten Personen voreinander, einen IQ erreicht zu haben, der einige Punkte über dem einer anderen Person liege. In Boulevardzeitschriften werden «IQ-Tests» präsentiert, die dem Leser verheissen, er könne mit Hilfe dieser Aufgaben sein Begabungspotential bestimmen. Auch die verschiedenen Persönlichkeitsfragebögen zur Erfassung von Depressivität, Angst, Zwangsphänomenen und anderen psychischen Symptomen sind mit Hilfe differenzierter statistischer Verfahren (Itemanalysen, Prüfung der Gütekriterien und Verwendung von Faktoren, Diskriminanz- und Clusteranalysen) entwickelt worden und operieren bei der Auswertung und Interpretation auf der Ebene der Quantifizierung, indem sie das Ausmass der Störung in Form von Zahlenwerten definieren. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den verstärkten Einsatz der «computergestützten» Diagnostik – auch dies Ausdruck der hohen Bewertung der Quantifizierung in der heutigen Psychologie.

Um noch ein Beispiel zu erwähnen: Publikationen in renommierten psychologischen Fach-zeitschriften sind heute nahezu unmöglich, wenn die – mit quantitativen Methoden ermittelten – Resultate nicht statistisch (also wiederum quantitativ) abgesichert sind. Der Nachweis einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p<0.001 wirkt geradezu wie ein Zauberwort, das die Tore zur «wissenschaftlichen Welt» aufspringen lässt. Qualitative diagnostische Verfahren (das bekannteste unter ihnen ist wohl der Rorschachtest) sind hingegen weitgehend aus dem Repertoire der universitären Psychologie verschwunden. Sie gelten weithin als «unwissenschaftlich», lassen sich ihre Resultate doch nur in begrenztem Masse oder gar nicht quantifizieren und erfolgt die Auswertung doch vor allem nach qualitativen Gesichtspunkten. Ähnlich ist es in anderen Bereichen der Psychologie, in denen qualitative Studien mit grosser Skepsis betrachtet werden, es sei denn, die qualitativ erhobenen Resultate liessen sich zumindest im Rahmen der Auswertung doch noch quantifizieren und statistisch prüfen.

Auch das Verschwinden verschiedener psychologischer Fächer im Kanon der universitären psychologischen Angebote weist auf die klare Dominanz der quantifizierenden Richtungen hin. So finden sich heute in den Universitäten kaum mehr Lehrstühle für Anthropologische Psychologie, Parapsychologie, Musikpsychologie und andere an den Geisteswissenschaften orientierte Fächer. Und schliesslich fristet auch die Psychoanalyse in den universitären Angeboten der Psychologie (und zunehmend auch im Rahmen der Psychiatrie) ein Schattendasein und verliert dadurch in Lehre, Forschung und Ausbildung mehr und mehr an Bedeutung.

Bei den bisherigen Ausführungen könnte der Eindruck entstanden sein, wir befänden uns auf dem Weg zu einer immer extremer werdenden Zahlen«gläubigkeit», ja geradezu Zahlenabhängigkeit. Diese Gefahr sehe ich sehr wohl und empfinde es persönlich als eine verhängnisvolle Einengung unserer psychologischen Konzepte, wenn nur noch das gilt, was quantifizierbar ist. So hilfreich solche Methoden in vielen Bereichen auch seien, letztlich vermögen sie doch nicht das Wesen des Menschen einzufangen und abzubilden. Insofern gilt auch heute noch der oben zitierte Grundsatz der Gestaltpsychologie, dass der Mensch durch die Addition noch so exakt erfasster Einzelmerkmale eben nicht zu bestimmen ist, dass es vielmehr auf das Funktionsgesamt ankommt.

In der Psychologie der Gegenwart scheint sich allerdings eine Trendwende abzuzeichnen. Neben der nach wie vor extremen Betonung der quantitativen Aspekte, die oft geradezu den Charakter eines «Zahlenwahns» annehmen, beginnt sich auch im wissenschaftlichen Bereich zunehmend die Einsicht durchzusetzen, dass qualitative Studien keineswegs geringer zu bewertende Forschungskonzepte sind. Ihren Ausdruck findet diese veränderte Bewertung beispielsweise in Interviewstudien mit speziell für diese Untersuchungen entwickelten qualitativen Auswertungsmethoden. Die qualitative Forschung wird in der Gegenwart nicht mehr beiseite geschoben, sondern ist wieder «salonfähig» geworden; heute wird ihr ein eigenständiger Wert beigemessen. Selbst in der Psychodiagnostik, die im universitären Bereich nach wie vor, mitunter extrem, auf Zahlen setzt, wird im klinischen Alltag ein verstärktes Interesse an qualitativen Verfahren spürbar.

Dies sind indessen nur erste Ansätze eines Umdenkens. Der Mainstream der Psychologie folgt immer noch den quantitativen Konzepten und betrachtet sie – und nur sie – als die «wahre Wissenschaft». Dabei sind sich die Vertreter dieser Auffassung offensichtlich nicht bewusst, dass selbst bei ihrem Ansatz oft gleichsam «durch die Hintertür» dann doch auch qualitative Aspekte ins Spiel kommen. So kann man zwar beispielsweise in der Psychodiagnostik mit Hilfe von IQ-Werten quantitativ die Intelligenz bestimmen. In der Bewertung solcher Resultate zeigen sich dann aber plötzlich doch qualitative Gesichtspunkte, wenn ab einem bestimmten IQ-Wert von «Unterintelligenz» oder «Hochbegabung» die Rede ist.

Noch deutlicher tritt dieses Umschlagen von quantitativen zu qualitativen Aussagen in der Persönlichkeitsdiagnostik zutage, wenn ab einem bestimmten (quantitativ ermittelten) Aus-prägungs-grad etwa von Angst oder Depression von einer «psychischen Störung» die Rede ist, während niedrigere Angst- oder Depressionswerte Ausdruck von «Normalität» sind.

Es wurde bereits festgehalten: die Geschichte der Psychologie offenbart, dass sie sich im Lauf der letzten hundert Jahre von einer Geisteswissenschaft zu einer Naturwissenschaft gewandelt hat. Damit einher ging – und geht weiterhin – das Bestreben, quantitative Methoden zu verwenden und die Resultate (wiederum quantitativ) statistisch abzusichern. So sinnvoll und wichtig diese Entwicklung war, so liegt darin doch auch die Gefahr einer gewissen Einseitigkeit und Einengung insofern, als auf diese Weise manche Themata und Zugangswege zur Erforschung des Menschen verloren gegangen oder zumindest nicht weiter entwickelt worden sind. Unter diesem Aspekt betrachtet, hat die Distanzierung der Psychologie von den Geisteswissenschaften nicht nur neue Perspektiven eröffnet, sondern die Disziplin durchaus auch verengt und so verarmen lassen.

Im Kontext der kritischen Anmerkungen, wie ich sie hier zur Situation der Psychologie in der Gegenwart anbringe, ist indes zu bedenken, dass die Disziplin nicht isoliert betrachtet werden darf. Sie ist, wie andere Wissenschaften auch, eingebettet in den gesamtgesellschaftlichen Kontext und so dem «Zeitgeist», den politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Einflüssen unserer Zeit natürlich ausgesetzt. Betrachten wir das heute gültige Welt- und Menschenbild, so zeigt sich schnell, dass in der Gegenwart generell die Zahlen – und damit die messenden, quantifizierenden Ansätze, die uns die Welt als berechenbar und damit beherrschbar darstellen wollen – eine enorme Macht besitzen. Selbst das Risiko von Umweltschäden oder von möglichen Katastrophen wird bis auf die dritte oder vierte Dezimalstelle nach dem Komma berechnet. Zuversichtlich, dass sich auch diese Unsicherheit irgendwann einmal ausräumen lassen werde, sprechen die Forscher dann jeweils von einem «Restrisiko», das – noch! – nicht genau zu bestimmen sei und vorerst in Kauf genommen werden müsse.

Einerseits ist die Psychologie diesen gesamtgesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt und kann sich ihnen nicht gänzlich entziehen. Anderseits stellt sich die Frage, ob nicht gerade die Psychologie geeignet wäre, mit Hilfe ihrer Methoden diesen Prozessen und Dynamismen ihrerseits auf den Grund zu gehen und damit für die Gesamtgesellschaft eine im besten Sinne emanzipatorische Wirkung zu entfalten. Eine solche Rolle hat ja die Psychoanalyse in ihren Anfängen gespielt. Neben der Ausrichtung auf die Psychotherapie psychisch leidender Menschen war sie von jeher auch eine gesellschaftskritische Theorie, die es sich auf die Fahne geschrieben hatte, nicht nur das Individuum, sondern auch die Gesellschaft insgesamt aus emotionalen Verstrickungen und Einengungen zu befreien und den Weg zur Selbst-werdung zu öffnen.

Eine solche gesellschaftskritische Sicht wieder vermehrt in ihre Überlegungen einzubeziehen und damit erstarrte, Kreativität hemmende Mechanismen aufzudecken und abzubauen, gehört meines Erachtens zu den wichtigsten Herausforderungen der heutigen Psychologie. Die Ergebnisse einer derartigen Ausrichtung müssten zum Verständnis und zur Lösung auch von Konflikt- und Gewaltsituationen beitragen. Eine grosse Hilfe könnten etwa die psychodynamischen Konzepte sein, wie sie von der psychoanalytischen Sozialpsychologie entwickelt worden sind. Viel ist überdies von der Genderforschung zu erwarten, weil gerade im Rahmen ihrer Konzepte festgefahrene, scheinbar nicht diskutierbare gesellschaftliche Vorstellungen thematisiert und – zum Teil radikal – in Frage gestellt werden. Ob die Psychologie sich weiter im Zahlenwahn verstrickt und ein heute einseitiges Welt- und Menschenbild noch zementiert, oder ob sie mit ihren Methoden einen gesellschaftskritischen Beitrag zu leisten vermag, wird die Zukunft weisen.

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