Die Verlockung des Anderswo
«Es gibt Schriftsteller, die brauchen Geographien, und andere brauchen Konzentration: Reisende und Seher also. Ich gehöre zur Familie ersterer.» Wenige Jahre vor seinem Tod schildert Nicolas Bouvier in «Lob der Reiselust» Begegnungen von unterwegs und lässt uns teilhaben an seiner lebenslangen «Ungeduld, die Welt zu erfahren». Mit dem Segen seines Beamtenvaters, der nicht so viel […]
«Es gibt Schriftsteller, die brauchen Geographien, und andere
brauchen Konzentration: Reisende und Seher also. Ich gehöre
zur Familie ersterer.» Wenige Jahre vor seinem Tod schildert
Nicolas Bouvier in «Lob der Reiselust» Begegnungen von
unterwegs und lässt uns teilhaben an seiner lebenslangen
«Ungeduld, die Welt zu erfahren».
Mit dem Segen seines Beamtenvaters, der nicht so viel
gereist ist, wie er es sich gewünscht hat, und der zu seinem
Sohn sagt: «Schau dich um, und schreib mir», zieht Bouvier
los, auf der Jagd nach dem Leben, von dem er kiloweise haben
will, obschon er ahnt, dass er «in dieser trügerischen Welt
nur ein paar Gramm bekommen» wird. Nach der Rückkehr
von seiner legendären Reise nach Afghanistan 1953/54 wird
ihm klar, dass er all diesen Orient nicht in seinem Kopf speichern
kann, «sonst würde er platzen wie ein überreifer Kürbis».
Also beginnt Bouvier zu erzählen. Von Fernweh und Unrast.
Von diesem Planeten, der weit überraschender, erstaunlicher,
grausamer, bunter, grosszügiger sei als der «naive kolorierte
Bilderbogen», den er sich von ihm gemacht habe.
In dreizehn wundervollen Texten würdigt Bouvier die
«Verlockung des Anderswo». Er zahlt Schulden zurück an orientalische
Geschichtenerzähler und an Gobineau, der ihm
«das grosse Kolonialwarengeschäft der Adjektive geöff net» habe.
Er bricht eine Lanze für Sprichwörter, die, im richtigen
Moment plaziert, signalisierten, dass man die Komik oder
den Ernst der Situation erfasst habe. Im Okzident komme
ein Unglück selten allein, im Orient sei es «ein Wespenstich
in einem weinenden Gesicht». Er muss ein schrecklich sympathischer
Tourist gewesen sein, dieser Nicolas Bouvier.
besprochen von Christoph Simon, Bern
Nicolas Bouvier: «Lob der Reiselust». Basel: Lenos, 2007