Die vergessene «warme» Progression
Wer als Folge des realen Wachstums der Gesamtwirtschaft mehr verdient, wird in der Schweiz steuerlich benachteiligt. Höchste Zeit, der «warmen» Progression auf den Grund zu gehen.
Die direkte Besteuerung natürlicher Personen folgt in der Schweiz grösstenteils dem sogenannten Leistungsfähigkeitsprinzip. Wer mehr hat oder mehr verdient, soll auch mehr an den Fiskus abliefern. Dieser Grundsatz wird in der Regel noch dadurch verschärft, dass der finanziell Bessergestellte überproportional höher besteuert wird, die Steuerbelastung also progressiv gestaltet ist.
Die politische Diskussion über progressive und nichtprogressive Steuern hierzulande wird zunehmend heftiger geführt. Dabei wird ein grundsätzlicher Aspekt kaum beachtet: das Leistungsfähigkeitsprinzip und besonders dessen strenge Auslegung, die der Progression zugrunde liegt, geht von der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Steuersubjekte aus. Die Steuerprogression zielt grundsätzlich auf diese Leistungsdifferenz ab. Im Gegensatz zu dieser «heissen» Progression führt die sogenannte «kalte» Progression nicht zu mehr Steuern. Denn wer überproportional höhere Steuern zu entrichten hätte, weil er zwar nominal, wegen der Teuerung, aber nicht real über mehr Einkommen verfügt, bekommt die Progression ausgeglichen. Oder anders gesagt: die Behörden passen periodisch die Steuertarife nach unten an.
Gewissermassen auf halber Strecke gibt es nun eine dritte Form der Progression, die als die «warme» bezeichnet werden kann – jene, die aufgrund des allgemeinen Wirtschaftswachstums zustande kommt. Wächst das Einkommen einer Person parallel zur realen Steigerung der Gesamtwirtschaft, wird jene überproportional höher besteuert, ohne dass ihre Leistungsfähigkeit im Vergleich mit den anderen Steuersubjekten steigt.
Die «warme« Progression gleicht somit der «kalten». Sie ist auf gesamtwirtschaftliche Umstände zurückzuführen und ereilt den Betroffenen gleichsam unverschuldet. Sie ähnelt jedoch gleichzeitig der explizit gewollten «heissen» Progression, da sie bei realen Mehrwerten ansetzt – und vor allem nicht ausgeglichen wird. Dabei könnten die Steuersätze mit dem Wirtschaftswachstum regelmässig reduziert werden. Die Progression würde dann nur noch einsetzen, wenn einzelne im Vergleich mit ihren Zeitgenossen und nicht mehr alle im Vergleich mit einer früheren Generation leistungsfähiger sind oder werden. Technisch wäre dies einfach zu realisieren. Statt wie heute nur die «kalte» Progression auszugleichen, müssten die Behörden periodisch die Steuertarife um einen von der nominalen Steigerung des Bruttoinlandprodukts abgeleiteten Faktor reduzieren und würden so gleichzeitig die «kalte» und die «warme» Progression eliminieren.
Ob dies allerdings geschehen soll, hängt zuerst davon ab, ob die «warme» Progression nicht überhaupt gewollt ist. Die Vermutung drängt sich auf, dass der Fiskus die «warme» Progression wohlwollend in Kauf nimmt, obwohl die Politik sie ursprünglich nicht beabsichtigt hat. Die meisten Finanzpolitiker allerdings dürften sich dieses Phänomens gar nicht bewusst sein.
Dabei stellt die «warme» Progression weit mehr als nur einen interessanten Nebenaspekt des Leistungsfähigkeitsprinzips dar; vielmehr führt sie systemimmanent dazu, dass die Steuerquote kontinuierlich steigt. Sie dürfte auch zum Teil erklären, warum sich die Schweizer Staatsquote in den letzten fünfzig Jahren je nach Berechnung veranderthalbfacht bis verdoppelt hat.
Oft wird behauptet, dass öffentliche Güter einkommens-elastischer seien als private und dass somit der Finanzbedarf des Staats mit steigendem Wirtschaftswachstum überproportional zunehme. Dies ist die Frage. So sollte etwa der Bedarf nach sozialer Sicherheit – dem staatlichen Ausgabenbereich mit der grössten Ausdehnung der letzten Jahre – im Verhältnis zur steigenden Wirtschaftskraft nachlassen. Schliesslich sind die elementaren Bedürfnisse irgendeinmal abgedeckt. Und selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die Anforderungen an die sozialen Mindeststandards mit dem allgemeinen Wohlstand steigen, bedingt dies allenfalls den anteilsmässigen, kaum aber den überproportionalen Ausbau des Sozialstaats.
Mit dem Verweis auf Bildung oder Gesundheit – beides Bereiche, deren Bedeutung mit der Wirtschaft wächst und in denen der Staat grosse Aktivitäten entfaltet – könnte schliesslich argumentiert werden, der wachsende Wohlstand beruhe gerade auf der steigenden Staatsquote. Denn in der Tat ist die generelle Nachfrage nach mehr immer auch Bedingung und nicht nur Folge des Wirtschaftswachstums. Jedoch die Tatsache allein, dass der Staat eine Leistung erbringt, macht diese noch zu keinem öffentlichen Gut im engeren Sinn.
Eine solch positivistische Betrachtungsweise würde letztlich nicht nur jede Begründung für eine steigende Staats- und Steuerquote zulassen, sondern verkennt auch den Zusammenhang von Wirtschafts- und Staatswachstum. Bekanntlich verdrängen staatliche Einnahmen und Ausgaben private Initiativen, die aufgrund ihrer Freiwilligkeit mehr Wert schöpfen. Mit dem Wirtschaftswachstum nimmt nicht zuletzt auch der technologische Fortschritt zu, womit sich die Möglichkeit erhöht, den Nutzen von öffentlichen Gütern zu internalisieren – was wiederum generell die Nachfrage nach Staatlichkeit sinken lassen dürfte.
Im übrigen vermögen auch Gerechtigkeitsüberlegungen die «warme» Progression nicht zu begründen. Denn an der relativ höheren Besteuerung von Reichen würde sich mit dem Ausgleich der «warmen» Progression ja nichts ändern. Im Gegenteil – die «warme» Progression kann je nach Ausgestaltung der Steuerkurve und vor allem auf lange Frist dazu führen, dass die relativen Unterschiede der Besteuerung unterschiedlicher Einkommen sinkt, theoretisch gegen null.
Selbst die Behauptung, das Wirtschaftswachstum komme nur wenigen zugute und sei mehr oder minder zwingend mit dem Öffnen- der Einkommensschere verbunden, rechtfertigt die «warme» Progression nicht. Auch nach dem Ausgleich der «warmen» Progression führt die unverändert progressive Besteuerung bei einem Öffnen der Einkommensschere zu einer steigenden Steuerquote.
Wer schliesslich die Ansicht vertritt, mit steigender Leistungsfähigkeit solle die Gesamtbevölkerung deshalb überproportional mehr an den Staat abliefern, weil diese es sich leisten könne, kehrt die Beweislast um. Denn nicht der einzelne hat darzulegen, weshalb er einen bestimmten Anteil seines Einkommens behalten möchte, sondern der Staat muss begründen, warum er welche Einnahmen braucht. Der abnehmende Grenznutzen des Einkommens mag die proportional unterschiedliche Besteuerung von Individuen rechtfertigen, als Begründung für eine gesamthaft steigende staatliche Abschöpfungsquote schlägt sie fehl. Nicht zuletzt auch beim Staat dürfte der Grenznutzen eines zusätzlichen Steuerfrankens irgendwann abnehmen.
Die «warme» Progression existiert – zu rechtfertigen ist sie aber kaum. Dabei wäre ihre regelmässige Eliminierung einfach zu bewerkstelligen, wenn die Politik nur wollte.
Baschi Dürr, geboren 1977, ist Ökonom und FDP-Mitglied des Grossen Rats des Kantons Basel-Stadt.