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Die Vereinnahmung des Lebens

Der Bundesrat will den neuen biometrischen Pass mit Gesichtsbild und Fingerabdrücken definitiv einführen. Dadurch wird zwar die Sicherheit der Identifikation erhöht, doch verletzen biometrische Erfassungstechniken die körperliche Selbstbestimmung des Individuums.

Der neue, biometrisch aufgerüstete Pass zirkuliert seit bald einem Jahr, doch wurde für den alten Pass eine Gnadenfrist verfügt: Bis Mitte 2009 können Schweizerinnen und Schweizer zwischen einer traditionellen und einer biometrischen Variante wählen. Damit bildet die Schweiz sozusagen einen biometrischen Sonderfall auf Zeit. Noch können die Bürger so tun, als hätten sie die Wahl.

Die EU-Staaten haben den alten Pass bereits letztes Jahr verabschiedet und eine neue Epoche der sicheren Identifizierung eingeläutet. Die Umstellung folgt einer Kaskade der Verdikte von oben. Die USA fordern biometrische Pässe, die EU erklärt sich damit einverstanden, und die Schweiz zieht nach. Diesmal lässt sich der obligatorische Nachvollzug freilich nicht der ideologischen Zweideutigkeit der Volksvertreter zur Last legen. Mit dem vom Schweizer Volk gutgeheissenen Beitritt zum Schengener Abkommen wird die Einführung biometrisch aufgerüsteter Pässe notwendig. Die Probleme, die diese Aufrüstung mit sich bringt, sind weitreichend.

Vorerst beschränkt sich die Biometrie auf die Erfassung spezifischer Gesichtsmerkmale. Die entsprechenden Daten werden auf einem Chip gespeichert, der in den Pass integriert wird. Passiert der Reisende eine Grenzkontrolle, schaut er nicht mehr in die misstrauischen Augen eines Zöllners, sondern in eine computergesteuerte Kamera, die sein Gesicht geometrisch vermisst. Die Software vergleicht die gespeicherten biometrischen Daten auf dem Pass mit den aktuellen Daten – ist die biometrische Identifikation erfolgreich, darf der Reisende die Grenze passieren.

Ab dem Jahr 2009 wollen die EU und die Schweiz auch die Daten von Fingerabdrücken auf dem Chip des Passes – und allenfalls der Identitätskarte – speichern. Folgt man der Optimierungslogik sicherer Identifikation, dürfte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der genetische Fingerabdruck zur massgebenden biometrischen Grösse avanciert. Statt in ein Kunststoffgehäuse zu blicken oder einen Finger auf eine Glasscheibe zu legen, müsste der Reisende dann ein Haar oder eine Hautschuppe decodieren lassen. Der Traum von der perfekten Identifikation – der Science-Fiction-Film «Gattaca» hat ihn bereits im Jahre 1997 vorweggenommen – wäre wahr.

Der technische Fortschritt schreitet voran. Was soll denn schlecht sein an einer immer sichereren Identifikation? Kaum jemand – weder der mündige Bürger noch der vernetzt Arbeitende noch der aufgeklärte Konsument von heute – stösst sich daran, solange er nicht das Gefühl hat, seine persönliche Freiheit leide darunter. So erstaunt es nicht, dass nicht nur der seine Grenzen kontrollierende Staat zunehmend auf biometrische Aufrüstung setzt, sondern auch immer mehr Firmen auf biometrische Zugangskontrolle umstellen. Jüngst hat die Genfer Privatbank Pictet stolz verkündet, sich als erstes Unternehmen der Welt ganz der Biometrie-Technik anzuvertrauen. 70 Spezialkameras mit Iriserkennung regeln den Zugang der Mitarbeiter zu sämtlichen sicherheitsrelevanten Bereichen. Und auch die Computerindustrie zieht mit. Wer heute einen portablen Computer kauft, kann den Zugang zum Gerät über einen Halbleiter-Fingerprintsensor regeln. Das Codewort ist

passé, nun zählt das unverwechselbare Körpermerkmal.

Obwohl auch biometrische Identifikationsmethoden nicht fälschungssicher sind, lässt sich kaum leugnen, dass sie hohe Sicherheit garantieren und mit höchster Effizienz funktionieren. Bleibt der Blick auf die Gegenwart gerichtet, ist daran also nichts auszusetzen. Doch wer in die Vergangenheit zurückzublicken wagt, bekommt Zweifel. Denn die Entstehung einer Technik verrät etwas über das Denken, das ihr zugrunde liegt. Und die Biometrie hat zwei Seiten. Sie ist – so die ISO-zertifizierte Definition – «automatisierte Erkennung von Individuen, basierend auf ihren Verhaltens- oder biologischen Charakteristika»; aber sie ist eben auch eine Vermessung und damit eine Kontrolle des menschlichen Lebens.

Die Biometrie wurde aus dem Geist der Verbrechensbekämpfung des ausgehenden 19. Jahrhunderts geboren. Alphonse Bertillon, ein Mitarbeiter der Pariser Polizeipräfektur, der später dank seiner Erfindung zum Chef des Erkennungsdienstes befördert wurde, entwickelte in den 1870er-Jahren das erste geschlossene System zur Personenidentifizierung. Nicht mehr Kleider, Beschreibungen, Skizzen oder Photographien sollten helfen, eine Person erkennbar und wiedererkennbar zu machen. Vielmehr sollte das Individuelle des Individuums durch die Vermessung von elf Körpermerkmalen bestimmt werden: Körpergrösse, Armspannweite, Sitzhöhe, Kopflänge, Kopfbreite, Länge des rechten Ohrs, Breite des rechten Ohrs, Länge des linken Fusses, des linken Mittelfingers, des linken kleinen Fingers, des linken Unterarms. Das Unternehmen scheiterte an der Unmöglichkeit, die Unmengen dieser körperspezifischen Daten zu katalogisieren und zu verwalten. Erst als Bertillon später den Fingerabdruck in seine Systematik aufnahm – der Engländer Francis Galton hatte dafür den wissenschaftlichen Grundstein gelegt –, war sein Projekt von Erfolg gekrönt, Verbrecher aufgrund der Vermessung ihres Körpers dingfest zu machen.

Eine Technik, die einst in der Verbrechensbekämpfung Anwendung fand, wird heute auf alle Bürger angewendet. Der italienische Philosoph und Jurist Giorgio Agamben, ein aufmerksamer Beobachter der Gegenwart, erkennt in dieser Ausweitung ein Zeichen dafür, dass das Verhältnis von Staat und Bürger in westlichen Gesellschaften im Wandel begriffen ist. «Wir können heute beobachten», erklärte Agamben in einem Interview, «dass der Staat zu einem potentiellen Polizisten und der Bürger zu einem potentiellen Verbrecher wird.» Das ist in philosophischer Zuspitzung gesagt, doch spricht hier Agamben eine Tendenz an, die sich in westlichen Gesellschaften sowohl im Kleinen als auch im Grossen beobachten lässt. Dieselben Staaten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Namen der Freiheit den Kampf gegen Faschismus und Kommunismus auf ihre Banner geschrieben haben, drohen sich nun im Namen der Sicherheit in Kontrollstaaten zu verwandeln. Und die Bürger sehen sich gezwungen, ständig – sozusagen mit jeder Passkontrolle – ihre Unschuld zu beweisen.

Biometrische Erfassungstechniken werden zwar zunehmend zu einem rein technischen Akt. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie einen Zugriff auf den Menschen darstellen. Nicht nur betasten sie die physische Oberfläche des Individuums, sonder sie dringen buchstäblich in dessen Körper ein. Dabei lässt sich eine mit dem technischen Fortschritt einhergehende Steigerung der biometrischen Durchdringung feststellen. Gesicht, Fingerabdruck, Iris, genetischer Fingerabdruck. Mit der Fokussierung auf die DNA gelangt die Vermessung des Menschen zum absolut sicheren Nachweis seiner biologischen Unverwechselbarkeit.

Es war der französische Ideenhistoriker Michel Foucault, der die Moderne durch eine Machtform charakterisiert sah, die er «Bio-Macht» nannte. Damit meinte er jene neue, mit der Entstehung moderner Staaten im 19. Jahrhundert einhergehende Macht, «die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren». Dies geschah mitunter durch jene Wohlfahrtsmassnahmen, die in den modernen Staaten zunehmend zu einem Politikum wurden: Geburtenkontrolle, Kinderproduktion, Volksgesundheit, öffentliche Hygiene. Mit sozialwissenschaftlich und medizinisch legitimierten Mitteln verschaffte sich der Staat – der heutige Wohlfahrtsstaat lässt grüssen – Zugang zum Körper des Individuums und zum Leben der Gattung.

An der «biologischen Modernitätsschwelle» – so Foucault – beginnt die «sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens», wobei sich zugleich ein Wandel im Verständnis des Staatsbürgers abzeichnet. Die Biomacht zielt nicht mehr auf Rechtssubjekte, die sich unter Androhung des Todes den Gesetzen zu beugen haben, sondern buchstäblich auf Lebewesen, die erfasst und kontrolliert werden sollen. Das Leben – so warnte Foucault in seinem 1976 erschienenen Buch «Der Wille zum Wissen» – ist «zum Gegenstand der politischen Kämpfe» geworden. Und er forderte dazu auf, «das Recht auf das Leben, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse» zurückzuerobern.

Von dieser Eroberung ist gegenwärtig freilich wenig zu spüren. Wenn es stimmt, dass die Macht in die Körper der Individuen eindringt, um sie sich anzueignen, dann lassen viele Menschen dies widerstandslos mit sich geschehen. Aus liberaler Sicht steht nicht nur das Eigentum der Person am eigenen Körper auf dem Spiel, sondern auch – sollte die DNA künftig zum wichtigsten biometrischen Merkmal avancieren – die informationelle Selbstbestimmung des Individuums. Man gewinnt den Eindruck, als bestehe so etwas wie eine geheime Komplizenschaft zwischen der das Leben vereinnahmenden Macht und den um ihr Leben besorgten Subjekten. Mit philosophischen Argumenten die Wachsamkeit vor biometrischen Übergriffen zu fördern, ist deshalb ein schwieriges Unterfangen. Die Vertreter moderner biometrischer Verfahren haben den technischen Pragmatismus und die menschliche Bequemlichkeit auf ihrer Seite. Doch bleibt die Hoffnung, dass das übertriebene Sicherheitsdenken den Widerstand der Individuen hervorruft und in ihnen eine neue Sensibilität für die physische und informationelle Selbstbestimmung entstehen lässt. Dabei könnten die fichenerprobten Schweizer Bürger und Bürgerinnen durchaus die Rolle der Avantgarde spielen.

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