Die verderblichen Kräfte der Natur
John Stuart Mill ist einer der grossen englischen Moralphilosophen des 19. Jahrhunderts. In seinem postum erschienenen Werk «Drei Essays über Religion» stellt er auch die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur. Nicht die Versöhnung, sondern der Kampf stehe im Vordergrund; die Natur sei kein Vorbild, sondern ein Gegner, dem die Freiheitsspielräume abgetrotzt werden müssten.
«Wenn wir den Begriff ‹Mord› einmal nur für das gelten lassen, was eine gewisse, dem menschlichen Leben vermeintlich gewährte Frist abkürzt, so mordet die Natur die überwiegende Mehrzahl aller lebenden Wesen, und zwar auf dieselben gewaltsamen und heimtückischen Weisen, mit denen die schlechtesten Menschen anderen das Leben nehmen … Ein einziger Orkan zerstört die Hoffnungen eines ganzes Jahres; ein Heuschreckenschwarm oder eine Überschwemmung verheert eine ganze Provinz; eine geringfügige chemische Veränderung einer essbaren Wurzel lässt Millionen Menschen Hungers sterben; die Fluten des Meeres rauben wie Banditen die Schätze der Reichen und die geringe Habe der Armen, und unter demselben Plündern, Verwüsten und Morden wie ihre menschlichen Entsprechungen. Kurz, alles, was die schlechtesten Menschen gegen Leben oder Eigentum begehen, verüben die Naturkräfte in grösserem Massstab. …
Die Redensarten, die dem Wirken der Natur Vollkommenheit zuschreiben, können lediglich als Übertreibungen einer poetischen und frommen Empfindung gelten, die nicht mit der Absicht ausgesprochen werden, einer nüchternen Prüfung standzuhalten. Niemand, sei er religiös oder areligiös, glaubt, dass die verderblichen Kräfte der Natur, als Ganzes betrachtet, in irgendeiner anderen Weise guten Zwecken dienen, als indem sie vernünftige menschliche Geschöpfe dazu anreizen, sich dagegen zu wehren. Glaubten wir, dass jene Kräfte von einer gütigen Vorsehung als ein Mittel zu weisen Zwecken ausersehen wären, die ohne jene Mittel nicht erreicht werden könnten, müsste alles, was die Menschheit tut, um diese Naturkräfte zu bändigen, bzw. ihre schädlichen Wirkungen in Grenzen zu halten – vom Austrocknen eines pestilenzialische Dünste verbreitenden Sumpfes bis zum Kurieren des Zahnwehs oder dem Aufspannen des Regenschirms –, als gottlos gelten, wofür es doch sicherlich niemand hält, auch wenn eine dahin neigende Empfindung unterschwellig spürbar wird. Im Gegenteil, die Fortschritte, auf die der zivilisierte Teil der Menschheit am meisten stolz ist, bestehen in der immer erfolgreicheren Abwehr jener Naturkräfte, die wir, wenn wir wirklich glaubten, was die meisten Menschen zu glauben behaupten, als von einem weisen Wesen für unser irdisches Dasein bestimmte Heilmittel verehren müssten. …
… die Lehre, dass der Mensch der Natur folgen bzw. sich den spontanen Lauf der Dinge zum Modell seiner bewussten Handlungen wählen sollte, [ist] ebenso unvernünftig wie unmoralisch; unvernünftig, weil jede menschliche Handlung in einer Veränderung und jede nützliche Handlung in einer Verbesserung der Natur besteht; unmoralisch, weil jeder, der den Versuch unternehmen würde, in seinen Handlungsweisen den natürlichen Lauf der Dinge nachzuahmen, allgemein als der schlechteste aller Menschen angesehen würde. Denn der natürliche Lauf der Dinge vollzieht sich so, dass ein menschliches Wesen, das in gleicher Weise handeln würde, im höchsten Grade verabscheuungswürdig wäre.»*
*zitiert aus: John Stuart Mill, «Drei Essays über Religion» [1874]. Stuttgart: Reclam Verlag 1984, S. 31–62.