Die Utopie des alten Kindes
«Am Tag, an dem ich das alte Kind kennenlernte, versuchte ich mir eine Geschichte auszudenken. Es fi el mir nur keine ein.» So kann es Schriftstellern gehen, so ging es dem Autor dieses Buches, und da war es natürlich ein Glück, dass ihm das alte Kind in die Schreibstube platzte und eine Geschichte auf dem […]
«Am Tag, an dem ich das alte Kind kennenlernte, versuchte
ich mir eine Geschichte auszudenken. Es fi el mir nur keine
ein.» So kann es Schriftstellern gehen, so ging es dem Autor
dieses Buches, und da war es natürlich ein Glück, dass
ihm das alte Kind in die Schreibstube platzte und eine Geschichte
auf dem Tablett servierte. Er hätte nur mit dem
Kind nicht so reden dürfen, denn es kannte sich mit der
Erdenmenschensprache noch nicht aus und hätte garantiert
ein paar heikle Fragen gestellt, weil ja hier recht eigentlich
nichts platzt und auch nichts wirklich auf einem Tablett
hergetragen wird. Ein bisschen oberschlau und altklug ist
nämlich dieses Kind, und das verwundert nicht, wird man
auf seinem Planeten doch als grosser, dummer Erwachsener
geboren und erst in etlichen hundert Jahren klein und gescheit.
499 Jahre ist das Kind selber alt, 77 davon, vielleicht
auch ein paar weniger, ist es zur Schule gegangen, und nun,
im Abschlussjahr vor seinem fünfhundertsten Geburtstag,
soll es eine Hausarbeit in Völkerkunde schreiben; das ist
vorgeschrieben auf seinem Planeten. Darum ist es auf die
Erde gekommen, zu dem primitiven Volksstamm, der wir,
Eidgenossen oder nicht, alle miteinander sind, Wesen, die
behaupten, sie hätten sich verschluckt, wenn sie doch off ensichtlich noch am Schreibtisch sitzen.
Das ist die Ausgangssituation, und wären wir Erwachsenen
unter uns, dann käme uns jetzt die lange Tradition
einer Gattung Literatur, von den «Lettres persanes» bis
zum unseligen «Papalagi», in den Sinn, der wir so recht
nichts mehr abzugewinnen vermögen, weil es schon zu lange
her ist, dass ihr etwas überraschend Neues eingefallen
wäre. Doch wir Erwachsene sollen die Geschichte vom alten
Kind ja auch nur vorlesen, und wer das tut, der wird in
lachende Aha-Gesichter schauen, so gewiss fi nden Kinder
es spannend und komisch, wenn den Erwachsenen – uns!
– der Widersinn ihres Schaff ens und Rennens um Geld und
Ruhm vor Augen geführt wird. «Alle vernünftigen Leute sind
sich darüber einig, dass eine Sache immer dem gehören soll, der
sie am nötigsten braucht.» So steht es im Alltags-Lehrbuch
für die 34. Klasse auf dem Planeten des alten Kindes. Und
auf die Idee, um die Wette zu laufen, nur damit einer gewinnt
und alle anderen verlieren, kämen dort allenfalls die
Erwachsenen, also die Doofen oder wenigstens noch nicht
Klugen. So geht’s also auch. Auf anderen Planeten. Und in
den Utopien, den Vorstellungen vom Anderen, Besseren,
die Kinder ebensosehr brauchen wie die Erfahrung mit der
richtigen Welt.
Die richtige Welt übrigens, die hätte man sich in dem
Buch ein bisschen feiner, raffi nierter, weniger holzschnittartig
gewünscht, den Stadtrat Kaltenberger etwa, dem das
alte Kind schön schlau den fi esen Plan einer Autostrasse
durch den Stadtwald durchkreuzt. Der Herr Stadtrat soll
ruhig – von den Freiübungen vorm geöff neten Fenster bis
zum Abschiedskuss von der Gemahlin – immer alles penibel
gleich und zur selben Zeit machen müssen, aber die
Morgenzigarre und das Chefgehabe von anno Tobak hätte
es nicht auch noch gebraucht. Kinder – dies auch an die
Adresse des Illustrators – brauchen’s nicht knüppeldick, bevor
sie was kapieren. Auch Erdenkinder nicht.
besprochen von Friedbert Stohner, München
Charles Lewinsky: «Einmal Erde und zurück. Der Besuch des alten
Kindes». Zürich: Atlantis im Orell Füssli, 2007.