Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
«Die USA werden immer mehr wie Italien – ausser beim Essen und dem Wein»
Luigi Zingales, zvg.

«Die USA werden immer mehr wie Italien – ausser beim Essen und dem Wein»

Der Kapitalismus degeneriert vielerorts zur Klientelwirtschaft, sagt der Ökonom Luigi Zingales. Der politische Einfluss der Wirtschaft sollte beschränkt werden, um das Vertrauen in sie zu stärken.

Read the English version here.

Er erfülle alle Klischees über Italiener, sagt Luigi Zingales ­lachend, als er in seinem Büro eintrifft, wo ich seit einer Viertelstunde auf ihn warte. Der Professor, der seit über 30 Jahren in den USA lebt, dachte, unser Gespräch finde per Videocall statt – dabei war ich extra dafür an die University of Chicago ge­kommen; zum Glück wohnt er ganz in der Nähe des Campus.
Er plaudert offen über alle möglichen Themen, unter anderem über das anstehende Spiel zwischen Italien und der Schweiz an der Fussball-Europameisterschaft: «Ich habe das Gefühl, dass wir verlieren werden», sagt er. Er sollte recht behalten.

 

Luigi Zingales, was läuft falsch mit dem Kapitalismus?

Im Buch «Saving Capitalism from the Capitalists», das Raghuram Rajan und ich vor mehr als 20 Jahren geschrieben haben, argumentieren wir, dass der Kapitalismus Regeln brauche, um zu funktionieren. Im Laufe der Zeit wurden diese Regeln von vielen Kapitalisten selber geschwächt. Infolgedessen geriet das System aus den Fugen, was zwei massive Konsequenzen hatte. Erstens führte es zu mehr Ungleichheit. Zweitens erweckt es den Eindruck, und vielleicht nicht nur den Eindruck, ungerecht zu sein. Beides zusammen ist besonders gefährlich. Es ist nicht angenehm, Leute zu sehen, die viel mehr verdienen als man selbst, aber man ist viel eher bereit, dies zu akzeptieren, wenn man das System für fair hält. Fängt man an, an der Fairness des Systems zu zweifeln, wird es schwierig, Ungleichheit zu tolerieren.

 

Aber leben wir wirklich in einem kapitalistischen System? Ich würde argumentieren, dass es besser als «Klientelkapitalismus» oder «Crony Capitalism» beschrieben wird, ein Begriff, den Sie verwendet haben.

Wir leben im Klientelkapitalismus, daran besteht kein Zweifel, und es wird von Tag zu Tag schlimmer. Wobei man sagen muss, dass der Kapitalismus eine inhärente Tendenz hat, zum Klientelkapitalismus zu verkommen. Aus diesem Grund ist Demokratie und insbesondere direkte Demokratie so wichtig: Sie ist ein starkes Hindernis für diese Entwicklung. Wir brauchen definitiv ein wirklich demokratisches System, um die Auswüchse und Verzerrungen des Kapitalismus zu mildern. In den letzten zwanzig Jahren ist diese Mässigung verschwunden.

 

Warum wird der Kapitalismus zunehmend zum Klientelkapitalismus?

Zunächst einmal ist dies ein globales Phänomen. In den Vereinigten Staaten ist es besonders stark ausgeprägt, zum Teil weil die USA immer allen anderen voraus sind – im Guten wie im Schlechten. Vor den 1970er-Jahren wurde Lobbying in den USA meist von einzelnen Firmen betrieben. Doch dann gleiste Big Business einen klaren Plan auf, der sehr gut umgesetzt wurde. Teil dieses Plans war es, den Obersten Gerichtshof unter Kon­trolle zu bringen; er liess daraufhin einen höheren Einfluss des Geldes via Wahlkampffinanzierung zu, was wiederum den Einfluss von Big Business erhöhte. Es ist eine Spirale.

 

Sehen wir das Gleiche in Europa?

Ja, obwohl die Politikfinanzierung etwas besser geregelt ist und die Gerichte nicht vollständig vereinnahmt sind – zumindest in den Ländern, die ich gut kenne. Als ich in den 70er-Jahren in ­Italien aufwuchs, gab es mehrere Quellen der Autorität. Wer reich war, hatte Autorität. Aber man konnte auch Vorsitzender der katholischen Studentenorganisation, einer Gewerkschaft oder der Kommunistischen Partei sein. Das waren einflussreiche Positionen, aber die Autorität kam nicht vom Geld. Man konnte sich mit dem reichsten Mann des Landes zusammensetzen und auf Augenhöhe diskutieren. Er konnte einen nicht kaufen.

 

Und heute könnte er das?

Ja. Obwohl das selten direkt geschieht. Natürlich gibt es Fälle, in denen sich Politiker mit einem Haufen Bargeld davonmachen, aber das passiert nicht allzu häufig. Viel schädlicher ist heutzutage ein anderes Szenario: Angenommen, ich bin Ministerpräsident und Sie sind ein wichtiger Financier. Ich weiss im Hinterkopf, dass ich nach meiner Pensionierung für Sie arbeiten könnte. An diesem Punkt bin ich bereits in einer Position der Unterordnung. Mittlerweile ist das überall auf der Welt üblich. Tony Blair arbeitet für die korruptesten Staatsoberhäupter und fördert ihre Geschäfte auf der ganzen Welt. Gerhard Schröder ist ein weiteres Beispiel. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi ist noch schlimmer: Er ist immer noch in der Politik und steht auf der Gehaltsliste von Mohammed bin Salman. Es ist unglaublich! Natürlich macht er nichts Illegales. Aber nicht alles, was legal ist, ist auch gut.

 

In Ihrem Buch «A Capitalism for the People» von 2012 beschreiben Sie, wie Sie Italien verlassen haben, um dem System des Klientelkapitalismus zu entkommen, und in die USA kamen. Haben Sie das Gefühl, dass die USA immer mehr wie Italien werden?

Die USA werden von Tag zu Tag mehr wie Italien, abgesehen vom Essen und dem Wein. Ich schrieb das Buch, als Trump zum ersten Mal mit einer Präsidentschaftskandidatur lieb­äugelte. Als Italiener fiel mir sofort die Ähnlichkeit zu Berlus­coni auf. Im ersten Entwurf des Buches habe ich die beiden verglichen und argumentiert, dass die Vereinigten Staaten Italien so sehr ähneln, dass jemand wie Trump Präsident werden könnte. Einer meiner Kollegen las den ersten Entwurf und sagte mir: «Das ist sehr interessant, aber das Zeug über Trump ist ­derart hanebüchen, derart unglaublich, dass es die ganze Ernsthaftigkeit des Buches untergräbt.» Ich beschloss dann, diesen Teil zu streichen, was sich aus publizistischer Sicht als grosser Fehler erwies (lacht).

 

War die Wahl von Trump ein Symbol für den Klientelkapitalismus oder eine Reaktion darauf?

Als Trump 2016 kandidierte, unterrichtete ich die «Lean Start-up»-Methode. Start-ups haben gegenüber etablierten Unternehmen fast nur Nachteile – aber einen Vorteil: Sie können sich sehr schnell verändern. Als Start-up muss man so lange probieren und sich verändern, bis man seinen Markt findet. Trump hat genau das getan. Er war ein politischer Neuling, er beschäftigte keine Armee von Leuten wie Hillary Clinton. Er twitterte ständig, schaute sich die Reaktionen an und passte seine Positionen den Reaktionen an. Dadurch stiess er auf viele Quellen der Unzufriedenheit, die das traditionelle politische System nicht erfasst hatte.

«Trump twitterte ständig und passte seine Positionen den Reaktionen an. Dadurch stiess er auf viele Quellen der Unzufriedenheit, die das

traditionelle politische System nicht erfasst hatte.»

 

Warum nicht?

Bevor die Kandidaten zu den Vorwahlen antreten, durchlaufen sie die «Finanzvorwahlen»: Sie präsentieren ihre Programme grossen Spendern. Deshalb waren im Grunde alle republikanischen Vertreter für Freihandel, obwohl die republikanischen Wähler Freihandel recht skeptisch sehen.

 

Trump hingegen war nicht auf Grossspender angewiesen.

Genau. Mit seiner Bekanntheit und seinen unkonventionellen Methoden konnte er neue Ideen aufgreifen und hat so sehr wichtige Themen in den Fokus der amerikanischen Politik gerückt. Nun gibt es einige Anzeichen dafür, dass Big Money in Richtung Trump geht. Es wird interessant sein zu sehen, ob sich seine Positionen ändern.

 

Der Schweizer Finanzsektor schrumpft. Glauben Sie, dass das gut für das Land ist?

Das hängt davon ab, welchen Beitrag der Finanzsektor leistet. Es gab eine Zeit, in der viele Leute dachten: «Je grösser, desto besser», aber ich glaube nicht, dass das unbedingt wahr ist. Statt Unternehmen zu finanzieren, ist der Bankensektor in den USA zunehmend im Privatkreditgeschäft aktiv. Viele Aktivitäten im Privatkreditgeschäft laufen darauf hinaus, möglichst einfach Geld zu machen, ohne wirklich einen Mehrwert zu schaffen. Wenn man also den Teil des Finanzsektors verkleinert, der auf solches «Rent-Seeking» abzielt, ist das grossartig. Schrumpft man aber etwas Nützliches wie die Unternehmensfinanzierung, ist das ein Problem.

 

Würden Sie sagen, dass der Finanzsektor ein Paradebeispiel für Klientelkapitalismus ist?

Es sind nicht alle Bereiche gleich betroffen, doch die Beziehung zwischen Banken und dem Staat ist anfällig für Klientelkapitalismus. Oder nehmen wir die Kryptowelt als Beispiel. Bevor er ins Gefängnis kam, warf Sam Bankman-Fried mit Geld um sich, er verteilte es sowohl an Demokraten als auch an Republikaner. Er hat sich seinen Weg durch den Kongress erkauft, und wenn er 2022 nicht bankrottgegangen wäre, hätte er ein paar Monate später eine vom Kongress genehmigte Kryptoregulierung gehabt, die faktisch von ihm bezahlt war. Das ist ziemlich beängstigend.

 

Man könnte argumentieren, dass Kryptowährungen den traditionellen Finanzsektor einem gesunden Wettbewerb aussetzen.

Was internationale Zahlungen angeht, mag das sein. Aber viele Kryptowährungen, insbesondere Bitcoin, sind aus Klimasicht unglaublich ineffizient. Selbst wenn man auf andere, weniger energieintensive Systeme umsteigt, ist die Killer-App für Krypto­währungen aus meiner Sicht noch nicht da. Derweil werden sie massiv für unerwünschte Aktivitäten wie zum Beispiel Geldwäsche genutzt.

 

Aber ist es nicht gut, Alternativen zu Fiatwährungen zu haben? Fragen Sie die Menschen in Argentinien oder Venezuela.

Natürlich, aber welche Währung verwenden die Menschen in Venezuela tatsächlich? Grösstenteils den US-Dollar. Die Verbreitung von Bitcoin im Land ist relativ gering. Und wenn es ­einen digitalen Dollar gäbe, wäre er noch weniger verbreitet.

 

Es gibt Bedenken hinsichtlich der Privatsphäre bei dieser Art von digitalen Zentralbankwährungen (CBDC) …

Ja, aber selbst in der Schweiz gibt es kein Bankkundengeheimnis mehr, also hat man das gleiche Problem. Ein Vorteil von ­Retail CBDC ist, dass die Banken umgangen werden könnten. Wenn die Banken heute in Schwierigkeiten sind, muss man sie retten. Letztendlich wird man, wie die Schweiz gezeigt hat, eine Bank nicht scheitern lassen; das würde zu viel Chaos auslösen. Wenn die Bilanz vollständig bei der Zentralbank liegt, verlieren die Banken ihr Bedrohungspotenzial. Und es gibt noch einen zweiten Vorteil.

 

Welchen?

Retail CBDC könnte die Seigniorage der Banken verringern, die gigantischen Gewinne, die sie erzielen, indem sie Geld von der Zentralbank erhalten und es an Kunden verleihen. Heute bringt mir mein Geld bei der Citigroup fünf Basispunkte ein. Für das gleiche Geld erhält die Citigroup bei der Fed 525 Basispunkte. Die Citigroup macht also 520 Basispunkte Gewinn allein dadurch, dass sie als Bank bezeichnet wird – was notabene ein Privileg ist, das von der Zentralbank gewährt wird. Das ist empörend! Wenn die Leute erst einmal die Details verstehen, werden sie ausflippen. Das System lässt sich schlicht nicht aufrechterhalten.

«Die Citigroup macht 5,2 Prozentpunkte Gewinn allein dadurch, dass sie als Bank bezeichnet wird – was notabene ein Privileg ist, das von der

Zentralbank gewährt wird.»

 

Warum wird Marktwirtschaftsfreundlichkeit immer mit Wirtschaftsfreundlichkeit gleichgesetzt?

Ich bin ein Freund der Marktwirtschaft, aber ich bin nicht wirtschaftsfreundlich. Wenn man die Gründe nicht versteht, für die Marktwirtschaft zu sein, ist es sehr leicht, die beiden zu verwechseln. Und es gibt politisch einen enormen Druck, sich der Wirtschaft anzuschmiegen, weil es dafür viele Belohnungen gibt. Wenn ich Kommunist bin und denke, dass die Wirtschaft böse sei, kommt es für mich nicht in Frage, von der Wirtschaft finanziert zu werden. Wenn ich aber denke, dass die Wirtschaft der Wachstumsmotor sei, dann ist es für mich viel einfacher, meine Position so anzupassen, dass ich eher für die Wirtschaft eintrete als für den freien Markt. Die Befür­worter der Marktwirtschaft sind die natürliche Beute der Wirtschaftslobby. Das untergräbt ihre Glaubwürdigkeit. Die diffuse Ablehnung des sogenannten Neoliberalismus kommt von diesem Vertrauensverlust.

«Ich bin ein Freund der Marktwirtschaft, aber ich bin nicht wirtschaftsfreundlich.»

 

Wie kann Vertrauen wiederhergestellt werden? Sie haben sich für einen «Marktwirtschaftspopulismus» ausgesprochen.

Als ich 2012 darüber schrieb, war mir klar, dass Populismus ­unvermeidlich ist. Die Frage war, welche Form er annehmen würde. Ich hatte gehofft, dass er eine positive Form annehmen würde, und lag damit völlig falsch.

 

Was ist die Alternative?

Ich weiss es nicht. Die einzige Lösung, die ich sehe, ist eine Demokratie, die den Willen der Bürger besser zum Ausdruck bringt. Deshalb gefällt mir das Schweizer System: Die direkte Demokratie beschneidet die Macht der Wirtschaft. Das ist die Grundlage, um das Vertrauen in sie wiederherzustellen.

»
Demonstration gegen die Corona-Massnahmen der deutschen Regierung im August 2020 in Berlin. Sie wurde organisiert von der von Michael Ballweg gegründeten Bewegung «Querdenken-711». Bild: Keystone/sulupress.de.
Plötzlich ohne Bankkonto

Ich organisierte Proteste gegen die Covidmassnahmen – dann verlor ich den Zugriff auf mein Vermögen und damit meine Firma. Jetzt bleiben mir nur noch Bitcoin und Bargeld.

Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!