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«Die USA bluffen bei der  Verteidigung Taiwans»
Niall Ferguson, fotografiert von Daniel Jung.

«Die USA bluffen bei der
Verteidigung Taiwans»

Historiker Niall Ferguson rechnet eher früher als später mit einer Blockade der Insel durch China und damit mit einer Eskalation des Grossmachtkonflikts. Der Schweiz rät er, ihre Neutralität über die Beliebtheit bei anderen zu stellen.

Read the English version here.

Der Schuldendienst der USA ist derzeit fast so hoch wie ihre Militärausgaben, und nächstes Jahr wird er sie wahrscheinlich übertreffen. Was beunruhigt Sie mehr: die hohen Schulden oder die geringe militärische Bereitschaft der USA?

Mich beunruhigt, dass die US-Regierung die Kosten für den Schuldendienst so unterschätzt hat, dass sie gezwungen sein wird, die Verteidigungsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu senken. Es ist das Zusammenspiel der beiden Dinge, das mir Sorgen macht: Je grösser der Schuldendruck, desto eher geraten die USA in einem Wettrüsten mit China ins Hintertreffen. Sie können zum Beispiel die U-Boot-Flotte nicht modernisieren, wenn das Verteidigungsbudget real sinkt.

 

Xi Jinping hat seiner Armee befohlen, bis 2027 für eine Invasion Taiwans bereit zu sein. Wie wahrscheinlich ist eine solche ­Invasion in den nächsten zehn Jahren?

Ich halte eine Invasion für ziemlich unwahrscheinlich, weil sie sehr schwierig ist. Amphibische Landungen sind so ziemlich das Schwierigste, was es im Krieg gibt. Die Strasse von Taiwan ist zudem breit und sehr schwierig zu befahren. Wahrscheinlicher ist, dass die Chinesen eine Seeblockade über die Insel verhängen. Und das könnte schon bald geschehen, zum Beispiel nächstes Jahr, wenn in Taiwan Wahlen sind. Ich halte es sogar für wahrscheinlicher, dass es eher früher als später passiert. Denn im Moment haben die USA keine gute Antwort darauf. In zehn Jahren hingegen könnten die USA Taiwan so weit aufgerüstet oder ihre eigene U-Boot-Flotte so weit verstärkt haben, dass eine Blockade für die Chinesen viel schwieriger wäre.

 

Warum würde China eine Blockade errichten?

Nun, es gibt ein Szenario, in dem China das erreicht, was John F. Kennedy 1962 erreichte. In der Kubakrise schien Chruschtschow zu blinzeln. Obwohl wir später erfuhren, dass es eine Vereinbarung gab, dass die Sowjets ihre Raketen aus Kuba abzogen und die Amerikaner ihre aus der Türkei, sah es damals so aus, als ob Chruschtschow einen Rückzieher gemacht hätte. Aus Xi Jinpings Sicht wäre das bestmögliche Ergebnis, dass er eine Blockade gegen Taiwan verhängt, darauf besteht, dass die Insel Teil Chinas ist – und die USA das nicht erfolgreich anfechten. Im Endeffekt würde er damit 1962 wiederholen, mit dem Unterschied, dass es dieses Mal die Vereinigten Staaten sind, welche die Rolle der Sowjetunion spielen. Es wäre ein fantastisches Ergebnis für Xi Jinping; Chinas Vormachtstellung in der indopazifischen Region wäre gefestigt, und es würde fast nichts kosten.

 

Ist das nicht zu riskant?

Analog zu 1962 besteht das Risiko darin, dass die USA eine Flottenexpedition über das Meer schicken, um die Blockade zu durchbrechen. Dann könnte es zu einem Krieg kommen, der für beide Seiten unglaublich kostspielig und zerstörerisch wäre. Aber genau das ist die Versuchung für China: herauszufinden, ob die USA hinsichtlich der Verteidigung Taiwans bluffen. Meiner Meinung nach tun sie das, denn sie haben keine glaubwürdige Strategie für das Szenario einer Blockade.

 

Was wäre die richtige Strategie der USA?

Mein Rat an die Regierung unter Biden lautet: Vermeidet dieses Szenario auf jeden Fall. Übt keinen Druck aus, so wie ihr es in der Taiwanfrage getan habt, und redet nicht so, als würdet ihr fünfzig Jahre der «strategischen Ambiguität» hinter euch lassen. Gebt den Chinesen keinen Vorwand. Das Letzte, was die USA wollen, ist eine Taiwankrise. Den letzten Konflikt um Taiwan 1996 haben die USA gewonnen, weil sie militärisch überlegen waren und China nachgeben musste. Heute liegen die Dinge anders. Verhängen die Chinesen eine Blockade, befürchte ich, dass sich der US-Präsident gezwungen sehen würde, Flugzeugträger und U-Boote zu entsenden – wir würden einen dritten Weltkrieg riskieren. Das gilt es unbedingt zu vermeiden.

«Den letzten Konflikt um Taiwan 1996 haben die USA gewonnen, weil sie militärisch überlegen waren und China nachgeben musste. Heute liegen die Dinge anders.»

Wie?

Die einzige Möglichkeit besteht darin, den Chinesen zu sagen, dass wir den Status quo nicht ändern werden. Was in den 1970er-Jahren vereinbart wurde, ist immer noch unsere Politik. Stattdessen hat Biden drei- oder viermal ein bedingungsloses Engagement für die Verteidigung Taiwans angedeutet. Die Chinesen betrachten das als Überschreitung einer roten Linie, und meiner Meinung nach ist das eine sehr gefährliche Sache für amerikanische Politiker. Bedenken Sie, dass Xi Jinping die De-facto-Unabhängigkeit Taiwans als Hauptgrund für eine dritte Amtszeit als Chinas Staatschef ansieht. Wir unterschätzen, wie wichtig das den Chinesen ist.

 

Sie stellen die Analogie zur Kubakrise her. Doch die wirtschaftliche Verflechtung zwischen China und den USA ist viel grösser als zwischen den USA und der Sowjetunion während des Kalten Krieges. Spricht das nicht gegen eine Eskalation?

Kommt es zu einem militärischen Konflikt, wäre die gegenseitige finanzielle Zerstörung beider Mächte real. Noch bevor ein Schuss fällt, gäbe es enorme Auswirkungen sowohl auf die chinesische als auch auf die amerikanische Wirtschaft. Doch die wirtschaftliche Interdependenz ist, ebenso wie die gegenseitig zugesicherte nukleare Zerstörung, keine ausreichende Garantie für Frieden. Darüber hinaus wird die gegenseitige Abhängigkeit von der Politik angegriffen. Beide Seiten versuchen, sich zwar nicht zu entkoppeln, aber zumindest ihre gegenseitige Verflechtung zu verringern. Je mehr sie das tun, desto mehr Reibungen werden entstehen. Denn wenn man den Chinesen sagt, dass sie die in Taiwan hergestellten hochentwickelten Halbleiter nicht haben können, erhöht man den Druck auf sie. So wird die wirtschaftliche Interdependenz zu einem Zankapfel statt zu einer Quelle der Versöhnung.

 

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Strategie einer «Entkopplung» von China, die viele im Westen befürworten, ziemlich riskant…

Ja, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens entstehen Spannungen dadurch, und zweitens ist der potenzielle Schaden, den ein Konflikt verursacht, umso geringer, je mehr man sich abkoppelt. Wenn man sich eine vollständige Entkopplung vorstellt, bei der es keine chinesischen Investitionen in den USA und umgekehrt mehr gibt und die Handelsaktivitäten nur noch minim sind, so ist man tatsächlich in der Lage, einen dritten Weltkrieg zu führen.

 

Sie haben vor vier Jahren mit Justin Yifu Yin gewettet, dass China die USA in bezug auf das BIP in den nächsten zwanzig Jahren nicht überholen werde. Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie gewinnen werden?

Ich bin ziemlich zuversichtlich, denn die chinesische Wirtschaft kommt gerade zum Stillstand, und Peking hat keine Lösung für die Schwierigkeiten. Es gibt ein grundlegendes Problem im Immobiliensektor, der etwa ein Drittel der chinesischen Wirtschaft ausmacht. Es gibt ein demografisches Problem, denn die Zahl der Arbeitskräfte schrumpft und die Konsumenten sparen. Die derzeitige Wachstumsrate liegt in Wirklichkeit wahrscheinlich näher bei null als bei fünf Prozent. Ich sehe keinen Ausweg aus Chinas Wachstumsfalle. Wenn die USA weiterwachsen, was plausibel erscheint, dann sollte ich die Wette gewinnen.

 

Das heisst aber nicht, dass die wirtschaftliche Lage der USA grossartig ist.

Das Problem in den USA ist, dass der Staat die Wirtschaft durch fiskalische und monetäre Kanäle überhitzt hat. Die Geldpolitik wurde gestrafft, die Fiskalpolitik nicht. Die Rechnung dafür werden die USA schon bald erhalten. Nächstes Jahr wird es wenn nicht eine Rezession, so doch eine deutlich spürbare Verlangsamung geben. Aber auch wenn es zu einer Rezession kommt, wird sie relativ kurz sein. Nach einem Jahrzehnt einer ziemlich langsamen Erholung von der Finanzkrise ist die US-Wirtschaft in einem besseren Zustand als 2009. Die Bilanzen der Banken und der privaten Haushalte sind in einer besseren Situation; die Probleme konzentrieren sich auf Büro- und Gewerbeimmobilien.

 

Zurück zum «Zweiten Kalten Krieg», wie Sie den Konflikt zwischen den USA und China nennen: Hat der Ukrainekrieg China im Wettbewerb mit den USA ermutigt?

Das Besondere an einem Krieg wie dem in der Ukraine ist, dass er viel über die Fähigkeiten der Gegenseite verrät. China konnte sehr deutlich sehen, was die USA für einen Verbündeten, wie die Ukraine einer geworden ist, tun können. Aber auch, dass die USA keine grossen Vorräte an bestimmten Waffen haben, die in der Ukraine eingesetzt wurden. Dagegen hat der Krieg China vor Augen geführt, dass eine konventionelle Invasion sehr schwierig ist. Auch wurden die Unzulänglichkeiten des russischen Militärs aufgedeckt. Die Volksbefreiungsarmee steht in bezug auf die Kampfbereitschaft wahrscheinlich nicht viel besser da als die russische Armee, vielleicht sogar schlechter, denn die Russen haben zumindest seit 2008 einige Kriege geführt, während die Chinesen seit Ende der 1970er-Jahre keinen Krieg mehr geführt haben. Deshalb ist das Szenario einer Blockade plausibel, denn das ist etwas, das sie können.

 

Was ist die dauerhafteste Veränderung, die der Ukrainekrieg mit sich gebracht hat?

Es hat sich gezeigt, dass die europäische Wirtschaft nicht unbegrenzt auf russisches Erdgas angewiesen ist und dass es alternative Möglichkeiten für das europäische Energiesystem gibt. Die meisten Leute dachten, das würde viel schwieriger werden. Zugleich muss man anerkennen, dass die Vorhersage, die Sanktionen würden Russland lähmen, falsch war. Die Biden-Regierung hat übertrieben, was die Sanktionen bewirken könnten, denn es gab viele Möglichkeiten, sie zu umgehen.

 

Hat der Krieg den Westen geeint?

Der «Westen» ist ein nebulöser Begriff. Die Liste der Länder, die einen bedeutenden Beitrag zu den ukrainischen Kriegsanstrengungen geleistet haben, ist eher vergleichbar mit dem Bündnissystem der USA im Kalten Krieg. Die Karte dieses Krieges zeigt, dass die transatlantischen Beziehungen immer noch funktionieren und dass eine russische Bedrohung die Nato wieder zusammenführen wird. Das Problem ist natürlich, dass diese transatlantischen Beziehungen plötzlich sehr verwundbar werden, wenn die US-Politik in Richtung einer zweiten Amtszeit von Trump geht. Der Westen ist vorerst geeint, aber im Januar 2025 könnte es ganz anders aussehen.

 

Deutschland hat jüngst einen Rückzieher bei seiner Verpflichtung gemacht, das Nato-Ziel von 2 Prozent zu erreichen. War die berühmte «Zeitenwende» von Olaf Scholz nur ein PR-Trick?

Ich habe nie wirklich daran geglaubt, weil Deutschland im Grunde genommen nicht wirklich eine Wende erreicht hat. Die «Wende» von 1989 bis ’90 war ein echter Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Die jetzige Situation ist weniger tiefgreifend und wurde Deutschland aufgezwungen durch die russische Aggression.

 

Was ist also das Problem Deutschlands?

Deutschlands Problem ist nicht wirklich, dass Russland keine zuverlässige Erdgasquelle mehr ist. Deutschlands Problem ist China. Viele deutsche Unternehmen haben sich in den letzten zwanzig Jahren eingeredet, dass ihre Zukunft im Export nach China liege, sogar in der Auslagerung der Produktion. Der Verbrennungsmotor ist etwas, das die Deutschen wirklich gut herstellen können. Aber es sieht so aus, als würden wir ihn zum Aussterben verurteilen. Das ist eine schreckliche Nachricht für die deutsche Wirtschaft, denn die Chinesen können Elektrofahrzeuge viel billiger herstellen als sonst jemand, und die EU hat nicht wirklich eine kohärente Strategie für den Umgang mit der Flut billiger chinesischer Elektrofahrzeuge. Ich glaube nicht, dass Deutschland psychologisch bereit ist, sich von China abzuwenden. Ebenso wenig sind die Deutschen bereit, sich in einer Krise um Taiwan auf die Seite der USA zu stellen. Es gibt in Deutschland immer noch eine starke Sehnsucht danach, dass alles wieder so wird, wie es war – doch das wird es nicht.

 

Die Schweiz hat ihre Neutralität im Zuge des Angriffs auf die Ukraine aufgeweicht, wird aber dennoch kritisiert, dem Land nicht genug zu helfen. Ist Neutralität unmöglich geworden?

Das grosse Risiko für die Schweiz besteht darin, in den Augen der Welt zu einem Mitglied der EU und der Nato zu werden, ohne tatsächlich Mitglied zu sein. Das ist ein ungünstiger Zustand, denn sie hat keinen der Vorteile einer Mitgliedschaft, dafür aber die Kosten, nicht als neutral angesehen zu werden. Singapur stiehlt den Schweizern in gewisser Weise die Kleider. Im Zweiten Kalten Krieg ist es sinnvoller, auf Singapur als neutrale Volkswirtschaft zu setzen als auf die Schweiz. Das ist ein wirklich schwieriges Dilemma. Im Falle eines Ereignisses wie der russischen Invasion der Ukraine war es für die Schweiz sehr schwierig zu sagen: «Tut uns leid, wir können nicht helfen, wir sind neutral.» Ich glaube nicht, dass es eine Alternative gab. Aber ich bin erstaunt, wie Israel sich verhält. Israel ist tatsächlich neutral, denn es kann Russland, das ein Akteur in Syrien ist, nicht verärgern. Ich frage mich, ob die Schweiz akzeptieren muss, dass sie nicht populär sein wird, aber dass es vielleicht besser ist, neutral als beliebt zu sein.

«Das grosse Risiko für die Schweiz ­besteht darin, in den Augen der Welt zu einem Mitglied der EU und der Nato zu werden, ohne tatsächlich

Mitglied zu sein.»

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