Die unsterbliche Quizfrage
Als ich jung war, und studierte, war in den Wandelhallen des Geistes folgendes Raunen zu vernehmen: «Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.» Das war der Bloch-Ton, der den Goethe-Ton ablöste, der bisher von einem berühmten Namen verwaltet worden war, vom Ordinarius für Germanistik, Emil Staiger. Mit Ernst Bloch und diesem […]
Als ich jung war, und studierte, war in den Wandelhallen des Geistes folgendes Raunen zu vernehmen: «Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.» Das war der Bloch-Ton, der den Goethe-Ton ablöste, der bisher von einem berühmten Namen verwaltet worden war, vom Ordinarius für Germanistik, Emil Staiger. Mit Ernst Bloch und diesem ersten Satz aus «Spuren» hob nun die linke Philosophie ab, und waltete für ein gutes Jahrzehnt an den meisten Lehrstühlen deutscher Sprache und Dichtung. Es ging nach wie vor darum, Fragen zu klären, die als die letzten Fragen bekannt sind. Alle unsere intellektuellen Referenzen kreisten um sie. Vom erwähnten Ernst Bloch, über Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule, hinüber zu Claude Lévy-Strauss, Roland Barthes, Michel Foucault und den Franzosen überhaupt. Und besonders kreisten sie mit unserem ersten Beichtvater des abtrünnigen Denkens, mit Walter Benjamin.
Doch niemand unter diesen Geistesgrössen wusste das Zauberwort brauchbar zu entschlüsseln, um welches das Raunen kreist: die Identität. Abhilfe kam dann plötzlich von ungeahnter Seite, nämlich vom Fernsehen und seinen Propheten. Jetzt waren die Quizmaster an der Reihe, die letzten Fragen zu stellen. Sie stellten sie volksnah und direkt, und waren im Unterschied zu den Philosophen effizient und erfolgreich. Ich war zu jener Zeit noch ziemlich jung, also gefragt, und wurde etwa mit folgender Frage konfrontiert: «Frau Schaad, wer sind Sie? Sind Sie vielleicht ein Landei?» Der gewiefte, damals gefürchtete Interviewer setzte auf Widerspruch, und ich habe pariert.
Mit den Quizsendungen bin ich älter geworden, und mit den Quizsendungen gehe ich auf jenen Lebensabschnitt zu, der einem höflich aber bestimmt um die Ohren geschlagen wird: «Nett, dass Sie da waren, aber nun wird es Zeit für Sie». Auf den Ämtern und im Stellenanzeiger wird Menschen meines Jahrgangs, insbesondere den weiblichen Menschen, dann weniger höflich beigebracht, ans Abtreten zu denken. Die Quizsendungen, mit mir in die Jahre gekommen, denken hingegen überhaupt nicht daran. Sie tanzen, fern davon, sich wie ich als Auslaufmodell zu outen, auf allen Kanälen und sind zäher denn je.
Wer bin ich, Was bist du, Wetten, dass du, und so weiter. Die unsterbliche, oder sagen wir genauer, die nicht sterbewillige Quizsendung weiss je länger desto taktischer mit sich umzugehen. Sie lädt jetzt, da sie jedes Jahr älter wird – wie ich; und jedes Jahr ein Jahr älter geworden sein wird, wie ich; eine Feststellung, die man erst in unserm Alter versteht –, nun schon die Hundertjährigen ein, und fragt: «Johannes Heesters, wer sind Sie und was haben sie in den nächsten zwanzig Jahren vor?» Sie ist so klug, auch greise weibliche Intellektuelle zu sich zu rufen: «Was für eine Frau ist man Anfang Neunzig, wenn man Margarethe Mitscherlich heisst?» So betreibt die Quizsendung taktisch schlau ihre Altersvorsorge. Das wäre nicht nötig; denn im Unterschied zu mir braucht sie an keine Zukunft zu denken, denn das Fernsehen hat, wohl aus wirtschaftlichen Gründen, die absolute Gegenwart erklärt. Das behutsame, etwas brüchige philosophische Raunen wie jenes Blochsche «darum werden wir erst», erübrigt sich, wenn die Quizsendung der Goetheschen Aufforderung: «Werde, der du bist» telegen so gründlich nachkommt, dass man sowohl den Bloch- als den Goethe-Ton endgültig entsorgen kann.
Für die «Carte Blanche» laden wir jeweils einen Autor zu freien Assoziationen zum Thema des Dossiers ein.
Isolde Schaad, geboren1944, lebt als Schriftstellerin in Zürich.
Foto: Ayse Javas