Die Ungenauigkeit des Philosophen
Eine scharfe Entgegnung auf das Gespräch zwischen Peter Sloterdijk und René Scheu in Ausgabe 1028.
Es ist erstaunlich, wie verzerrt selbst klügste Köpfe die Wirklichkeit manchmal wahrnehmen. Besonders schädlich ist es, wenn dies in einer Debatte geschieht und man sich nicht nur nicht, sondern falsch versteht. Das muss passiert sein, als der Philosoph Peter Sloterdijk 2009 sein Referat an der Kulturlandsgemeinde von Appenzell Ausserrhoden hielt. An der gleichen Veranstaltung, aber einen Tag früher, war auch Enno Schmidt aufgetreten, Initiant und Verfechter des bedingungslosen Grundeinkommens. Als Veranstalter dachten wir: prima, zwei gescheite Männer mit unterschiedlichen Haltungen. Der eine träumt – heute explizit, damals inhärent – vom Ende der Fiskalherrschaft, welche er durch die Freigiebigkeit der Vermögenden ersetzen will; der andere möchte den kontrollierenden Sozialstaat mit seiner Bürokratie durch ein minimales, zur Not ausreichendes Grundeinkommen ersetzen, welches durch eine Konsumsteuer zu finanzieren wäre.
Beides sind vernünftige, aber auch utopische und auf den ersten Blick unrealistische Konzepte.
Von Sloterdijk erhofften wir uns nur eines: kluge Gedanken. Wir wurden nicht enttäuscht, allerdings auch nicht überrascht. Der Rektor der Staatlichen (sic!) Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe blieb sich treu und warnte davor, den Menschen arm zu denken. Ein bedingungsloses Grundeinkommen tue ihm nicht gut.
Das mag so sein, zeigt aber auch, dass Sloterdijk die Literatur zum bedingungslosen Grundeinkommen kaum kennt, sonst hätte er mindestens bemerkt, dass sich die Initianten darüber auch schon Gedanken gemacht haben und hätte vielleicht etwas komplexer argumentiert.
Ärgerlich ist aus meiner Sicht nun aber, dass Interviewer René Scheu und Peter Sloterdijk die Kulturlandsgemeinde als eine Versammlung von Naiven darstellen. Schon Sloterdijks Notiz in seinem Reisetagebuch «Zeilen und Tage», die Scheu in seiner Einstiegsfrage zitiert, zeigt, dass sich der viel redende und reisende Peter Sloterdijk keine Zeit genommen hat, um die Klischees in seinem Kopf zu überwinden: «Die Idylle zwingt die Einzelheit in ihren Rahmen. Die Wiesen lachen, wie im Rhetorikkurs gelernt. Das Alphornbläserensemble verbreitet vom späteren Vormittag an unerbittliche Biederkeit.»1
René Scheu fragt dann, als seinerzeitiger Augenzeuge dazu legitimiert: «Sie zeigten sich reserviert gegenüber dem Anliegen, das die Gastgeber offensichtlich teilten, und lenkten das Gespräch zu deren Missfallen auf den Miserabilismus der Überflussgesellschaften, der in allen Bürgern hilfsbedürftige Wesen erkennt. In der EU läuft eine Initiative zu einem Grundeinkommen für alle. Und in der Schweiz wird das Stimmvolk demnächst über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens befinden. Wie stehen Sie zu solchen Vorstössen – sind sie Grund zu Sorglosigkeit oder doch eher zu Sorge?»
Die Frage, von der Scheu von Vornherein wusste, wie sie beantwortet würde, gab Sloterdijk Gelegenheit zu einem schönen Verriss. Die Antwort zeigt aber auch, wie ungenau ein grosser Geist beobachtet oder sich erinnert. Es melde sich bei ihm ein inneres Tonband, sagte Sloterdijk, und er höre «diese meditative Gitarre wieder, mit der die Debatte in Heiden die ersten zehn Minuten eingeleitet wurde – und dann kamen auch noch tibetische Klangschalen hinzu, die zur Einstimmung minutenlang ertönten». Dass er Gitarre und Klangschalen hörte, wo in Wirklichkeit Hackbrettsaiten und Talerschwingen erklangen, würde ich dem Philosophen Sloterdijk nachsehen. Nicht aber den folgenden Satz: «Die Gastgeber hatten geglaubt, dass ich die Frage so erörtern würde, wie sie es sich wohl gewünscht hätten: dass ich nämlich gewissermassen den philosophischen Überbau zu deren Grundeinkommensforderung formuliere …» Woher weiss er, was sich die Gastgeber, zu denen ich auch gehörte, gewünscht haben? Er hat uns nicht gefragt. Wir hätten Sloterdijk nicht eingeladen, wenn wir uns nicht ein provokatives Referat gewünscht hätten. Wir hätten uns aber nicht nur Schärfe, sondern auch Tiefenschärfe gewünscht. Und dies eigentlich auch von René Scheu, der von der ganzen Kulturlandsgemeinde nur das Vorspiel und das Referat von Sloterdijk mitbekam, nicht aber die Debatten des Vortags, die auch Sloterdijk nicht gehört hatte.
Sloterdijks Referat war insgesamt so, wie man es von einem Philosophen erwartet.
«Ich habe eine typische philosophische Reaktion an den Tag gelegt und das getan, was Philosophen am besten können: Ich bin einen Schritt zurückgetreten.»
Noch besser wäre es gewesen, er hätte sich genauer für das interessiert, wovon er angeblich einen Schritt zurücktrat. Leider aber gehört er selbst auch zu den stolzen Meinungsbesitzern, die er im Interview eloquent kritisierte: «Wir selber sind ja von der Natur her so angelegt, dass wir als Meinungsautomaten funktionieren. Wir haben im Laufe unseres Lebens Erfahrungen gesammelt, haben Gespräche geführt, haben Einflüsse erlitten; die sedimentieren sich zu einer Meinungspersönlichkeit, die an ihren Auffassungen hängt. Die Philosophen sind insofern eine etwas seltsame Gattung, als sie gegenüber diesen Meinungsbesitzern eine nicht konkordante Verhaltensweise praktizieren. Das kam gar nicht gut an …»
Sogar hier irrt sich Sloterdijk. Sein Referat kam recht gut an, wie man in der damaligen Sondernummer der Zeitschrift «Obacht Kultur» nachlesen und in einem Beitrag auf Art-TV auch sehen kann. Nur Enno Schmidt und seine Anhänger sahen ein wenig aus wie begossene Pudel. Aber nicht einmal sie waren enttäuscht, dass Sloterdijk ihnen nicht zustimmte – sondern nur darüber, wie einfach er es sich gemacht hatte.
Philosophen müssten Debatten führen. Scheu und Sloterdijk betätigen sich in diesem Interview des «Schweizer Monat» aber leider nicht als Philosophen, sondern als Meinungsbesitzer.
Hanspeter Spörri, Teufen
1 Peter Sloterdijk, René Scheu: Das Lebewesen als Gebewesen. In: Schweizer Monat 1028. Juli/August 2015. S. 12-24.