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Die Unabhängigkeit  ist eine zarte Pflanze
Julia Hänni, zvg.

Die Unabhängigkeit
ist eine zarte Pflanze

Die Parteizugehörigkeit von Richterinnen und Richtern ermöglicht eine ausgeglichene Zusammensetzung von Gerichten. Sie darf aber nicht zur Ausübung von politischem Druck missbraucht werden.

 

Wenn man in der Schweiz Richterin oder Richter werden möchte, muss man nicht de iure, wohl aber de facto ­Mitglied einer politischen Partei sein. Die faktisch erforderliche Mitgliedschaft erstaunt auf den ersten Blick: Recht hat nichts mit Parteien zu tun; zu richten sollte unabhängig, gerade nicht ­«parteiisch» sein.

Dies führt zur Frage, weshalb in der Praxis des schweizerischen Staatsrechts seit jeher einer Partei zugehörige Richter an das Bundesgericht gewählt werden. Was ist der Sinn, dass Richterinnen und Richter ihre politische Grundausrichtung offenlegen (müssen) und sich einer Partei anschliessen (müssen)? Und vor allem: Was sind ihre Wirkungsweisen und wie sind sie aktuell rechtsstaatlich einzuordnen? Dem potentiellen Spannungsverhältnis zwischen Unabhängigkeit einerseits und Parteizugehörigkeit andererseits ist im folgenden nachzugehen.

Die theoretischen Grundlagen des Staatsrechts sind nach wie vor stark kantianisch geprägt. Unabhängigkeit ist für Kant ein ­Zustand der Eigenständigkeit (Autonomie), der Selbstbestimmung des Willens. Die Autonomie des Willens definiert Kant als die «Beschaffenheit des Willens, wodurch derselbe ihm selbst ein Gesetz ist». Als Ausdruck von Unabhängigkeit setzen wir uns die Regeln unseres Handelns selbst, wobei diese normativ eingebettet sind: Ein Mensch muss die Maximen seines Handelns – also die selbstgesetzten Regeln seines Handelns – auch dann noch wollen können, wenn sie allgemein – also von jedermann – angewendet werden (kategorischer Imperativ). Bei der Unabhängigkeit geht es also um verallgemeinerbare selbstgesetzte Regeln des Handelns in einem bestimmt definierten Rahmen – und insofern um Freiheit.

Die Autonomie wird auch auf Institutionen übertragen: Die Eigenständigkeit der Gerichte ist in Artikel 30 der Bundesver­fassung verankert. Als wohl wichtigste Norm des prozessualen Verfassungsrechts sieht die Bestimmung die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte vor. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist kurz gesagt dann garantiert, wenn keine Weisungen oder sachfremden Einflüsse in den Entscheidungsmechanismus einfliessen, auch nicht dem Anschein nach. Die Autonomie ist von Richterinnen und Richtern zu gewährleisten. Ihre Autonomie ist dabei nicht frei, sondern an Grenzen gebunden. Die Rechts­bindung (Art. 5 BV) ist Schranke der Autonomie: Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.
Die Rechtsbindung als Grenzziehung erscheint auf den ersten Blick klar und einsichtig. Ein Gericht darf nie über das von der Gesetzgebung Vorentschiedene hinausgehen; es hat den Einzelfall im Rahmen des Rechts zu lösen. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings rasch ersichtlich, dass das In-Beziehung-Setzen des Gesetzestexts auf einen Einzelfall Entscheidungen im eigentlichen Sinn erfordert. Ist eine behördlich angeordnete Quarantäne als «Freiheitsentzug» zu qualifizieren? Sind Prostitutionsverträge «sittenwidrig» im Sinne des Obligationenrechts, mit der Folge der Uneinforderlichkeit des Entgeltes? Ist eine Weg­weisung einer akut unheilbar erkrankten ausländischen Person nach drei Diebstählen ein «Härtefall»? Verschiedene Richterinnen und Richter werden im Rahmen der Dogmatik zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen. Gesetzestexte sind nicht (und können nicht) so vorbestimmt sein, dass sie alle Einzelfälle abschliessend ­regeln.

Gesetze sprechen lassen

Erforderlich ist also in der Regel, das Gesetz oder den anwend­baren Normkomplex auszulegen (Art. 1 ZGB). Wie Wittgenstein festhält, ist «die Bedeutung eines Wortes (…) sein Gebrauch in der Sprache». Das in aller Regel durch eine Mehrzahl von Richtern ­getroffene Auslegungsergebnis ist verbindlich. Sind die Rechtsfragen einmal entschieden, existiert aus der Verfassung heraus sogleich die Pflicht, gleichgelagerte Fragen gleich zu behandeln (Art. 8 BV).

Durch das Beziehen auf den konkreten Streitfall und die Auslegung der anwendbaren Normen – in genau diesem Rahmen – fügt demnach jedes Judikat dem existierenden Rechtsbestand ­etwas hinzu, was es vorher nicht gab. Bei der Rückbindung der Richterinnen und Richter an das Recht verhält es sich also nicht anders als bei der Wahrnehmung, wie dies die neurobiologische Forschung aufzeigt: Mit jedem Erkenntnisschritt wird dem bereits Existierenden etwas hinzugefügt. Es gibt weder völlig wertungsfreie Wahrnehmung noch völlig wertungsfreie Wissenschaft.

«Niemals darf der Anschein erweckt werden, ein Parteiprogramm sei

für die Wiederwahl (oder überhaupt für die Richtigkeit eines juristischen Urteils) massgeblich.»

Für die Erschliessung von Wertungen im Rahmen der Rechtsanwendung ist indessen ein Spezifikum zu beachten, das im Verfassungsrecht verankert ist: Gerichte legen das sie bindende Recht selbst aus. Ein zuständiges Gericht entscheidet eigenständig die Tragweite der anwendbaren Norm für den konkreten Streitfall. Richterinnen und Richter haben «Gesetze sprechen zu lassen». Niccolò Raselli spricht auch von einem Monopolbereich, dessen Ausübung einzig durch seine Träger überwacht wird. Mit anderen Worten: Juristische Auslegungen werden nicht im Mehrheitskampf politischer Auseinandersetzungen erschlossen. Vielmehr sind die zuständigen Richter für die Erkenntnis des Rechts – als Garantie für die Rechtssuchenden – auf sich selbst zurückgeworfen: Sie entscheiden im Kollegium in Auslegung der anwendbaren Normen und in Anhörung der Prozessparteien. Eine Einflussnahme von aussen ist verboten, per se.

Christoph Schönberger spricht in diesem Zusammenhang vom «Paradox der Rechtsbindung»: Die Richter sind an das Recht gebunden, müssen aufgrund der Unabhängigkeit jedoch eigenständig entscheiden, was für den konkreten Fall unter dem sie bindenden Recht zu verstehen ist. Der Gesetzgeber kann und wird ein Gesetz anpassen, wenn er anhand des gerichtlichen Anwendungsmaterials zur Auffassung gelangt, es habe nicht die Tragweite, die er vorgesehen hatte. In den konkreten Fall kann und wird er indessen nicht – weder direkt noch indirekt – eingreifen. Gerichte können so die Grundvoraussetzungen dafür schaffen, dass das normative Gefüge in der rechtlichen Praxis in Würdigung des konkreten Einzelfalls Beachtung findet. Die in diesen Marchen begründete – von Verfassung wegen erforderliche – Freiheit der Entscheidung wird durch die institutionelle Unabhängigkeit abgesichert.

Starke Stellung der Parteien

Das Richteramt begründet die Kompetenz zur Ausübung hoheitlicher Gewalt. Eine solche Kompetenz muss legitimiert werden: Sie bedarf der politisch-demokratischen Legitimation und Kontrolle. In der Schweiz trägt das Richterwahlsystem dem in besonderer Form Rechnung: Richterinnen und Richter jeder Instanz werden nicht ernannt, sondern durchwegs gewählt. Die Wahl erfolgt im allgemeinen durch kollegiale externe Wahlorgane und auf eine bestimmte Amtsdauer. Es gibt keine Ernennung von Richterinnen und Richtern durch Gerichte. Richterinnen und Richter am Bundesgericht werden von der Vereinigten Bundesversammlung auf eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt.

Für die (Erst-)Wahl misst die vorbereitende Gerichtskommission der fachlichen und persönlichen Eignung der Kandidaten besondere Bedeutung bei und auch einer ausgewogenen Vertretung politischer Kräfte an den eidgenössischen Gerichten. Das Parlament verfolgt also (auch) einen freiwilligen Parteienproporz. Dieser wird über eine gewisse Zeitspanne gewährleistet; am Bundesgericht sind laufend Parteien unter- und dann wieder übervertreten. Die Berücksichtigung des Parteienproporzes ist dabei nicht ausdrücklich normiert. Dem Parlament steht es an sich frei, eine nicht parteigebundene Person zu wählen.

Aus der faktischen Berücksichtigung der politischen Kräfte bei der Wahl folgt indes, dass eine Parteimitgliedschaft in der ­Regel notwendig ist, um für das Richteramt vorgeschlagen zu werden. Bisher wurden keine Bundesrichter ins Hauptamt gewählt, die sich zu keiner politischen Partei zugehörig erklärt hätten. Den politischen Parteien kommt deshalb im Wahlverfahren eine starke Stellung zu.

Keine normative Grösse

Was bedeutet nun die Zugehörigkeit zu einer Partei für die richterliche Unabhängigkeit? Wird diese durch das Wahlsystem und die Parteizugehörigkeit «gar nicht tangiert», in Frage gestellt oder gar verunmöglicht? Das Verhältnis von demokratischer Legiti­mation einerseits und richterlicher Unabhängigkeit andererseits ist zu vertiefen.

Fachkompetenz und persönliche Eignung sind, wie dies von der Gerichtskommission gehandhabt wird, die wohl wichtigsten Kriterien für die Richterwahl. Gleichwohl ist es besonders wertvoll, eine pluralistische Entscheidungsinstanz bei potentiell tief in das Leben der Menschen eingreifenden Entscheidungen zu ­gewährleisten. Die Idee hinter dem Parteienproporz ist eine möglichst vielfältig zusammengesetzte Richterschaft – die es auch ­tatsächlich gibt und die auch nicht durch Fachkompetenz allein sicherzustellen ist. Weder der wissenschaftliche Ausweis noch eine langjährige richterliche Erfahrung sind Garanten für die Kompetenz, sich in spezifische Fall- und Lebenskonstellationen hineinzudenken, und namentlich nicht für die seelische Kraft ­eines Kandidaten, sich ungebührlicher Einflussnahme zu ent­ziehen.

Die Parteizugehörigkeit ist aber keine normative Grösse im Rechtsanwendungsprozess. In der Rechtswirklichkeit am Bundesgericht zeigt sich denn auch – regelmässig –, dass Mehrheitsentscheidungen nicht entlang der Parteilinien gefällt werden. Politische Positionierungen im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Partei werden regelmässig durch die Methodik der Rechtsanwendung und Rechtsfindung überlagert. Dazu gehören Weichenstellungen in der Erkenntnis, wie beispielsweise, ob prozessuale Normen mehr als Hilfsfunktionen für die Durchsetzung des materiellen Rechts oder als eigenständige Begrenzungen des Rechtsschutzes verstanden oder ob materiell eher positivistische oder eher teleologische Methodikansätze angewandt werden etc. Auch die Prägung der Persönlichkeit kann – soweit von der Auslegung her Raum besteht – als Vorwissen in die Rechtserkenntnis einfliessen. Sie speist sich aus Weltanschauung und Gesellschaftsverständnis, aber auch aus dem Menschenbild und der Erfahrung, die das eigenständige Denken prägen. Es sind Aspekte, die sich mit der Parteizugehörigkeit überschneiden können – aber nicht müssen.

Innerhalb des dogmatisch Vertretbaren – soweit es überhaupt Alternativen zulässt – hat die innere Unabhängigkeit namentlich in Form des Gewissens eine Funktion: Es ist ein rechtsstaatlich-gesellschaftliches Gespür für Situationen, z.B. für übermässige Rigidität einer behördlichen Praxis oder gegen naives Goutieren von Machenschaften. In diesem beschränkten Rahmen sind Wertungen erforderlich: Der Betroffene hat das Recht, dass sich ein Gericht, dem normativen Gefüge verpflichtet, unabhängig – soweit dogmatisch möglich: mit einem gewissen Gespür – in seinen Fall versetzt.

Sollen an genau diesem Punkt, wo Wertungen in der Anwendung des Rechts erforderlich sind, die Interpretationen denn nicht einfach gerade «auf der Parteilinie» erfolgen? Würden dann die Volksrechte und Legitimation der Richterschaft nicht besser gewahrt? – Was scheinbar ähnlich klingt oder als subtile dogmatische Differenz erscheint, unterscheidet sich unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit fundamental. Der Unterschied liegt in der normativen Dimension – und er zeigt sich am augenfälligsten aus der Sicht des betroffenen einzelnen: Es ist das wohl fundamentalste Recht des Betroffenen, dass sein Fall unter dem Gesichtspunkt des geltenden normativen Gefüges betrachtet und erschlossen wird. Insofern greifen namentlich Aussagen, wie allfällige Probleme würden sich darin erschöpfen, dass ein bestimmter Richter «halt nicht dieselbe Wertehaltung wie seine Partei» habe, wesentlich zu kurz. Im Einzelfall muss der Richter genau von ihr unabhängig denken, ohne weiteres auch ein politisch missliebiges Resultat wählen oder mittragen, wenn Recht, Aus­legung – und in diesem Rahmen: Gewissen – es gebieten.

Eine Parteizugehörigkeit ist so ein erster Ansatz, um eine Pluralität im Spruchkörper sicherzustellen. Sie darf aber die sachgerechte Erschliessung des normativen Gefüges für die Streitfälle keinesfalls ersetzen. Die Mitgliedschaft in einer Partei ist im schweizerischen Staatsrechtssystem nicht so zu verstehen, dass sie die Rechtsfindung leiten soll. Wenn dem einzelnen ein Recht zugesprochen oder aberkannt wird, sind dafür das normative Gefüge und dessen Interpretation durch die Praxis der Gerichte massgeblich.

Die Gefahr des «Chilling Effect»

Das Wahlorgan nimmt somit Einfluss bei der Wahl, auch insoweit, als es neben der Fachkompetenz und persönlichen Eignung über eine gewisse Zeitspanne hinweg den Parteienproporz berücksichtigt. Die parlamentarische Wahl umfasst demgegenüber keine ­politische Kontrolle des Urteils als Auslegungsergebnis des Gerichts. Die strikte Trennung ist von Parteien (und Richtern) zu achten, andernfalls ist die Unabhängigkeit der Justiz aktuell und erheblich in Gefahr.

Strikt abzulehnen sind unter diesem Blickwinkel Aufgebote von Richterinnen und Richtern durch eine Parlamentsfraktion mit dem Ziel, zu eruieren, wie ihre Stimmen vermehrt dem Parteiprogramm zum Durchbruch verhelfen könnten. Ebenso gar Drohungen der Nichtwiederwahl als Folge gesellschaftspolitisch ­umstrittener Urteile, vgl. bereits BGE 116 IA 252 (Kruzifix in Schulzimmern) oder BGE 138 II 32 zum Umfang von Steuerbefreiungen bei landwirtschaftlichen Grundstücken. Wie Raselli festgehalten hat, ist «Ziel solcher Drohgebärden […], dass sich Richter und Richterinnen bei der nächsten Entscheidung einer gesellschaftspolitisch relevanten Frage im Entscheidfindungsprozess nicht ausschliesslich von Recht, Gerechtigkeit und persönlichem Gewissen leiten lassen, sondern auch den parteipolitischen Druck verspüren».1

Genau darin liegt eine Problematik, die treffend als «Chilling Effect» bezeichnet wird: Das überaus heikle Phänomen eines Drucks, dass Richter – gerade im Bereich gesellschaftspolitisch umstrittener Rechtsbereiche – «unter dem Radar» im Sinne eines politischen «verträglichen Resultats» stimmen, um keine politische Unbill auf sich zu ziehen. Bei der Rechtserkenntnis darf insbesondere keinerlei Horizontverschmelzung passieren, dass man das politisch verträglichere Resultat auch noch für die genuin ­eigenständige Auslegung hält. Dies würde immer zulasten der Rechtssuchenden gehen. Im Rahmen des schweizerischen Verfassungsrechts darf daher niemals der Anschein erweckt werden, ein Parteiprogramm sei für die Wiederwahl (oder überhaupt für die Richtigkeit eines juristischen Urteils) massgeblich. Solches würde dem Recht der Betroffenen, dass ihr Einzelfall im Rahmen des normativen Gefüges unabhängig zu würdigen ist, fundamental zuwiderlaufen.

Die Voraussetzungen für die Unabhängigkeit im Sinne der Tradition des schweizerischen Staatsrechts zu bewahren ist eine gemeinsame Aufgabe von Justiz und Politik.

  1. Niccolò Raselli: Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit. In: NZZ vom 18.6.2012.

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