Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Die Umdeutung von «Gender» schadet den Frauen
Holly Lawford-Smith, zvg.

Die Umdeutung von «Gender» schadet den Frauen

Der genderkritische Feminismus korrigiert die Irrtümer, die mit der gesellschaftspolitischen Popularisierung des Genderbegriffs einhergehen.

Read the English version here.

 

Auch wenn der Begriff «Feminismus» allgemein bekannt ist, sind wahrscheinlich nur wenige Menschen in der Lage, seine vielen verschiedenen Arten auseinanderzuhalten, die in der öffentlichen Wahrnehmung um die Vorrangstellung ringen. Noch wenigere werden bislang wahrscheinlich vom «genderkritischen Feminismus» gehört haben, der neuesten und vielleicht umstrittensten Form, die gerade in dieses Gerangel einsteigt. Doch die innerfeministische Kontroverse schwappt von aktivistischen Gruppen und den Hochschulen ins öffentliche Leben über und weckt dabei auch die Neugier von Menschen, die kein besonderes Interesse am Feminismus haben und sich selbst auch nicht als Feministinnen verstehen.

Auf Anhieb mag sich nicht erschliessen, was an den Überzeugungen des genderkritischen Feminismus so brisant ist oder weshalb dieser einen derartigen Zorn anderer Feministinnen auf sich zieht, dass der diesbezügliche Konflikt mittlerweile zu einem Belang von allgemeinem Interesse geworden ist. Genderkritische Feministinnen beleben die Tradition des radikalen Feminismus wieder, der Ende der 1960er-Jahre in den Vereinigten Staaten entstand. Sie sind der Ansicht, dass es zwei Geschlechter gibt, dass das weibliche Geschlecht historisch gesehen unterworfen worden ist, dass die Gleichstellung der Geschlechter bislang in keinem Land erreicht wurde, obwohl in einigen Ländern grössere Fortschritte erzielt wurden als in anderen, und dass es, bis es zu dieser Gleichstellung kommt, als Mittel zu ihrer Verwirklichung weiterhin wichtig ist, die geschlechtsspezifischen Rechte weiblicher Menschen gesetzlich zu schützen.

Falls es ungewöhnlich anmutet, dass ich hier von «geschlechtsspezifischen Rechten weiblicher Menschen» spreche und nicht direkter von «Frauenrechten», liegt das daran, dass es einen Konflikt bezüglich der grundlegendsten Begriffe gibt, die Feministinnen verwenden. Genderkritische Feministinnen gehen davon aus, dass eine «Frau» ein erwachsener weiblicher Mensch ist, während viele unserer Gegnerinnen und Gegner anderer Meinung sind und finden, dass eine «Frau» jede Person sei, die sich selbst für eine solche halte. Wollte ich diese gegnerische Ansicht mit unserer Sprache ausdrücken, würde ich sagen, dass eine Frau für sie «eine Person beiderlei Geschlechts ist, die sich selbst als Frau bezeichnet», aber das würde die Sache zu unseren Gunsten verzerren, denn unsere Gegnerinnen und Gegner sind zumeist Geschlechtsleugner. Sie denken, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt oder eine Vorstellung sei, «Punkte in einem mehrdimensionalen Raum» oder gar ein «enormes, unendlich formbares Kontinuum». Wenn das (biologische) Geschlecht (englisch «sex») ausgeräumt ist, bleibt nur noch «Gender» (deutsch «soziales Geschlecht») übrig, was nun allerdings nicht so verstanden wird, wie es Feministinnen zuerst konzipiert hatten – einst waren damit «Geschlechterrollen» gemeint –, sondern vielmehr als Identität neu entworfen wird. «Frau», «Mann» und «nichtbinär» sind nunmehr Arten und Weisen, wie Menschen sich selbst empfinden, gleichauf mit anderen Identitätsmarkern wie Nationalität («Schweizerin»), Ethnizität/Kultur («Perser»), Verwandtschaft («Mutter»), Beruf («Journalistin») und mehr.

Minoritäre Anerkennungskämpfe

1992 nannte der Philosoph Charles Taylor in seinem Essay «The Politics of Recognition» (Die Politik der Anerkennung) Identität «das Verständnis einer Person darüber, wer sie ist, über ihre grundlegenden, definierenden Eigenschaften als menschliches Wesen». Ein wichtiger Gedanke war damals, dass Identität soziale Anerkennung voraussetze, dass «eine Person oder eine Gruppe an Menschen» also «wirklichen Schaden erleiden kann, eine wirkliche Verzerrung erlebt, wenn die Menschen oder die Gesellschaft um sie herum ihnen ein beschränkendes oder erniedrigendes oder verächtliches Bild von sich selbst widerspiegelt», und dass die Nichtanerkennung «Schaden zufügen» und «eine Form der Unterdrückung» sein könne. Wenn «Geschlechtsidentität» ein neuer Identitätsaspekt ist und Identität soziale Anerkennung erfordert, weil Nichtanerkennung Schaden anrichten oder unterdrücken kann, wäre die Verweigerung der Anerkennung der «Geschlechts­identität» einer Person moralisches Unrecht. Demnach scheint es eine einfache Erklärung dafür zu geben, warum es so heftige moralische Reaktionen auf das Engagement genderkritischer Feministinnen gibt.

Wenn genderkritische Feministinnen recht damit haben, dass Geschlecht zählt, dann spielt auch das Geschlecht jener Menschen eine Rolle, die von «Geschlechtsidentitäten» sprechen. Hierdurch entsteht eine Spannung zwischen der Art und Weise, wie genderkritische Feministinnen Transfrauen kategorisieren, nämlich nach deren Geschlecht und der Art und Weise, wie viele Transfrauen sich selbst kategorisieren – entlang ihrer gefühlten Geschlechtsidentität als «Frauen». Diese Spannung wird zu einem Interessenkonflikt, wenn es um bislang geschlechtergetrennte Räume und Angebote geht. Wenn diese weiterhin nach Geschlecht sortiert werden, werden Transmenschen ausgeschlossen; werden sie nach Geschlechtsidentität neu verteilt, gibt es jedoch keine geschlechtsspezifischen Räume und Angebote mehr. Verdienen Geschlechtsidentitäten also Anerkennung? Und noch wichtiger: Gebührt ihnen nur deshalb Anerkennung, weil sie geschlechtliche Kategorien wie Männer und Frauen ablösen?

Gegen identitären Artenschutz

Nur weil etwas als ein Aspekt der «Identität» bezeichnet wird, heisst dies noch nicht, dass dieser unangreifbar ist. Nationale Identität beispielsweise wird von Kosmopoliten heftig kritisiert, da sie der Meinung sind, dass sie eine Form der Parteilichkeit gegenüber Mitbürgern befördere, die zur Rechtfertigung einer wenig mitfühlenden nationalen Einwanderungspolitik verwendet werden könne. Identitäten können sich auch ändern: Dies zu leugnen, wäre eine unangemessene Beschränkung der Autonomie der Person und ihrer Möglichkeiten. Manche Identitäten weisen zudem Wahrheitsbedingungen auf: Jemand, der sich als Schriftsteller identifiziert, in seinem Leben jedoch kein einziges Wort geschrieben hat, macht wahrscheinlich einen Fehler. Wenn es schon im allgemeinen Probleme mit Aspekten der Identität geben kann, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass «Geschlechtsidentität» im besonderen frei von solchen wäre.

Und tatsächlich ist dies genau das, was genderkritische Feministinnen behaupten. «Geschlechtsidentität» ist kein neuer Aspekt der Identität, sondern die Aneignung eines bestehenden Konzepts – Gender –, das für den Feminismus einst entscheidend war. «Gender» war einmal ein Begriff für all jene sozialen und kulturellen Praktiken, die einem Individuum auf Grundlage des Geschlechts auferlegt wurden und die Frauen dazu zwangen, sich auf bestimmte Weise zu sehen und zu verhalten: Gender ist das, was weibliche Menschen feminin macht oder dies zumindest versucht. Dieses Konzept ist für den Feminismus unverzichtbar.

Allerdings haben Teile des Feminismus den moralischen Bankrott erklärt und biedern sich dem Transaktivismus an, in dessen Namen sie bisweilen aktiv gegen diejenigen vorgehen, die sich dem Trend zur Umdefinition des Begriffs «Gender» widersetzen. Im alten Verständnis hatte «Gender» nichts mit Identität zu tun. Gemäss der neuen Definition hingegen soll es dabei zur Gänze um Identität gehen. Ob man den Konflikt zwischen genderkritischen Feministinnen und anderen Feministinnen nachvollziehen kann, hängt auch davon ab, ob man versteht, was bei diesem begrifflichen Wandel für Frauen auf dem Spiel steht. Die gesellschaftliche Anerkennung von Frauen – das vorrangige Projekt, das Frauen voll in das öffentliche Leben einbeziehen soll – erfordert die Berücksichtigung ihrer Eigenheiten: ihres Geschlechts sowie der sozialen und kulturellen Bedeutung, die dem Frausein jahrtausendelang zugewiesen wurde. Wenn Frauen heute sagen, dass eine Frau zu sein nichts anderes sei, als weiblichen Geschlechts zu sein, weisen sie damit männliche Vorstellungen zurück, wie sie zu sein haben – und genau das meinte «Gender» einst.

Keine «Anerkennung» einer anderen Gruppe sollte das vorrangige Anliegen der Gleichstellung der Geschlechter beeinträchtigen dürfen – und schon gar nicht, wenn es leicht verfügbare Alternativen gibt. «Geschlechtsidentitäten» können problemlos als selbständige Attribute wie beispielsweise Religion und Ähnliches geschützt werden, statt beharrlich mit Geschlecht vermengt zu werden. Sie getrennt zu schützen, würde die Vorhaben beider Gruppen voranbringen; «Geschlechtsidentität» als Form von Geschlecht zu schützen, schadet hingegen der Gleichstellung der Frauen.

Gleich oder anders?

Taylor fragte, ob der «Universalismus» Hierarchien abschaffe und alle Menschen gleich behandle. Oder ist es der Respekt für die «Differenz» und die jeweilige «Besonderheit», der Minderheitengruppen und Einzelpersonen vor der Assimilierung in die dominante Kultur schützt? Uneinigkeit hierüber führte zu fortwährenden politischen Spannungen: Diejenigen, die der Meinung sind, dass Anerkennung Universalismus voraussetze, sehen in Massnahmen wie «positiver Diskriminierung» eine Verletzung des Grundsatzes, alle Menschen gleich zu behandeln. Diejenigen wiederum, die der Meinung sind, dass Anerkennung die Berücksichtigung von Unterschieden erfordere, erkennen in «Blindheit» gegenüber Unterschieden eine Möglichkeit, um Gleichheit lediglich vorzutäuschen und tatsächlich erforderliche Schritte zu unterlassen. Im Kontext des Multikulturalismus, wo die Unterschiede zwischen Minderheitengruppen oft sofort ins Auge springen, ist Taylors Frage sinnvoll. Was den Feminismus angeht, sind die Dinge allerdings nicht ganz so einfach.

In ihrem 1984 erschienenen Aufsatz «Difference and Dominance: On Sex Discrimination» hatte Catharine MacKinnon argumentiert, dass die für den Feminismus lange sinnstiftende Frage nach der «Gleichheit» und der «Differenz» der Geschlechter einen männlichen Massstab voraussetze. Wem gleicht die Frau? Männern. Von wem unterscheidet sie sich? Von Männern. In beiden Fällen sind Männer der Massstab, an dem sie gemessen werden. MacKinnon forderte uns auf, das ganze Denken von «Gleichheit oder Unterschied» über Bord zu werfen und stattdessen durch ein Denken über Herrschaft zu ersetzen. Die Aufgabe bestehe darin, männliche Dominanz zu hinterfragen und zu verändern. «Nehmt euren Fuss von unserem Nacken», schrieb sie, «gebt den Frauen die gleiche Macht im gesellschaftlichen Leben.»

Meines Erachtens liegt die Bedeutung von MacKinnons Einsicht darin, dass wir uns in bezug auf die Geschlechterdifferenz agnostisch verhalten müssen. Da der Frau so lange die gleiche Macht verweigert wurde, können wir nicht wissen, ob ihre Art zu sein eine Frage ihrer Natur oder eine Frage ihrer sozialen und kulturellen Prägung ist. «Können Sie sich vorstellen, dass man die eine Hälfte der Bevölkerung aufwertet und die andere Hälfte verunglimpft und dabei dennoch eine Bevölkerung hervorbringt, in der alle gleich sind?», fragte MacKinnon. John Stuart Mill hatte bereits 1869 in seiner Schrift «Die Hörigkeit der Frau» einen ähnlichen Punkt gemacht, als er schrieb, dass das, was die «Natur» der Frau genannt würde, eine höchst artifizielle Angelegenheit sei – das Resultat erzwungener Unterdrückung in bestimmte Richtungen und eines unnatürlichen Ansporns, andere Richtungen einzuschlagen. Alles, was wir wissen, ist, dass Männer und Frauen jetzt unterschiedlich sind: Er übt den grössten Teil der Gewalt aus, sie schneidet in den meisten Sportarten schlechter ab. Die «Anerkennung» dieser Unterschiede birgt die Gefahr, sie zu naturalisieren und zu verfestigen. Einige mögen biologisch bedingt sein, so dass sich das vielleicht als gar nicht schlecht herausstellt, aber das wissen wir noch nicht. Das Beste, was wir aus dieser Position der Ungewissheit heraus tun können, ist, eine Reihe instrumenteller oder kontingenter Massnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, die Fähigkeiten und die Möglichkeiten von Frauen zu verbessern. MacKinnons Forderung, Männer sollten die Füsse vom Nacken der Frauen nehmen, bedeutet, dass wir Räume, Dienstleistungen und Angebote schaffen müssen, um die soziale Macht der Frauen zu stärken und auszugleichen. Das ist es, was den Frauensport, die Gesundheitsfürsorge für Frauen und den rechtlichen Schutz von Frauen vor sexueller Diskriminierung rechtfertigt. Taylor war nicht mit Fällen von «Anerkennung» einer marginalisierten Gruppe befasst, die einer anderen die Gleichberechtigung kosten würden.

Ein neuer Name für ein altes Anliegen

In gewissem Sinne ist der genderkritische Feminismus nicht neu. Er ist ein neuer Name für eine alte Form des Feminismus, nämlich für den Radikalfeminismus. Der neue Name schafft einen gewissen Spielraum, um das Bewährte an die gegenwärtigen Gegebenheiten anzupassen und Ideen, die nicht funktionieren, fallenzulassen, ohne von den ursprünglichen Anhängerinnen beschuldigt zu werden, theoretische Fehler zu begehen. In anderer Hinsicht ist genderkritischer Feminismus jedoch grundsätzlich neu, denn er entsteht in der Auseinandersetzung mit einem Mainstream-Feminismus, der das öffentliche Bewusstsein fest im Griff hat – zumindest in der politischen Linken –, und widersetzt sich dem vehement. Genderkritischer Feminismus ist im Gegensatz zu jenem Feminismus, der heutzutage in den meisten Gender-Studies-Kursen gelehrt wird, nicht «queer», er ist nicht «für alle» da und er glaubt auch nicht, dass jeder und jede eine «Geschlechtsidentität» habe. Er lehnt die Behauptung ab, dass eine selbst erfundene «Geschlechtsidentität» irgendetwas mit dem biologischen Geschlecht zu tun habe oder rechtlich wie das biologische Geschlecht geschützt werden sollte. Genderkritischer Feminismus ist mit der sozialen Struktur befasst, die die Entscheidungen einer Frau beeinflussen, und nicht nur mit den Entscheidungen, die sie innerhalb einer solchen Struktur fällt. Genderkritischer Feminismus ist nicht intersektional (oder falls doch, dann höchstens auf eine sehr spezifische, begrenzte Weise). Der wichtigste Punkt ist ohnehin, dass sich genderkritischer Feminismus unapologetisch auf Frauen fokussiert. Weibliche Menschen (die wir mit «Frauen» meinen) sind die grösste Minderheitengruppe auf dem Planeten, und die Gleichstellung der Geschlechter ist noch lange nicht Realität. Genderkritischer Feminismus ist das, was MacKinnon 1983 einen «unveränderten Feminismus» nannte.

»
Gabriela Manser & Sabina Schumacher Heinzer, fotografiert von Daniel Jung
«Wir müssen Vorbilder sein für die jungen Frauen»

Zwei Chefinnen von Schweizer Familienunternehmen geben Auskunft über Frauenkarrieren im Jahr 2021. Dabei geht es um Ausbildungswege, militärische Ausdrucksweisen und weibliche Führungsqualitäten.

Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!