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«Die Ukraine ist nicht die letzte Front»
Garri Kasparow. Bild: Alberto Cristofari/Contrasto/Laif.

«Die Ukraine ist nicht die letzte Front»

Der einfache Sieg im Kalten Krieg habe den Westen blind für die Gefährlichkeit von Putin gemacht, sagt der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow. Nun sieht er das Ende des russischen Präsidenten nahen.

Herr Kasparow, Sie sind seit langem als Kritiker der russischen Regierung bekannt und haben Russland vor zehn Jahren verlassen. Was ist Ihre Prognose bezüglich der russischen Invasion in der Ukraine?

Es geht nicht um das Ende des Krieges, da ich davon ausgehe, dass die Ukraine gewinnen wird. Entscheidend sind das Timing und die Kosten. Ich denke, dass der Krieg bald zu Ende sein wird, weil der Westen genügend Ressourcen in die Ukraine fliessen liess, die ihr den Triumph bescheren werden. Sieht man sich die Kriegslogistik genauer an, zeigt sich, dass fast jeder Tag zugunsten der Ukraine ausfällt. Ausserdem ist das Land nicht so klein wie Georgien, in das Russland 2008 einfiel – es ist vielmehr gross, und es hat genügend Männer und Frauen, die zum Kämpfen bereit sind. Soldaten und Soldatinnen werden der Ukraine nicht ausgehen, und ihre Moral ist sehr hoch. Das Land verfügt zudem über die stärkste Armee Europas und über hochentwickelte Waffen.

 

Wie schätzen Sie die Wirksamkeit der westlichen Sanktionen ein?

Russland wird den Sanktionen nicht lange standhalten. Ausserdem ist die moralische Verfassung des Landes völlig im Argen – viele Bürger versuchen, auszureisen. Hinzu kommen Anzeichen eines zerfallenden Staates. Der Umstand, dass es in Russland Privatarmeen gibt – angeführt von Prigoschin oder von Kadyrow –, zeigt, dass das ganze System bröckelt.

 

Was heisst das für die Zukunft von Wladimir Putin?

Er hat keine Zukunft, denn der Sieg der Ukraine wird unweigerlich bedeuten, dass Russland ins nächste Stadium übergehen wird. Und mein Geschichtsverständnis sagt mir, dass ein Diktator, der einen Krieg verliert, nicht mehr lange waltet. Wie sich dieses Kapitel konkret gestalten wird, darüber können sich andere den Kopf zerbrechen. Was mich besorgt, ist die Frage, ob der Westen derweil eine kohärente Strategie entwickeln kann, um diesen Wandel einzuleiten.

 

Wie könnte dies aussehen?

Die Sanktionen müssen so lange aufrechterhalten bleiben, bis Reparationen bezahlt und die Verantwortlichen juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Sollte der Westen darin erfolgreich sein, werden wir auch in der russischen Elite Entsolidarisierungen beobachten können, denn bei vielen Gouverneuren und Bürokraten, die zugleich Schurken und Diebe sind, handelt es sich tatsächlich um Kriegsverbrecher. Das wird Individuen wie Michail Chodorkowski oder mir die Gelegenheit geben, mit all denjenigen ins Gespräch zu kommen, die nach politischen Alternativen Ausschau halten.

 

Welche Rolle spielt die Schweiz hierbei?

Ich weiss nicht, wie viel russisches Geld hier lagert, und hoffe, dass die Schweiz in die Koalition derjenigen einsteigt, die sicherstellen werden, dass keine westlichen Bankkonten Putins Krieg finanzieren werden. Eine der grossen Fragen, über die gerade nachgedacht wird, ist, ob man vom Einfrieren von Geldern zum Einfrieren von Fonds übergehen kann. Die EU und die USA sind hier unterschiedlicher Meinung: Die Europäer setzen auf Kriegsverbrechen und Genozid als Argumente, die Amerikaner hingegen suchen nach Kriegsnotwendigkeiten. Ich denke, dass hier politischer Wille demonstriert werden sollte, um der Ukraine dieses Geld zukommen zu lassen. Für den Krieg sollten weder Steuerzahler aus der EU noch aus der Schweiz aufkommen, sondern Russen.

«Für den Krieg sollten weder Steuerzahler aus der EU noch aus der Schweiz aufkommen, sondern Russen.»

Denken Sie, dass westliche Politiker und Intellektuelle angemessen auf diese Krise reagieren?

In der Vergangenheit sind zu viele Fehler gemacht worden, und ich will jetzt nicht «Ich hab’s euch gesagt!» rufen, obwohl genau das der Fall war. Wir müssen uns nun der Zukunft zuwenden und begreifen, dass die Ukraine keineswegs die letzte Front ist. Dort wird eine sehr wichtige Schlacht geführt, die Massstäbe setzen wird. Ausserdem gibt es noch immer so viele Länder, in denen die eigene Bevölkerung unterdrückt wird – allen voran China. Der ukrainische Sieg wird Freiheitskämpfern überall auf der Welt einen Schub geben, von Nordkorea bis Venezuela, von Weissrussland bis Simbabwe. In einer globalisierten Welt kann man die Freiheit nicht im eigenen Land verteidigen und zugleich denselben Kampf überall sonst ignorieren. Alles ist miteinander verbunden.

 

Haben Sie ein Beispiel hierfür?

Es ist kein Zufall, dass die aggressivsten Trump-Anhänger in den USA Putin direkt oder indirekt unterstützen. Auch an den politischen Rändern zeigt sich dies: In Deutschland sympathisieren etwa Die Linke und die AfD mit Putin. Im Ukrainekonflikt geht es um Freiheit gegen Tyrannei, und wir sollten begreifen, dass viele lokale Unterschiede weit weniger wichtig sind als unsere Einheit, mit der wir dem gemeinsamen Feind entgegentreten.

 

Warum hat der Westen dieses Problem so lange ignoriert?

Aus Gier und Naivität. Die Ignoranz ist eine Folge des einfachen Sieges, der am Ende des Kalten Krieges stand. Dieser Sieg wirkte lediglich deshalb einfach, weil der Ostblock plötzlich kollabiert war. Anschliessend suggerierten die Ereignisse von 1989 bis 1991, dass die schlechten Zeiten schlichtweg der Vergangenheit angehörten. Über ihre etwaige Rückkehr wollte niemand nachdenken, obwohl Putin seine Absichten recht offen demonstrierte. Die dominante Geisteshaltung im Westen war, dass der Markt immer über Diktaturen triumphieren werde.

 

Wieso sind Sie eigentlich kroatischer Staatsbürger geworden?

Das war eine recht einfache Wahl. Ich wusste, dass mein Reisepass nicht mehr lange gültig sein würde, nachdem ich Russland verlassen hatte. Kroatien war ein Land, dessen Unabhängigkeit ich früh unterstützt und das ich seit den frühen 1990er-Jahren oft besucht hatte. Im Bürgerkrieg spielte ich dort aus Wohltätigkeitsgründen unentgeltlich Schach. 2014 bat ich dann die kroatische Regierung um Hilfe, und der damalige Premierminister Zoran Milanović stellte meiner Ehefrau und mir Pässe aus. Wir haben nun eine Bleibe in Kroatien und verbringen jeweils den Sommer dort. Ich bin in Baku geboren und aufgewachsen, was den Aufenthalt in einem ähnlichen Klima sehr angenehm macht.

 

Obwohl Sie bereits 1997 von einem Computer in einem Match geschlagen wurden, haben Sie keine Angst vor künstlicher Intelligenz (KI). Wieso nicht?

Weil KI keine Bedrohung ist. Computer sind seit mehr als 20 Jahren besser als Menschen, wenn es um Schach geht. Und wir sollten akzeptieren, dass Maschinen manches einfach besser können als wir. Das bedeutet nicht, dass wir auf Arbeit mit ihnen verzichten sollten, zumal diese zu sehr interessanten Entdeckungen und Durchbrüchen führt. Ausserdem werden Menschen nicht aufhören, miteinander Schach zu spielen, nur weil Computer als herausforderndere Gegner zur Verfügung stehen. Ich schaue mir Spiele nach wie vor gerne an. Und für diese braucht es ­keinen erläuternden Livekommentator mehr, weil der Computer alles einschätzt – man kann sich einfach zurücklehnen und einen Match geniessen.

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