Die Ukraine bleibt instabil
Viele Beobachter verstehen den Ausgang der Präsidentenwahlen in der Ukraine als Sieg der Demokratie über jene Machthaber, die sich am Staatseigentum persönlich bereichert hatten. Im folgenden Beitrag wird die politische und ökonomische Bedeutung des Machtwechsels relativiert und im Hinblick auf mögliche Entwicklungen kritisch analysiert.
Als die Ukraine 1991 formal zu einem unabhängigen Staat wurde, war sie nicht bereit, sich von der UdSSR zu trennen. Wäre der Putsch in Moskau nicht misslungen, würde die UdSSR wahrscheinlich noch heute existieren. Davon zeugen die Ergebnisse des Referendums vom März 1991 über die Beibehaltung der Sowjetunion. Damals hatte sich die überwiegende Mehrheit der Ukrainer für den Status quo ausgesprochen. Warum aber war später eine Mehrheit der ukrainisch-kommunistischen Parteimitglieder davon überzeugt, die Ukraine müsse aus dem Verband der UdSSR herausgelöst werden?
Die Reformen von Gorbatschow, die seit 1987 umgesetzt wurden, hatten ein interessantes Phänomen möglich gemacht, nämlich den legalisierten Diebstahl von Staatseigentum. Die Leiter der staatlichen Betriebe und die verantwortlichen staatlichen Beamten bekamen die Möglichkeit, sich das Staatseigentum praktisch «legal» privat anzueignen. Dies führte zu einer Wirtschaftskrise und zu einer tiefgreifenden Verschlechterung des allgemeinen Lebensstandards. Gleichzeitig entstanden neue, mächtige politische Gruppierungen. Im Rahmen der von Gorbatschow initiierten Politik der Öffnung (Glasnost und Perestroika) wurde die Propagierung nationaler und liberalen Ideen zugelassen.
1991 sassen aber im ukrainischen Parlament nur wenige Nationalpatrio-ten. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten bestand aus ehemaligen Kommunisten und Wirtschaftsfunktionären. Weil es in der Ukraine keine eindeutige Reaktion auf den Moskauer Putschversuch von 1991 gab, standen die Machthaber vor einer wichtigen Entscheidung. Da klar war, dass nach einem Putsch die Schuldigen gesucht und bestraft würden, mussten sie entweder für die volle Separation von der UdSSR stimmen oder selbst Verantwortung übernehmen. Diese Situation wurde durch besagte Wirtschaftskrise noch verschärft. Trotz Mangel an Konsumgütern zeigten die Statistiken, dass das Potential für die Güterproduktion pro Kopf in der Ukraine dem Niveau hochentwickelter Länder Europas entsprach. Dies lieferte dann das ökonomische Argument für die Unabhängigkeit. Nationalpatrioten, die von der Mehrheit der kommunistischen Partei unterstützt wurden, versprachen im Falle der Loslösung von der UdSSR eine umfassende Verbesserung des Lebensstandards. Anfangs der 90er Jahre sprach niemand davon, dass etwa die Hälfte der Wirtschaft der Ukraine mehr oder weniger nah mit dem russischen «militärisch-industriellen Komplex» verbunden war. Wegen dieser engen Verbindung der ukrainischen Rüstungsindustrie mit Betrieben in anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion, gelangte diese Industrie, wie auch die gesamte übrige Wirtschaft, in eine schwere Krise. Bei der Abstimmung über die Unabhängigkeit wurde die Bevölkerung auch nicht darüber informiert, dass die neue Parteiführung vorhatte, die politische Ausrichtung des Staates grundlegend zu ändern.
Das Referendum, das am 1. Dezember 1991 zu Bildung der unabhängigen Ukraine führte, zeigte auf, dass der staatliche Apparat und seine Propagandamaschine nach dem Putsch für eine Abspaltung der Ukraine von der UdSSR gearbeitet hatten. Zu diesem Schluss kommt man, weil es unter normalen Bedingungen für die überwiegende Mehrheit der Bürger kaum möglich gewesen wäre, innerhalb von drei Monaten die Meinung zu wechseln. Das bedeutet, dass 1991 erstmals in der Ukraine die politische Technik der Regierungspropaganda zu einem politischen Wandel führte. Nach Erlangen der Unabhängigkeit setzten die neuen Machthaber, die sich aus der alten kommunistischen Partei und den neuen Wirtschaftsführern rekrutierten, die Einführung von Marktmechanismen ohne regulative und institutionelle Basis fort. Diese Politik führte zu einer eigentlichen Ausplünderung des Landes.
Das Jahrzehnt der Regierung unter Präsident Kutschma war durch eine Umverteilung des Eigentums und eine neue Akkumulation des Kapitals charakterisiert. Zu den Verdiensten von Kutschma kann die Zulassung der relativ schnellen Entwicklung eines neuen Business-Sektors gerechnet werden. Er hat auch zur Vermeidung von Krisen beigetragen und die Erhaltung von wissenschaftsintensiven Betrieben und der Rüstungsindustrie ermöglicht. Zu kritisieren ist die Unterdrückung der politischen Konkurrenten und die Privilegienwirtschaft, durch die seine eigenen Anhänger und Verwandten private Vermögen anhäuften. Als Folge dieser Politik entstanden jedoch mächtige Konzerne, die mit den multinationalen Konzernen weltweit erfolgreich konkurrieren konnten – auf diese Weise wurde die Ökonomie der Ukraine fast vollständig auf Marktwirtschaft umgestellt.
Warum aber wurde das Land im letzten Jahrzehnt weder von der EU noch von den USA als gleichberechtigter Wirtschaftspartner akzeptiert? Die Indus-trie der Ukraine basiert nicht auf ausländischen Investitionen. Sie wird daher in bestimmten Bereichen, wie Metallverarbeitung, Flugzeugbau und anderen technologieintensiven Produktionssektoren, als Konkurrenz wahrgenommen. Unseres Erachtens liegt hier das Hauptproblem. Man wollte und will den unliebsamen Konkurrenten von der Welthandelsorganisation und von der EU so lange wie möglich fernhalten. Das Diskriminierungsregime im Handel mit der Ukraine schützt die eigene Industrie. In der EU ist man sich bewusst, dass im Falle des Beitritts der Ukraine in bestimmten Industrien, die eine strategische Bedeutung für die Wirtschaft haben und die Grundlage der nationalen Sicherheit bilden, eine ernsthafte Konkurrenz entsteht. Auch im Bereich der Landwirtschaft würde die Öffnung gegenüber der Ukraine das derzeitige regulierte Preisgefüge ins Wanken bringen. Hier liegen die wahren Gründe für die Zurückhaltung der EU und der USA gegenüber der Ukraine.
Die «orange Revolution» des Jahres 2004 hat eine längere Vorgeschichte. Seit Anfang der neunziger Jahre entstanden in der Ukraine Stiftungen, die sich für die Unterstützung von Reformen und für mehr Demokratie einsetzen sollten. Der Zweck dieser Stiftungen war nicht nur die permanente Kritik an der ukrainischen Regierung, sondern die Bildung einer finanziellen Basis für eine schlagkräftige Opposition. Im Dezember 1999 war der Vorsitzende der ukrainischen Nationalbank, Wiktor Juschtschenko, (unter dem Druck der USA) zum Premierminister ernannt worden.
Das wirtschaftliche Wachstum hatte aber schon Mitte des Jahres 1999 begonnen. Der neuernannte Premier setzte diesen Prozess fort. Es gelang ihm schliesslich, das Wirtschaftswachstum als Erfolg seiner Politik hinzustellen, was aber nach Einschätzungen massgebender Ökonomen nicht zutrifft. Die Stabilisierung des Budgets und die Auszahlung der Löhne und Sozialleistungen sind allerdings sein Verdienst, und dies hat zu seiner Popularität bei den ärmeren Bevölkerungsschichten beigetragen. Nach dem Misstrauensantrag im April 2001 soll Juschtschenko zu Journalisten gesagt haben: «Ich gehe weg, um zurückzukehren». Er begann damals, mit Unterstützung grosser Teile seines Kabinetts, der Nationalpatrioten, einiger Geschäftsleute, sowie dank Förderung aus dem Ausland, den Kampf um die Präsidentschaft.
Sein Wahlkampf war auf die Tatsache abgestimmt, dass einem Wirtschaftswachstum von 12 Prozent zum Trotz keine Zunahme des allgemeinen Wohlstands resultierte. Obwohl es also der Wirtschaft jährlich besser ging, lebte die Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor in ärmlichen Verhältnissen. Für viele Menschen ist noch heute keine Verbesserung spürbar. Juschtschenkos Erfolg basiert auf seinen populistischen Versprechungen rascher Abhilfe, propagiert getreu dem Diktum Lenins «Alles ist moralisch, was für die Revolution gut ist». Juschtschenko reklamierte für sich Anstand und Ehrlichkeit, während er alle Gegner, die ihn nicht wählten, pauschal als Banditen diffamierte. Wurde er von der Gegenseite auf kritische Punkte in den Biographien seiner Anhänger hingewiesen, wurde dies als unzumutbare Provokation abgetan.
Ein Kernpunkt seiner Kampagne lag im Versprechen, das hohe Wirtschaftswachstum beizubehalten, gleichzeitig aber auch endlich den Lebensstandard aller anzuheben. Wie seinerzeit die Kommunisten bei ihrer Machtübernahme, versprach auch er eine gerechtere Verteilung des Eigentums. Die Mittelbeschaffung soll über die sogenannte «Reprivatisierung» erfolgen: nachträglich soll jetzt jene Differenz eingefordert werden, um die im Rahmen der ersten Privatisierungen die Unternehmungen unter ihrem Marktpreis verkauft worden waren. So will die Regierung die Ausgaben bestreiten und ihre Versprechungen einlösen. Der Wiederverkauf der Betriebe zum jeweils höchstmöglichen Preis wird aber in vielen Fällen zu einer Übernahme durch ausländische Investoren führen. Welche Folgen dies für die ukrainische Wirtschaft hat, ist schwer abzuschätzen.
Verschiedene Wahlversprechen sind schon bei der Bildung der neuen Regierung nicht eingelöst worden. Kein Mitglied vertritt die Interessen jener grossen Bevölkerungskreise, die eine engere Zusammenarbeit mit Russland und den GUS-Ländern anstreben. Die wichtigsten Ämter wurden mit Leuten besetzt, die eine Mitgliedschaft in der EU und Nato in den Vordergrund stellen. Eine Mitgliedschaft in der EU wird von einer Bevölkerungsmehrheit gutgeheissen, weil sie sich davon höhere Löhne und Freizügigkeit im ganzen EU-Raum verspricht, während eine Nato-Mitgliedschaft von höchstens 20 bis 30 Prozent gewünscht wird. Es sind Hoffungen und Erwartungen, deren Erfüllung in nächster Zeit relativ unwahrscheinlich ist; von daher könnte sich eine Vernachlässigung der Wirtschaftskontakte mit Russland bald einmal als Fehler herausstellen. Eine beidseits isolierte Ukraine dürfte grosse Mühe haben, das Wirtschaftswachstum auf hohem Niveau zu stabilisieren.
Die «orange Revolution» wurde zum Erfolg, weil sie auf die Stimmung in der Bevölkerung reagierte und die Regierung Kutschma ihr kein überzeugendes Reformkonzept entgegenzustellen wusste. Ob die Ukrainer jetzt endlich zu Recht auf ein besseres Leben hoffen dürfen, bleibt offen. Die siegreiche Opposition hat weder die Zeit noch die Mittel, um das Land von Grund auf neu aufzubauen. Wohl oder übel muss sie das verbessern, was sie übernommen hat. Wenn die Ukrainer bis zum Herbst dieses Jahres noch keine markante Verbesserung spüren sollten, ist es möglich, dass die Parlamentswahlen 2006 von der alten Garde in der neuen Opposition gewonnen werden. Dies würde wieder eine Kehrtwendung in der geopolitischen Ausrichtung zur Folge haben und Entwicklungsperspektiven eröffnen, die zwar im Widerspruch zur aktuellen Option stehen, aber historisch tief verankert sind.
Irina Bürki, geboren 1975, studierte Betriebswissenschaften (MBA) an der Kiewer Wirtschaftsuniversität. Momentan arbeitet sie als Doktorandin an der Universität St. Gallen.
Vsevolod Stepanyuk, geboren 1965, studierte Wirtschaftsmathematik an der Kiewer Staatsuniversität. Momentan arbeitet er als Doktorand an der Akademie der Wissenschaften der Ukraine, ebenfalls in Kiew.