Die Tyrannei der Beleidigten: Die allgemeine Überempfindlichkeit ist peinlich und gefährdet die Meinungsfreiheit
Politiker, aber auch Privatpersonen beantworten Kritik zunehmend mit Anzeigen. Doch eine Beleidigung wird erst dadurch wirksam, dass wir auf sie reagieren.
In den 1970er-Jahren gab es einen Jungen mit stark schielenden Augen. Die anderen Kinder machten sich über ihn lustig, nannten ihn «Schielepeter» und ähnliche Namen. Doch er liess sich nicht beirren. Als eine Lehrerin ihn fragte, ob ihn die Hänseleien nicht verletzten, antwortete er gelassen: «Wieso denn? Ich schiele ja tatsächlich.» Die Lehrerin war verblüfft: «Aber das ist doch beleidigend!» Er entgegnete: «Warum? Es entspricht doch der Wahrheit.»
Nach drei Operationen schiele ich weniger auffällig, aber noch sichtbar. Damals kannte ich die stoische Philosophie nicht, doch mein Umgang mit Beleidigungen war bereits stoisch. Epiktet sagte: «Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge.» Diese Weisheit begleitet mich bis heute.
Bei vielen Menschen scheint diese Gelassenheit verloren. Sie sind schnell beleidigt; man darf kaum etwas sagen, ohne jemanden zu kränken. Zum Beispiel die deutschen Minister Robert Habeck und Annalena Baerbock: Sie reagieren auf Beleidigungen häufig mit Strafanzeigen – Habeck mit über 800, Baerbock mit über 500. Dieser Bestrafungsfuror wegen «Majestätsbeleidigung» erinnert an das Verhalten von Autokraten.
Doch auch in der Schweiz werden wegen Beschimpfungen fleissig Anzeigen erstattet: über 12 000 pro Jahr. Das ist eine Zunahme von 64 Prozent in zehn Jahren. Die Schweizer, einst für ihre stoische Ruhe bekannt, werden zu Mimosen. Als kantonaler Parlamentarier erlebe ich das selbst. Ab und zu bin ich Beleidigungen ausgesetzt – ich erhalte aber auch Lob. So ist es halt: Wer sich exponiert, regt die einen auf und erfreut die anderen.
«In der Schweiz werden wegen Beschimpfungen fleissig Anzeigen
erstattet: über 12 000 pro Jahr. Das ist eine Zunahme von 64 Prozent in zehn Jahren. Die Schweizer, einst für ihre stoische Ruhe bekannt, werden zu Mimosen.»
Beleidigt doch mal einen Kaktus!
Betrachten wir Beleidigungen genauer. Sagt jemand «Du bist übergewichtig», gibt es zwei Möglichkeiten. Stimmt es nicht – warum sich beleidigt fühlen? Stimmt es aber, handelt es sich um eine Feststellung, die vielleicht unhöflich ist, aber wahr. Marcus Aurelius sagte: «Wenn dich jemand über deine Fehler belehrt, sei nicht ungehalten; ist es wahr, verbessere dich; ist es nicht wahr, lache darüber.»
Eine Beleidigung wird erst zur Beleidigung, wenn wir sie als solche empfinden. Wenn meine Kinder sich über eine Beleidigung eines anderen Kindes empörten, sagte ich: «Beleidigt doch mal unseren Kaktus!» Sie sagten: «Er reagiert ja nicht.» Genau! Die Macht der Beleidigung liegt in unserer Reaktion.
Im Sport, etwa beim Eishockey, gibt es «Trash Talk»: Spieler versuchen, den Gegner mit Worten zu irritieren. Nur wer darauf eingeht, verliert den Fokus. Der Stoizismus lehrt, dass wir nur unsere Reaktionen kontrollieren können; alles andere liegt ausserhalb unseres Einflusses.
Es ist erstaunlich, wie viel Energie verschwendet wird, weil Menschen sich beleidigt fühlen. Emotionen kochen hoch, der Fokus geht verloren. Wir haben die Wahl: Lassen wir uns beeinflussen oder bleiben wir gelassen? Eine Beleidigung wird erst zu einer solchen, wenn sich auch jemand beleidigt fühlt.
Ausdruck von Narzissmus und Egozentrik
Wer in der Öffentlichkeit steht, muss Kritik und Spott ertragen. Der Trend zur Überempfindlichkeit ist peinlich und gefährdet die Meinungsfreiheit. Wenn Politiker – und alle anderen – nicht mit Kritik umgehen können, sind wir als Gesellschaft auf dem falschen Weg. Ständiges Beleidigtsein zeigt, dass man sich für den Nabel der Welt hält – ein Ausdruck von Narzissmus und Egozentrik, der dem Zusammenleben schadet.
«Ständiges Beleidigt sein zeigt, dass man sich für den Nabel
der Welt hält – ein Ausdruck von Narzissmus und Egozentrik,
der dem Zusammenleben schadet.»
Erinnern wir uns an die Weisheit der Stoiker: Wir entscheiden, wie wir reagieren. Eine Beleidigung hat nur die Macht, die wir ihr geben. Bleiben wir souverän, konzentrieren wir uns auf das Wesentliche und lassen wir spitze Bemerkungen nicht an uns heran. Setzen wir ein Zeichen gegen Überempfindlichkeit und für ein respektvolles Miteinander. Die Macht liegt nicht in den Worten anderer, sondern in unserer Haltung. Lassen wir Narzissmus und Egozentrik hinter uns und arbeiten wir gemeinsam an einer offenen, gelassenen Gesellschaft.