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«Die Tories sind heute linker als Labour unter Blair»
Ed West, fotografiert von Lukas Leuzinger.

«Die Tories sind heute linker als Labour unter Blair»

Die Konservativen haben den Kampf um die Deutungshoheit verloren, sagt der britische Publizist Ed West. Er sorgt sich über den Verfall traditioneller Religion – und bleibt doch optimistisch.

Read the English version here.

 

Herr West, in Ihrem Buch «Small Men on the Wrong Side of History» vergleichen Sie den gegenwärtigen Kulturkampf zwischen Konservativen und Progressiven in westlichen Demokratien mit der Reformation. Inwiefern gleichen sich diese Epochen?

Ab den 1520er-Jahren begann ein grosser kultureller Wandel. Die bestehenden Annahmen und Strukturen in ganz Europa wurden fundamental in Frage gestellt, der Einfluss der katholischen Kirche wurde zurückgedrängt. Einen ähnlich tiefgreifenden kulturellen Wandel erleben wir nun seit den 1960ern erneut. Ich glaube, dass der Kern des gegenwärtigen Kulturkampfes das Menschenbild ist. Im christlichen Weltbild ist klar, dass der Mensch mit der Fähigkeit zum Bösen geboren wird. Im frühen 20. Jahrhundert vertraten auch Linke wie der Philosoph Bertrand Russell noch diese Ansicht. Die progressive Weltanschauung der Ära nach 1960 dagegen lehnt das Bild des Menschen, der das Potenzial zum Bösen hat, ab. Ihre Anhänger glauben, dass der Mensch von Natur aus ein gutes Geschöpf sei. Sämtliche Varianten linker Politik basieren heute auf der Vorstellung, dass soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft wurzeln muss – also «strukturell» ist –, weil das Individuum an sich gut ist.

 

Warum begann dieser Wandel im Menschenbild in den 1960er-Jahren?

Diese Vorstellung gab es schon vorher bei einigen Intellektuellen. Aber in den 1960er-Jahren haben sich progressive Ansichten unter den Eliten sowie an den Universitäten viel stärker verbreitet. Zunächst wurde sie indes nur von einer geringen Zahl von Menschen vertreten. Hier gibt es wieder Ähnlichkeiten zur Reformation in England: Auch sie begann mit einer kleinen Zahl von einflussreichen Sympathisanten in den Universitätsstädten Cambridge und Oxford sowie unter den intellektuellen Eliten in London, die dann eine kritische Masse erreichten, um die Obrigkeit zu überzeugen. Der Katholizismus war in der Mehrheitsbevölkerung noch lange Zeit populär, obwohl er verboten war. Shakespeare sympathisierte offensichtlich noch mit dem Katholizismus, obwohl er offiziell die proprotestantische Propaganda mittragen musste.

 

Glauben Sie, dass auch viele ­erklärte Progressive heute ein ­solches Doppelspiel betreiben?

Ja. Viele Kulturschaffende, die ich persönlich kenne, sind insgeheim viel konservativer, als sie vorgeben, aber sie können sich der herrschenden Kultur nicht widersetzen. In den 1960er-Jahren und danach gab es unter den Eliten ein gewisses Gleichgewicht zwischen Konservativen und Progressiven. Aber seit den 2010er-Jahren ist das nicht mehr der Fall. Es gibt Institutionen, in denen es faktisch nicht mehr möglich ist, konservativ zu sein.

«Viele Kulturschaffende, die ich persönlich kenne, sind insgeheim
viel konservativer, als sie vorgeben, aber sie können sich der
herrschenden Kultur nicht widersetzen.»

 

Ist Ihre Sichtweise nicht etwas voreingenommen? Weisse, männliche Konservative wie Sie haben in der Vergangenheit viel Macht gehabt – jetzt verlieren sie etwas von dieser Macht.

Natürlich, niemand will seine Macht abgeben. Obwohl die Leute, an die ich Macht verliere, immer noch Weisse der oberen Mittelschicht sind – sie vertreten bloss eine andere Weltanschauung. Wir können den Wandel in der Politik nicht ohne die wirtschaftlichen Veränderungen seit den 1960er-Jahren verstehen, mit der Deindustrialisierung und dem wachsenden Anteil der Frauen an der Erwerbsbevölkerung. Die grössten wirtschaftlichen Gewinner der letzten Jahrzehnte waren die Frauen der Oberschicht, und die grössten Verlierer waren die Männer der Arbeiterklasse. Es sind genau diese beiden Gruppen, die sich auf beiden Seiten des politischen Spektrums am stärksten radikalisieren.

 

Erklären die wirtschaftlichen Veränderungen auch, warum die jungen Generationen im Gegensatz zu den früheren nicht konservativer werden, wenn sie älter werden?

Das gilt nicht nur für die jüngsten Generationen. In den aktuellsten Umfragen in Grossbritannien wählen weniger als zehn Prozent der unter 40-Jährigen die Konservativen. Und das hat nicht nur mit dem Brexit oder mit wirtschaftlichen Gründen zu tun, sondern wesentlich mit kulturellen. Jüngere Menschen glauben nicht einfach, dass die Tories sie ärmer machen – sie halten sie für schlechte Menschen.

«Jüngere Menschen glauben nicht einfach, dass die Tories sie ärmer
machen – sie halten sie für schlechte Menschen.»

 

Trotzdem: Die Tories sind nun schon seit über einem Jahrzehnt an der Macht. Sie haben Grossbritannien aus der EU geführt. Wie können Sie behaupten, die Konservativen seien am ­Verlieren?

Wenn wir das konkrete politische Programm und die Tonalität betrachten, ist die Konservative Partei heute nicht nur viel linker als die Konservativen im Jahr 2005, sondern auch als die Labour-Partei zu dieser Zeit. Viele der Labour-Positionen zu Kriminalität oder Einwanderung, ganz zu schweigen von der Gender-Politik, waren unter Tony Blair viel rechter als alles, was die jetzige Regierung tut.

 

Aber Blair war proeuropäisch, während die Tories die letzte Wahl mit dem Versprechen gewonnen haben, den Brexit ­umzusetzen.

Eigentlich ging es beim Brexit nicht wirklich um die EU, sondern um die Einwanderung. Die Tories wurden von der UKIP unter enormen Druck gesetzt, das Brexit-Referendum anzusetzen. Und sie erkannten auch, dass sie viele Labour-Wähler aus der Arbeiterklasse für sich gewinnen konnten, die der Einwanderung skeptisch gegenüberstehen. Diese Wähler stimmten 2016 für den Brexit und wählten 2019 die Konservativen. Aber die Konservative Partei hat sie im Stich gelassen, denn was sie mit dem Brexit erreichen wollten, war etwas ganz anderes.

 

Inwiefern?

Boris Johnson hatte diese globalistische Vision eines Grossbritannien mit weltweiter Ausstrahlung, das Arbeitskräfte von überallher anzieht. Das ist das Gegenteil von dem, was die Wähler wollten, nämlich weniger Einwanderung, wie zahlreiche Umfragen zeigen.

 

Was ist Ihrer Meinung nach die grösste Bedrohung für die westliche Zivilisation? Kommt sie von aussen, aus Russland oder China? Oder eher von innen?

Ich glaube nicht, dass die Zivilisation zusammenbrechen wird. Ich denke, sie wird sich einfach zu etwas Neuem entwickeln.

 

Sie sind also optimistisch?

Ich bin ein Technikoptimist. Die Technologie wird definitiv besser. Sehen Sie sich nur an, wie viel besser die Gesundheitsversorgung in den vergangenen 30 Jahren geworden ist. Natürlich ist der Klimawandel ein wichtiges Pro­blem. Abgesehen davon denke ich, dass die grössten Bedrohungen eher von innen kommen. Eine grosse Herausforderung in den nächsten 30 Jahren wird sein, dass uns die jungen Leute ausgehen. Als wir während der Pandemie darauf warteten, dass die alten Menschen zuerst geimpft werden, wurde mir bewusst, wie viele alte Menschen es eigentlich gibt. Das wird unsere Gesellschaft auch in Zukunft spürbar verändern.

 

Weswegen?

Der Lebensstil eines 20- oder 30-Jährigen in einem städtischen Zentrum in Europa oder Amerika ist in vielerlei Hinsicht viel schlechter als noch vor dreissig Jahren. Die Wohnkosten steigen, die Menschen können sich keine Familie leisten und so weiter. Die Babyboomer sind die glückliche Generation: Sie wuchsen in einer Zeit auf, in der viele junge Menschen nachrückten und für wirtschaftliche Dynamik sowie neue Ideen sorgten. Ohne mehr junge Menschen können wir den heutigen Lebensstil nicht aufrechterhalten. In Grossbritannien haben wir versucht, junge Menschen zu importieren, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Aber das ist ein Schneeballsystem, denn die Einwanderer werden auch älter, und das Verhältnis zwischen Rentnern und Arbeitstätigen wird nicht besser.

 

Es gibt auch keine Anzeichen, dass sich die Geburtenraten ­erholen würden.

Nein. Der Niedergang der Religion ist hier wahrscheinlich der grösste Faktor.

 

In dem Masse, wie die traditionelle Religion schwindet, ­gewinnen andere religiöse Überzeugungen an Boden, ­insbesondere politische Religionen.

Ja, das zeigt sich am deutlichsten in den Vereinigten Staaten. Diese waren lange Zeit viel religiöser als andere westliche Länder. Jedoch gab es in den letzten 20 Jahren einen massiven Rückgang der religiösen Überzeugungen. Zu den Folgen gehören die Opioid-Krise unter den Armen und die politische Radikalisierung unter den Reichen.

 

Glauben Sie, dass Drogensucht und politische Radikalisierung direkte Folgen des Verlusts der Religion sind?

Auf jeden Fall. Dieselben Leute, die sich vor 20 Jahren über die Idee der Transsubstantiation lustig gemacht haben – die christliche Überzeugung, dass sich das Brot in den Körper Jesu verwandelt –, glauben jetzt buchstäblich, dass ein Mann zu einer Frau werden kann. Und sie zeigen die genau gleiche religiöse Wut. Ich denke, Menschen brauchen ein starkes Glaubenssystem, um zu überleben. Gleichzeitig erleben wir in dem Masse, wie die traditionelle Religion schwindet, einen sozialen Zerfall.

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