Die Surrealisten
Sesshaft geblieben am Wanderweg Hamburg-Rom, habe ich mich in diesem Frühsommer wiedereinmal ans südliche Ende der gelb markierten Reiseroute vorgewagt. Als Gast. Doch bevor ich endlich in die (immer wieder ersehnte) Ewige Stadt eintauchte, trat ich, um noch einmal kurz Luft zu holen, zuerst in ein Kunstmuseum und blieb vor einem Selbstporträt Giorgio de Chiricos […]
Sesshaft geblieben am Wanderweg Hamburg-Rom, habe
ich mich in diesem Frühsommer wiedereinmal ans südliche
Ende der gelb markierten Reiseroute vorgewagt. Als
Gast. Doch bevor ich endlich in die (immer wieder ersehnte)
Ewige Stadt eintauchte, trat ich, um noch einmal kurz
Luft zu holen, zuerst in ein Kunstmuseum und blieb vor
einem Selbstporträt Giorgio de Chiricos besonders lange
hängen. Dieses Bild deutet augenzwinkernd an, was dem
hiesigen, vor allem aber einem vom kühleren Norden herab
gekommenen Wanderer vor den Toren des Museums
und rund um die Uhr abverlangt wird, nämlich innerlich
Balance zu halten zwischen schwerstem antiken Gestein
und Geschütz, kunstvollsten Kreuzigungen, abgeblättertem
Putz, kolossalen Benzin- und Dieseldämpfen, arkadischem
Leuchten und dem ständig drohenden Berlusconi-
Putsch. – Um eine latente, ja, eigentlich «ignorante
Heiterkeit» geht es also. In Wirklichkeit und auf dem Bild.
De Chirico hätte vermutlich noch von vornehmer Gelassenheit
gesprochen.
Hergereist war ich mit heimischer Zeitungslektüre
in der Regenmanteltasche, die ich vor lauter Schönwetter
fast zu leeren vergessen hätte. Erst hinter Como, als
die südliche Leichtigkeit schon langsam ihre Finger nach
mir auszustrecken begann, las ich dann doch noch einen
ausführlichen Pressebericht zur Lage der Nation, die
ich eben hinter mir gelassen hatte. Die eidgenössischen
Volkswagenvertreter der Grossen Kammer hatten in einem
ebenso dringlichen wie denkwürdigen Entscheid und mit
eindrücklichem Mehr beschlossen, die jahrzehntelang
ausgegrenzten Boliden und Homoniden der Formel-1 in unserem
Lande endlich wieder willkommen zu heissen. Vor
dem Zugfenster flitzte Monza vorbei, dieses idyllische Örtchen
am Mailänder Stadtrand, das mir an diesem sonnigen
Morgen mit seinen kalkbestreuten Weichen und Geleisen
wie eine herausgeputzte bräutliche Jungfrau erschien,
während auf dem Pressephoto zum parlamentarischen
«Einbürgerungsentscheid» der Polterabend noch immer in
vollem Gange war: drei ausgelassene Aargauer Deputierte
brüllten, beglückwünschten und bekleckerten einander auf
dem Siegertreppchen vor dem Parlament mit Champagner.
So wolle es in dieser «Formel» der Brauch. – Ich riss die
Seite mit den drei Volkskampfpiloten aus dem Zeitungsbund
heraus und schob sie zur Aufbewahrung in meine
Manteltasche zurück: als aargauische Ehrenmeldung. Und
surreales Notfallpapier.
Giorgio de Chirico, der eigentliche Surrealist unter den
vier Herren, hat sein Selbstporträt schon 1925 gemalt. Es
hängt in der Galleria d’Arte Moderna in Rom. Im Vordergrund
führt eine Messingstange von Bildrand zu Bildrand
durch einen lichten Schäfchenwolken-Himmel, und zwei
seitlich zurückgeschlagene Bühnenvorhänge geben den
Blick auf den etwas griesgrämig dreinschauenden, aber
nicht ernsthaft verstimmten Maler frei. In seinem Rücken
sind als Theaterprospekt die Palazzi einer Stadt zu erkennen,
vielleicht die Piazza di Spagna, wo de Chirico während
Jahrzehnten gewohnt hat. – Mit seiner bescheidenen
«Inszenierung» erinnert uns der italienische Maler diskret
daran, dass das Leben eigentlich stets auf einer kleinen
oder grösseren Bühne stattfi ndet und dass wir selber auf
diesen Brettern, die uns Welt bedeuten, ja lediglich die
Schauspieler sind. Oder, je nach Stück, das gegeben wird,
bloss als Pausen-Clowns agieren. Im Aargau, in Hamburg,
Bern oder Rom.
Klaus Merz, geboren 1945, lebt als Schriftsteller in
Unterkulm/Aargau.
Photo: Franziska Messner