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Die Super-EFTA

Grossbritannien will bald über den Verbleib in der EU abstimmen. Zum Glück. Denn damit öffnet sich ein Zeitfenster für eine neue, von unten herauf gebaute europäische Einigung – für ein Europa mit Schweizer Beteiligung.

Die Super-EFTA
Beat Kappeler, photographiert von Thomas Burla.

Wer sich mit dem europäischen Dogma der Alternativlosigkeit nicht abfinden will, stösst früher oder später auf eine kleine Organisation mit grossem Potential: die EFTA. Die vier Buchstaben stehen für European Free Trade Association und umschreiben letztlich nichts anderes als eine Freihandelszone für Industriegüter, ergänzt durch bilaterale Verträge für die freie Bewegung von Personen, Kapital und viele Dienste. Die EFTA schliesst ein weltweites Netz von Freihandelsabkommen ein, aber sie lässt jedem Mitgliedsland freie Hand für seine interne Gestaltung. Das macht die Organisation zum richtigen europäischen Modell der «Vielfalt in der Einheit» – jener Losung, der auch die Europäische Union (EU) entsprechen sollte, aber nicht entspricht. Ein Zusammenschluss der europäischen Länder soll dort erfolgen, wo er produktiv, friedenssichernd und freiheitsstiftend wirkt, nämlich in einer Zone des freien Austauschs von Gütern, Diensten, Kapital und Personen, bei bleibender nationaler Zuständigkeit aller übrigen Belange, wie in der EFTA, NAFTA, in asiatischen Freihandelszonen.

Diese Einschätzung führt gegenüber den gegenwärtigen – und künftigen – Konvulsionen der EU zur notwendigen intellektuellen Lufthoheit. Dieser Kontinent ist mit seinen zentralistischen, voluntaristischen Lösungen aus hohler Hand von selbstbeflügelten Europapolitikern gründlich gescheitert – das richtige Modell muss auf dem Erfolgsweg Europas aufbauen: das ist der Wettbewerb der Lösungen, wie die einzelnen Nationen sich einrichten, wie ihre kulturelle Verschiedenheit es verlangt und wie die Geschichtsforscher es belegen (etwa der Wirtschaftshistoriker David S. Landes). Dennoch machten genügend gemeinsame Werte den Kontinent unverwechselbar fortschrittlich: persönliche Freiheit, Demokratie im Staat, föderale Lösungen, Subsidiarität, Weltoffenheit, Selbstbestimmung der Völker für ihre nationale Zugehörigkeit.

Das Europa der Slogans

Gerade der letzte Vorteilspunkt Europas, die Selbstbestimmung der Völker, kennzeichnet die letzten zwei Jahrzehnte viel eher als die sogenannte europäische Einigung. Denn die im 15. und 16. Jahrhundert zusammengeschlossenen Grossstaaten lösen sich gemäss dem Wunsch der in sie hineingepferchten Völker teilweise auf – es trennten sich die baltischen und zentralasiatischen Staaten von Russland, die Ukraine 1918 und wieder 1990, die Tschechoslowakei löste sich 1993 auf, Irland trat 1922/1949 aus Britannien aus, Jugoslawien zerfiel 1992 und in Katalonien, Schottland, Belgien, Norditalien melden ernstzunehmende Bewegungen Ansprüche auf Sezessionen an.

Aus späterem Rückblick also wird dieser Zerfall der vermeintlichen Nationalstaaten in ihre kulturellen, völkermässigen Teilelemente klar erkennbar sein als eine säkulare Rückbewegung der heute vor fünfhundert Jahren zusammengeschmiedeten Grossreiche.

Aber lassen wir dieses Thema beiseite. Sicher ist, dass die unter dem Titel der EU im Maastrichter und Lissabonner Vertrag erfolgte Zentralisierung des Kontinents keine lineare und zwangsläufige Entwicklung war, keine ist, sein muss, sein wird, und dass die beschwörenden Konzepte, die heute noch von der Lufthoheit des Integrationsmodus profitieren, die Geschichte nicht auf ihrer Seite haben. Im Krisengewitter der letzten Jahre ist es zu einem Selbstläufer geworden, die historischen europäischen Errungenschaften zu instrumentalisieren. Insbesondere auch der Slogan «Europa ist ein Friedensprojekt» geht in die Irre, denn den Frieden im Kontinent seit 1945 verdanken wir dem amerikanischen Schutzschild der Nato sowie dem endlich demokratisch gewordenen Deutschland. Seine dem Volk und dem Parlament nicht verantwortlichen Gewaltregierungen hatten die letzten vier Kriege unter Europäern losgetreten – 1866, 1870, 1914 und 1939. Nie hätten die Troisième République oder das British Empire von sich aus losgeschlagen.

Der andere Slogan, der das Scheitern des Euro verkleistern soll, lautet: «Der Euro ist Europa», und zeugt von beispielloser Verdinglichung der Idee. Eine Geldsorte soll den europäischen Geist tragen. Andere Slogans gehen bis zur Klitterung und zum Hohn, etwa wenn der EU-Präsident Van Rompuy einem allenfalls austretungswilligen Britannien nachruft: «Ein Freund geht in die Wüste.» Britannien gelüstet es aber nach Freiheit und nach der Welt, nicht nach der Wüstenei der Gleichschaltung in Brüssel. Denn diese geht in die Irre, auf drei Wegen:

1. Die Sehnsucht nach weltpolitischer Grösse

In der globalisierten Wirtschaft sind die treibenden Akteure Firmen, nicht Staaten oder Regionalunionen. Eine Eigenheit der als Globalisierung beschriebenen Dynamik ist, dass die allzuständig geglaubte Politik zu kurz greift. Eine Regionalunion wäre nur eine Korrektur der Globalisierung, wenn sie autark würde (was die EU in manchen Fragen auch anstrebt, aber nie erreichen wird). Doch gerade eine regionale Abschottung ist weder freiheitlich noch politökonomisch sinnvoll. Geschlossene Grenzen sind Völkergefängnisse, offener Austausch aber ist ein Politikergefängnis, in dem die von den Bürgern eingesetzten Stellvertreter ihre politischen Taten vergleichen lassen müssen. Hingegen gewinnt die globalisierte Wirtschaft ihren Ordnungsrahmen durch globale Strukturen wie die Welthandelsorganisation, die Weltpatentorganisation, die Arbeitsorganisation, Klimagipfel, die Fernmeldeunion. Der Anspruch der EU, eine Antwort auf die Globalisierung zu sein, ist daher inkongruent zum Problem. Mehr Gewicht in Weltorganisationen zu haben, rechtfertigt keine EU – die grossen Mitglieder haben dieses Gewicht auch für sich. Im Gegenteil, die EU verhandelt oft direkt mit USA, China, Russland und setzt die Weltorganisationen ins Abseits. Doch der Anspruch, dem US-Imperium auf Augenhöhe gegenüberzutreten, ist geradezu lächerlich. Die USA wagen Blut, eigenes und fremdes, für die internationale Ordnung, Europas Baroness Ashton verschickt Communiqués.

2. «Primat der Politik» ohne Legitimität

Die fast gesamte Politik der EU seit dem Maastrichter Vertrag ist eine fatale Verbindung mit zeitgenössischen (den EWG-, EG-, Unionsverträgen nicht innewohnenden) Ideologien eingegangen. Keynesianische Ankurbelungstechniken und umverteilende Budgets zugunsten von mehr als der Hälfte der Bürger und Länder sind national aufgebaut, angewandt und von den europäischen Behörden gestützt, im Euro sogar fundiert worden (durch Billigzinsen, Hilfspakete, Geldschöpfung der EZB). Das Resultat ist eine Überschuldung der Einzelstaaten, welche das gesamte europäische Projekt gefährdet und die Völker auf Jahrzehnte hinaus in Hungerkuren festhalten wird. Schlimmer noch, die EU baut auf «dem Primat der Politik» auf, also auf dem Vorrang von Visionen der Politiker gegenüber tangiblem, überprüfbarem Nutzen von Politik. Deshalb kam auch der inhaltsleere Slogan auf, dass die EU immer gleichzeitig «Erweiterung und Vertiefung» brauche, dass die Kopfgeburt einer zentralen Währung nötig sei. Doch wegen deren überhasteter (politisch als Zündung weiterer Integrationsstufen veranlasster) Einführung wurde der Euro eine Währung ohne Staat, und die Mitgliedsländer sind Staaten ohne Währung. Dies führte notwendigerweise zur Krise dieses Euro, dann zu laufenden Versuchen, diese Inte-grationsstufen unbemerkt und unter dem Zwang der Verhältnisse einzuführen, wie Euro-Bonds, Hilfspakete unter klarem Bruch von Art. 125 des Lissabonner Vertrags oder ein zentrales Euro-Länder-Budget oder auch die für Ökonomen erschütternde Rolle der EZB, welche die Staatsbudgets des Südens mit Interventionen finanziert. «Outright Monetary Transactions» und «Emergency Liquidity Assistance» sind die verklärenden Begriffe dazu, ein Orwellscher Newspeak, denn es handelt sich bei diesen Massnahmen gerade nicht um monetäre, sondern um fiskalische Politik.

Die meisten der EU-Politiken folgen dem Muster der nationalstaatlichen Interventionen entlang dem alten Industriemodell der 70er Jahre – Industriepolitiken, feste Papierwährungskurse, Umverteilung an als hilflos aufgefasste Bürger, Länder, Abmilderung jeder ökonomischen Sanktion für fehlerhaftes Verhalten durch erneute Geldversprechen. Kurz, eine Unfähigkeit zu leiden, eine in Politik verflüssigte Verdrängung der Realität.

Der «Primat der Politik» ohne parlamentarische oder direktdemokratische Legitimation ergibt sich seit 1958 aus der Formulierung des «immer engeren Zusammenschlusses», wie sie in den Römer Verträgen festgehalten wurde. Dieser Auftrag wird vom Europäischen Gerichtshof im Zweifelsfall unweigerlich zugunsten strengerer Integration ausgelegt. Das Subsidiaritätsprinzip hat schon aus diesem Grund keinerlei rechtswirksame Bedeutung in der EU.

3. Das Kartell der Schuldner

Die unter dem Zwang bisherigen Scheiterns der Währungsunion angestrebten zusätzlichen Integrationsschritte werden die EU vollends in die «géométrie variable», in ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten lenken. Das wäre aus liberaler Sicht erwünscht, ist aber nicht beabsichtigt. Widerstände gegen die Fiskalunion, gegen die Bankenunion melden sich, Britannien macht in Finanzregulierungen und – zusammen mit Schweden, Dänemark, Polen – im Euro nicht mit, Finnland nicht bedingungslos bei den Hilfspaketen an den Süden. Weitere Widerstände werden aufkommen, wenn es den wenigen nur halbwegs überschuldeten Nettozahlern der Hilfspakete und im European Stability Mechanism dereinst klar wird, dass gemäss den in Frage kommenden Stimmrechtsregeln (im ESM, Lissabonner Vertrag, in der Fiskalunion) das Kartell der Schuldner die Sanktionen gegen seine frivole Fiskalpolitik verhindern kann. Die EU wurde und wird also zentral aufgebaut, spult einen vermeintlich linearen Ausbau ab. Doch die Krisen, die hastigen Korrekturen vor- und rückwärts, der Bruch des Beihilfeverbots und der EZB-Solidität, die wachsenden Widerstände der Protestparteien in Nord und Süd zeigen klar: ein Zeitfenster öffnet sich für eine subsidiäre, von unten herauf gebaute Einigung – für eine echte EFTA.

Kontrastprogramm einer liberalen EU

Wie also sähe die EU aus ohne die Ideologien der 70er Jahre, ohne den vermeintlich schmerzverhindernden Keynesianismus, ohne die Umverteilungen und ohne die «immer engeren» Harmonisierungen? Eine Super-EFTA wäre dies, also Freiheit in Güter-, Dienste-, Kapital- und Personenverkehr. Die Harmonisierungen würden, wie in Freihandelszonen üblich, nur das Notwendigste regeln, um einen echten, gemeinsamen Markt zu schaffen. Harmonisierungen würden nicht auf dem grössten, sondern auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner (KGN) erfolgen. Das ist schon beim Bruchrechnen die Lösung, es entspricht dem «Razor» Wilhelms von Ockham (14. Jh.), wonach man nicht mehr Bedingungen als nötig erfinden solle. Es würde also keine Mehrwertsteuer von mindestens 15 Prozent vorgeschrieben, wie heute in der EU, sondern von höchstens 8%, wie sie die Schweiz kennt. Das gleiche Prinzip gälte in der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Umwelt-, Konsumenten-, Fiskal-, Finanz- und Bankenpolitik (wenn überhaupt). Denn auch hier ist die Subsidiarität und Normalität seit 1958 absichtlich ausgehebelt, weil soziale Normen «im Sinne des Fortschritts», also auf höchstem erreichtem Stand, harmonisiert werden sollen. Damit schützte Frankreich seine überrissenen Standards.

Doch bei Harmonisierungen auf Grundlage des KGN würde der Wettbewerb der Lösungen blühen. Man sähe, dass Dänemark und die Schweiz annähernd vollbeschäftigt sind, beide mit freiem Kündigungsrecht der Firmen, welche daher auch massiv einstellen, Dänemark hingegen mit einem enormen Umverteilungsstaat, jedoch ohne Arbeitsbelastung durch Lohnprozente, sondern mit hoher Mehrwertsteuer, welche den Exporteuren rückerstattet wird. Dänemark ist konkurrenzfähig wie die Schweiz, diese dank massvollen Lohnprozenten und Mehrwertsteuern, dank freiem Arbeitsmarkt und Berufslehre. Man sähe, dass Frankreich all dies nicht pflegt und verarmt.

Eine liberal harmonisierende EU hätte im Vertragstext nicht den «immer engeren Zusammenschluss» stehen, sondern «die Subsidiarität gleichwertiger Lösungen», und dies würde vom Gerichtshof durchgesetzt. Dies brächte auch ein echtes Cassis-de-Dijon-Prinzip zum Durchbruch: Die technisch notwendigen Normen eines gemeinsamen Marktes kämen zustande, mehr nicht.

Die Gegenofferte

Es ist rein logisch, dass grosse Unionen weniger demokratisch sein können als kleine Körperschaften – weil in Grossorganisationen der direktdemokratische Zugriff, aber auch der parlamentarische Regelungskreis der Mitgliedstaaten weniger inhaltlichen Umfang haben kann. Wenn sogenannt demokratische Steuerungen in Grossstaaten gälten, sind sie nach allen Regeln der Politologie Kuhhändeln über die Sachgebiete hinaus unterworfen, weil sonst gar keine Massnahmen zustande kommen. Es werden also Sachentscheide entfremdet um der Opportunität willen. Das wird die grosse amerikanische Union ruinieren, befürchtet man heute. Und im Anwendungsfall der EU werden heute und künftig keynesianische, schuldenfinanzierte Umverteilungen zu kontinentweiten, ruinösen Monstern.

Würden ausserdem europaweite Volksabstimmungen als quasidemokratische Legitimierung eingeführt, dann glitte die «Kompetenz-Kompetenz» auf die EU-Ebene. Ein EU-Organ – das EU-Volk – würde die Kompetenzen der EU mit blossen Mehrheiten definieren. Dies wäre der Übergang zur Tyrannei der Mehrheit in einem kulturell, ideologisch und historisch vielfarbigen Kontinent. Es wäre das Ende des Wettbewerbs der Lösungen, das Ende europäischer Freiheit und Prosperität.

Die Befürworter einer anderen, der EFTA ähnlichen europäischen Einigung haben das AOC echter Europäer. Diese intellektuelle Lufthoheit müssen Schweizer Vertreter der Diplomatie, der Politik, der Kultur und der Medien wieder auszustrahlen lernen. Wie 1830, als die liberale Schweiz ein Leuchtturm im monarchisch-restaurativen Europa war, oder zur Zeit der Faschismen. Europäische Grosspolitik ist nicht gefeit vor Fehlern. Und sie hat schon mehrmals Fehler gemacht, katastrophale Fehler.

Der ganz praktische Test solcher Überzeugungsarbeit kommt schon 2015, wenn Britannien über seinen Verbleib in der EU abstimmt. Dann muss die Gegenofferte in den Köpfen und auf dem Tisch liegen. Wie 1961, als die Schweiz die alte EFTA anstiess und gründete. Gelingt der Umschwung, wird die Schweiz bald schon in einer liberalen europäischen Integrationsstufe leben, die eine Mehrheit des Kontinents umfassen kann, die massgebend für Europa sein wird.

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