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Die Stimme der Frau

Yvonne Domhardt, Esther Orlow & Eva Pruschy (Hrsg.): «Kol Ischa. Jüdische Frauen lesen die Tora». Zürich: Chronos, 2007.

Im traditionell-orthodoxen Judentum waren Torastudium und Gottesdienst als Möglichkeit deutenden Handelns und religiösen Erlebens dem Mann vorbehalten. Doch im Kielwasser der Frauenemanzipation verlangten Frauen auch die Teilhabe am Studium der religiösen Quellen. Im akademischen Milieu, als Religionswissenschafterinnen oder -philosophinnen ist die Präsenz von Frauen alltäglich geworden, und in vielen jüdischen Gemeinden haben sie inzwischen Stimm- und Wahlrecht. Im Gottesdienst wird der Frau jedoch noch immer keine aktive Rolle zugestanden; in der Synagoge sitzt sie getrennt vom Mann, der allein die Liturgie durchführt, und sie betet, anders als der Mann, still. Denn die Stimme der Frau, im Hohelied als lieblich beschrieben, würde den Mann, so die tradierte Unterstellung, vom Beten ablenken – im Talmud wird sie sogar als «Scham» bezeichnet. Dass Frauen im Gottesdienst die Gebete laut mitsingen, ist in vielen traditionellen Gemeinden noch immer skandalös. Dieses vorgeschriebene Schweigen wird nun, zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum, in einem Band gebrochen, in dem Tora-Interpretationen von jüdischen Frauen gesammelt sind und der programmatisch den hebräischen Titel «Kol Ischa» trägt: «Die Stimme der Frau». Gemäss der liturgischen Ordnung wird jede Woche ein Abschnitt aus der Tora, den fünf Büchern Mose, gelesen; nach der üblichen Einteilung sind es 54 Wochenabschnitte, die das jüdische Jahr bestimmen. Diese Wochenabschnitte aus der Tora wurden von verschiedenen Autorinnen – Philosophinnen und Rabbinerinnen, Literatinnen und Schriftstellerinnen, die religiös, traditionell oder säkular sind – interpretiert. Diese Interpretationen bewegen sich zwischen theologischer Auslegung und philosophischem Essay, literarischem Versuch und individualpsychologischer Skizze und verbinden immanente Textanalyse mit kulturkritischer Refl exion. Indem die Autorinnen immer wieder auf die tradierte Deutungstradition – auf Talmud, rabbinische Literatur, Kabbala – zurückgreifen, führen sie den jüdischen hermeneutischen Kontext vor und werden zugleich Teil davon. Bei allen Unterschieden des Deutungsansatzes, des Stils und der inhaltlichen Gewichtung zeigen diese Interpretationen die jüdische hermeneutische Tradition als ein mühsames (Ver-)Handeln zwischen Mensch und Gott. Damit ist dieser Band nicht nur ein möglicher Begleiter durch das jüdische Jahr, sondern vor allem ein beeindrukkendes Beispiel jüdischer Gelehrsamkeit.

besprochen von Stefana Sabin, Frankfurt

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