Die Stimme der Frau
Im traditionell-orthodoxen Judentum waren Torastudium und Gottesdienst als Möglichkeit deutenden Handelns und religiösen Erlebens dem Mann vorbehalten. Doch im Kielwasser der Frauenemanzipation verlangten Frauen auch die Teilhabe am Studium der religiösen Quellen. Im akademischen Milieu, als Religionswissenschafterinnen oder -philosophinnen ist die Präsenz von Frauen alltäglich geworden, und in vielen jüdischen Gemeinden haben sie inzwischen Stimm- […]
Im traditionell-orthodoxen Judentum waren Torastudium
und Gottesdienst als Möglichkeit deutenden Handelns und
religiösen Erlebens dem Mann vorbehalten. Doch im Kielwasser
der Frauenemanzipation verlangten Frauen auch die
Teilhabe am Studium der religiösen Quellen. Im akademischen
Milieu, als Religionswissenschafterinnen oder -philosophinnen
ist die Präsenz von Frauen alltäglich geworden,
und in vielen jüdischen Gemeinden haben sie inzwischen
Stimm- und Wahlrecht. Im Gottesdienst wird der Frau
jedoch noch immer keine aktive Rolle zugestanden; in der
Synagoge sitzt sie getrennt vom Mann, der allein die Liturgie
durchführt, und sie betet, anders als der Mann, still. Denn
die Stimme der Frau, im Hohelied als lieblich beschrieben,
würde den Mann, so die tradierte Unterstellung, vom Beten
ablenken – im Talmud wird sie sogar als «Scham» bezeichnet.
Dass Frauen im Gottesdienst die Gebete laut mitsingen, ist
in vielen traditionellen Gemeinden noch immer skandalös.
Dieses vorgeschriebene Schweigen wird nun, zum ersten Mal
im deutschsprachigen Raum, in einem Band gebrochen, in
dem Tora-Interpretationen von jüdischen Frauen gesammelt
sind und der programmatisch den hebräischen Titel «Kol
Ischa» trägt: «Die Stimme der Frau».
Gemäss der liturgischen Ordnung wird jede Woche ein
Abschnitt aus der Tora, den fünf Büchern Mose, gelesen;
nach der üblichen Einteilung sind es 54 Wochenabschnitte,
die das jüdische Jahr bestimmen. Diese Wochenabschnitte
aus der Tora wurden von verschiedenen Autorinnen
– Philosophinnen und Rabbinerinnen, Literatinnen und
Schriftstellerinnen, die religiös, traditionell oder säkular
sind – interpretiert. Diese Interpretationen bewegen sich
zwischen theologischer Auslegung und philosophischem
Essay, literarischem Versuch und individualpsychologischer
Skizze und verbinden immanente Textanalyse mit kulturkritischer
Refl exion. Indem die Autorinnen immer wieder
auf die tradierte Deutungstradition – auf Talmud, rabbinische
Literatur, Kabbala – zurückgreifen, führen sie den jüdischen
hermeneutischen Kontext vor und werden zugleich
Teil davon. Bei allen Unterschieden des Deutungsansatzes,
des Stils und der inhaltlichen Gewichtung zeigen diese Interpretationen
die jüdische hermeneutische Tradition als
ein mühsames (Ver-)Handeln zwischen Mensch und Gott.
Damit ist dieser Band nicht nur ein möglicher Begleiter
durch das jüdische Jahr, sondern vor allem ein beeindrukkendes
Beispiel jüdischer Gelehrsamkeit.
besprochen von Stefana Sabin, Frankfurt
Yvonne Domhardt, Esther Orlow & Eva Pruschy (Hrsg.): «Kol Ischa.
Jüdische Frauen lesen die Tora». Zürich: Chronos, 2007.