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Die Sprachgemeinschaft, nicht die Politik

Die Frage der Zuständigkeit Orthographie ist historisch gewachsen. Die von Wissenschaftern ohne Not und gegen den Sprachgebrauch konstruierte Reform ist inkonsistent und wurde von Politikern ohne Sachkunde überstürzt eingeführt. Noch ist es nicht zu spät für einen Verzicht.

Wem gehört meine Sprache? Mir natürlich! Meine Sprachprodukte kann ich behalten, verschenken, verkaufen. Sehr beschränkt können sie mir zwar verboten werden, z.B. Verleumdungen. Nur ein diktatorisches Regime aber kann sie mir stehlen, meine Bücher verbrennen, mich mit einem generellen öffentlichen Sprech- und Schreibverbot belegen oder mich sonstwie mundtot machen.

Auch meine Sprachkompetenz gehört mir. Zwar kann ich auch hier nicht ganz frei entscheiden, wie ich spreche oder schreibe. Die Kontrollinstanz ist aber nicht der Staat, jedenfalls nicht ein demokratisch verfaßter, sondern meine Mitmenschen: Sprechen lerne ich als Kleinkind fast zwangsläufig und von selbst. Meine nähere Umgebung wird mir einige nützliche Hinweise geben, wie man in jeder Situation sagt – oder auch nicht sagt. Meine Sprache im Sinne der Sprechkompetenz wird zudem je nach meiner Umgebung etwas anders herauskommen. Aber meine Freiheit bei ihrer Gestaltung ist fast grenzenlos. Diese individuelle Freiheit führt auch dazu, daß Sprachen zu aller Zeit in Veränderung begriffen sind.

Beim Schreiben ist die Situation ähnlich. Zwar lerne ich es nicht von selbst. Aber ich lerne es doch ziemlich leicht, ebenfalls von meinen Mitmenschen, und selbstverständlich werde ich normalerweise so schreiben wie sie; sie sollen meine Texte ja lesen können, wie ich ihre lesen können will. Und wir haben großes Glück: Unsere westliche Schrift ist ihrem Prinzip gemäß von allen möglichen Schriften die am leichtesten zu lernende und anzuwendende, denn sie kommt – in den allermeisten Sprachen – mit weit unter 50 Zeichen aus. Ihr Prinzip besagt, daß für jeden Laut der betreffenden Sprache genau ein Zeichen existieren soll. Das Prinzip ist wohl nie vollkommen erfüllt worden, denn jene Griechen, die es knapp vor der Zeit Homers, vor etwa 2800 Jahren, entdeckten, und ebenso die anderssprachigen Menschen, die die Idee bald freudig aufgriffen und das Alphabet für ihre jeweilige Sprache einrichteten, waren keine Sprachwissenschafter. Dennoch ist es erstaunlich, wie gut das Prinzip bei der Schaffung und bei jeder Anpassung des Alphabets an eine noch ungeschriebene Sprache beachtet wurde. So schreiben konnte jeder lernen. Das Alphabet ist die «demokratischste» Schrift, die die Menschheit je gekannt hat. Wahrscheinlich war überhaupt die Erfindung der Demokratie durch die Griechen nur möglich dank der Einfachheit ihrer Schrift.

Von den vielen Alphabetvarianten der Antike überlebten schließlich nur zwei: im orthodoxen Osten die griechische und bei uns im römisch-katholischen Westen die lateinische. Nun fingen aber die Probleme an: Erstens waren die Römer für ihr Latein mit 21, später 23 Zeichen zufrieden gewesen (ABCDEFGHIKLMNOPQRSTVX-YZ), etliche der «jungen» Sprachen im mittelalterlichen Europa, die sich für die Schrift zu interessieren begannen, hatten aber mehr Laute, und insbesondere solche, die das Latein nicht kannte. Also hat man zwei Zeichen «geklont» (IJ, UVW), andere mit Zusatzmarkierungen variiert (wie bei É, Ä, Å, Ñ) sowie Zeichenkombinationen für Einzellaute erfunden (CH, SCH, TH, CZ usw.). Immerhin konnte so das lateinische Alphabet in Europa fast einheitlich bewahrt werden – wofür wir dankbar sind!

Das zweite, größere Problem entstand dadurch, daß sich diese Sprachen veränderten, speziell durch Lautwandel. Dieser hat zum Beispiel dazu geführt, daß man heute im größten Teil des deutschen Sprachraums das Wort «Liebe» mit einem langen i ausspricht. Nicht aber in der Schweiz: Wir sagen nach wie vor «Liëbi» mit einem Doppellaut i+e, wie es im Mittelalter alle Deutschsprachigen taten. Trotzdem schreibt man «Liebe» – mit gutem Grund – im ganzen Deutschen heute noch mit ie, obwohl ein i im Prinzip genügte (wie in «Stil», «Tiger», «Bibel»). Dies gilt für weitere Fälle in ähnlicher Weise. Unsere Orthographie entspricht also nicht mehr ganz der Aussprache, sie ist eine teilweise historische Orthographie. Eine solche hat natürlich den großen Vorteil, daß man auch ältere Texte mühelos lesen kann und sie nicht dauernd neu drucken muß.

Die Orthographie anderer europäischer Sprachen ist ebenfalls historisch, aber in mancher Hinsicht viel «schlimmer» als die deutsche. In einem französischen Text etwa kommen heute auf eine bestimmte Anzahl Laute oft eineinhalb- bis zweimal so viele Buchstaben, z.B. zählt «Qu’est-ce que c’est» 14 Buchstaben (plus drei weitere Zeichen), aber nur 7 Laute («kesköse»). Viele Zeichen finden in der Aussprache keinen Niederschlag («sois», «soit», «soient», «soie»). Die französische Orthographie ist ziemlich unökonomisch.

Wieder anders ist die englische. Hier existieren beispielsweise 12 Arten, ein langes i zu schreiben: «police», «piece», «she»… (wer findet sie alle?). Bei zahllosen englischen Wörtern kann deshalb weder von der Aussprache auf die Orthographie geschlossen werden, noch umgekehrt («dough», «plough», «rough»; deshalb hierzulande «ein Rindsstiik»!). Die englische Orthographie ist ein Beispiel für besonders große lautliche Mehrdeutigkeit.

Diese Nachteile historischer Orthographien werden allerdings teilweise kompensiert dadurch, daß gleichklingende Wörter verschieden geschrieben werden, z.B. «read», «reed», «road», «rode», «break», «brake», oder «vert», «vers», «verre», oder «das», «daß», «Meer», «mehr», «Stil», «Stiel». Diese Fälle bedeuten zwar einen zusätzlichen Lernaufwand, erleichtern aber das Lesen.

Schließlich ist in einem europäischen Rahmen – gerade heute! – auch zu berücksichtigen, daß viele Wörter nicht nur uns, sondern ebenso auch den Sprachen um uns herum gehören. Dies gilt speziell für die zahllosen Lehnwörter vor allem aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen. Bürgert nun eine Sprache solche Lehnwörter im Laufe ihrer Geschichte orthographisch ein, eine Tendenz, die das Deutsche mehr «pflegt» als andere Sprachen («Weste», «Soße», «Zirkus», «Fotograf»), so bedeutet das jedesmal einen kleinen Affront den anderen Europäern gegenüber, – die ihn freilich erst bemerken, wenn sie diese Sprache lernen müssen. Keine allzu gute Werbung für unser Deutsch! Die Engländer haben in den letzten Jahrhunderten auf solche «Einbürgerungen» weitgehend verzichtet («vest», «sauce», «circus», «photographer») und damit zur weltweiten Akzeptanz ihrer Sprache bestimmt nicht wenig beigetragen. Ihre Orthographie ist international.

Zwischen all diesen Polen bewegt sich nun jede Orthographie: Sie soll möglichst leicht lesbar, eindeutig, ökonomisch und international sein, und tatsächlich hat die deutsche Orthographie im 19. Jahrhundert ein ausgezeichnetes Gleichgewicht gefunden und dieses nun mindestens 100 Jahre lang in großer Einheitlichkeit fast unverändert bewahrt.

War da nun eine Reform nötig? Ich wüßte nicht, wieso. Jedenfalls sicher nicht wegen der 100 Jährchen! Orthographiereformen bedeuten immer einen Bruch mit der Vergangenheit bzw. einen erheblichen Aufwand, die Vergangenheit in die neue Zukunft herüberzuholen, und sie können ein so hochkomplexes System leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Überdies muß eine ganze Bevölkerung umlernen. Daraus folgt zwingend, daß eine solche Reform unbedingt zuverlässig durchdacht

und möglichst schonend sein muß und einen deutlichen Fortschritt, d.h. eine Erleichterung nicht nur des schulischen Lernaufwands, sondern auch des praktischen Lesens und Schreibens bringen muß, um den Aufwand der Umstellung zu rechtfertigen.

Anders als alle früheren handelt die «Reform» von 1996/98 den Anforderungen an eine Orthographie und ihre Verbesserung fast durchwegs zuwider: Nicht nur bringt sie die deutsche Orthographie nicht näher an eine Lautschrift heran (daran haben sich die Reformer gar nicht erst gewagt), sie macht sie sogar weniger eindeutig («schief gehen»; «das ist ihm wohl bekannt»), weniger ökonomisch («Schifffahrt») und weniger international («Spagetti») oder beides («platzieren», «nummerieren», «Tipp»). Sie macht generell das Lesen schwieriger, vor allem durch den in der Praxis (speziell in Kinderbüchern!) übertrieben genutzten Verzicht auf Kommasetzung. Die neuen Regeln sind komplizierter und schwerer verständlich als die bisherigen, teils auch schlicht falsch oder inkonsistent. Besonders ungeschickt ist schließlich das stark gehäufte «Nicht-Regeln». Das mag der heutigen Zeitgeistpädagogik entsprechen, für eine Orthographie aber gilt: je klarer geregelt, desto unauffälliger, und je unauffälliger, desto besser. Oder sollen wir beim Lesen eines Textes vor allem über dessen Orthographie nachdenken?

Wäre diese Reform ein «Vorschlag aus dem Volk» gewesen, wie es sie zu Hunderten gibt, hätte man sie einfach ignoriert. Richtig aufgegleist aber birgt ein solches Unternehmen ein großes Potential an Geld (für Buchverlage) und Bekanntheit (für Wissenschafter und Politiker), vor allem weil das Bildungssystem, solange es staatlich ist, als ein gewaltiger Spielzeugbaukasten mißbraucht werden kann. Dies hat im vorliegenden Fall erschreckend «gut» funktioniert.

Nun dürfen Wissenschafter durchaus Fehler machen; diese werden, falls die Forschungen korrekt publiziert werden, umgehend korrigiert. Ebenso dürfen Verlage Geld verdienen wollen. Das Problem liegt somit ganz klar bei den Politikern. Sie tragen die Verantwortung, und verantwortungsvoll handeln heißt sachkundig entscheiden. Da darf kein Geld im Hintergrund eine Rolle spielen, und wenn einmal in einer Sachfrage die persönliche Kompetenz ungenügend ist (auch Politiker müssen nicht allwissend sein!), so gibt es das bewährte Mittel einer langen und breiten Vernehmlassung. Gerade Sprachwissenschaft kann übrigens durchaus verständlich dargestellt werden, wodurch es leicht wird, Spreu vom Weizen zu sondern. Etwas Zeit müßten sich Politiker dafür allerdings schon nehmen. Und sie sollten niemals glauben, was sie nicht verstehen, müsse besonders genial sein. Das gilt nicht einmal in der Naturwissenschaft. Vor allem müssen sich unsere Politiker auch ihrer Verantwortung gegenüber der kulturellen Tradition bewußt sein. Eine ohne Not durchgesetzte Änderung der Orthographie auch nur eines einzigen Wortes («Gämse») ist eine kleine kulturelle Schandtat!

Also: Im Zweifelsfall Hände weg von einer Reform, keine Wischiwaschikompromisse, Fehler eingestehen, neu anfangen! Und: Reformen, die durch Powerplay der vereinigten Exekutiven und Administrationen durchgedrückt werden müssen, können nur schlecht sein. Ich plädiere deshalb, mit vielen anderen, für Verzicht auf diese mißratene «Reform». Es ist noch nicht zu spät. Was sind schon fünf halbherzige Jahre gegen alle unsere Bibliotheken! Die Veränderung der Sprache, und damit auch die Notwendigkeit einer Orthographiereform, kommt aus dem Sprachgebrauch. Vom Staat sind in dieser Sache – wie in aller Bildungspolitik – einzig behutsame Koordinationsmaßnahmen erwünscht, aber keine intensive Bemutterung, und schon gar keine Bevormundung oder Gewaltakte. Man kann Pflanzen zu Tode pflegen!

Rudolf Wachter, geboren 1954, ist Professor für Griechische und Lateinische Sprachwissenschaft an der Universität Basel. Zu seinen Publikationen gehört: «Orthographiereformen und die Zukunft des Englischen» (http://www.unibas.ch/klaphil/idg/texte/engl.html).

(Rudolf.Wachter@unibas.ch)

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