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Die Situation
Die uigurische Lehrerin Qelbinur Sidik zeigt eine behördliche Textnachricht und berichtet von Zwangssterilisation in Internierungslagern in Xinjiang, China. Fotografiert am 18. März 2021 in Den Haag. Bild: Lars Berg / laif.

Die Situation

Ein Tag im Leben einer Angehörigen einer ethnischen Minderheit in Xinjiang.

 

In der Region Xinjiang im Westen Chinas nennen die Menschen ihre Dystopie «die Situation».1

Seit 2017 wurden schätzungsweise 1,8 Millionen Uiguren, Kasachen und Angehörige anderer überwiegend musli­mischer Minderheiten von der Regierung beschuldigt, «ideologische ­Viren» und «terroristische Gedanken» zu hegen, und in Hunderte von Konzentrationslagern verschleppt. Viele der Lager waren ehe­malige Schulhäuser und andere Gebäude, die zu Inter­nierungszentren für Folter, ­Gehirnwäsche und Indoktrination um­funktio­niert wurden. Es ist die grösste Internierung von ethnischen Minderheiten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Selbst wenn man nicht in einem Lager landet, ist das tägliche Leben höllisch. Wenn Sie eine Frau sind, wachen Sie vielleicht ­jeden Morgen neben einem Fremden auf, der von der Regierung eingesetzt wurde, um Ihren Partner zu ersetzen, den die Polizei in ein Lager «verschwinden» liess. Jeden Morgen vor der Arbeit wird dieser Aufpasser Ihrer Familie die Staats­tugenden der Loyalität, der ideologischen Reinheit und der harmonischen Verbindung zur Kommunistischen Partei beibringen. Er wird Ihren Fortschritt überprüfen, indem er Fragen stellt und sicherstellt, dass Sie nicht mit dem «Virus des Geistes» und den drei Übeln «infiziert» wurden, wie die Regierung es nennt: Terrorismus, Separatismus und Extremismus.

Nach Ihrer morgendlichen Indoktrination hören Sie vielleicht ein Klopfen an der Tür. Die örtliche Nachbarschaftswächterin, die vom Staat ernannt wurde, um ein Auge auf einen Block von zehn Häusern zu werfen, wird Ihr Haus auf «Unregelmässigkeiten» überprüfen, wie zum Beispiel, ob Sie mehr als drei Kinder haben oder religiöse Bücher besitzen. Sie wird Sie vielleicht fragen, warum Sie gestern zu spät zur Arbeit gekommen seien.

Sie wird wahrscheinlich sagen, dass die Nachbarn Sie gemeldet hätten.

Für das Verbrechen, vergessen zu haben, den Wecker zu stellen, müssen Sie nun zur örtlichen Polizeistation zu einem Verhör, wo Sie die Unregelmässigkeit erklären müssen.

Nach ihrer täglichen Inspektion hält die Nachbarschaftswächterin eine Karte gegen ein Gerät, das an Ihrer Tür angebracht ist. Sie zeigt damit an, dass sie ihre Befragung abgeschlossen hat.

Wenn Sie vor der Arbeit zur Tankstelle oder zum Lebensmittelladen fahren, um etwas für das Abendessen zu besorgen, ­scannen Sie an jedem Eingang Ihren Ausweis – vor bewaffneten Wachen. Nachdem Sie ihn gescannt haben, zeigt ein Display das Wort «vertrauenswürdig» an. Das bedeutet, dass die Regierung Sie zu einem guten Bürger erklärt hat und Ihnen der Eintritt ­gestattet wird.

Wer die Mitteilung «nicht vertrauenswürdig» erhält, dem wird der Zutritt verweigert, und nach einer kurzen Überprüfung seiner statistischen Datensätze kann es zu weiteren Problemen kommen. Vielleicht haben die Kameras zur Gesichtserkennung die Person beim Beten in einer Moschee erwischt. Oder die Kameras haben sie beim Kauf eines Sechserpacks Bier aufgenommen und die künstliche Intelligenz (KI) vermutet, dass sie ein Alkoholproblem hat. Vielleicht wird die Person den Grund dafür nie ­erfahren. Aber alle wissen, dass jede Kleinigkeit dazu führen kann, dass der Staat die Vertrauenswürdigkeitsbewertung herabsetzt.

Polizisten nähern sich der Person und befragen sie. Die Beamten überprüfen ihre Identität auf ihren Smartphones mit einem Programm namens «integrierte Plattform für gemeinsame Operationen». Es greift auf Massendaten zurück, welche die Regierung über jeden Bürger mit Hilfe von Millio­nen von Kameras, Gerichtsakten und Bürgerspionen gesammelt hat und die alle von KI verarbeitet werden.

Im Rahmen des «Programms zur vorausschauenden Polizeiarbeit» stellt die KI vielleicht fest, dass ein Mann in Zukunft ein Verbrechen begehen wird, und empfiehlt, ihn in ein Lager zu ­schicken. Die Polizeibeamten stimmen dem zu. Sie bringen ihn in ihrem Polizeiauto weg. Nach einer gewissen Zeit der «Umerziehung» wird er vielleicht zurückkehren – oder er wird nie wieder gesehen.

«Die Regierung schickt ­regelmässig weibliche ­

Mitarbeiter zur Zwangs­sterilisation in eine ­örtliche Klinik.»

Nachdem Sie in einer separaten Kassenschlange für Minderheiten gestanden sind, bezahlen Sie Ihre Einkäufe. Kameras der Regierung und die WeChat-Messaging-App überwachen Ihre Einkäufe. Sie verlassen den Lebensmittelladen und fahren zur Arbeit. Auf dem Weg dorthin passieren Sie ein Dutzend Polizeikontrollpunkte, «praktische Polizeistationen» genannt. Aber praktisch für wen? An zwei Kontrollpunkten hält die Polizei Sie an, verlangt Ihre Ausweispapiere und fragt, wohin Sie fahren wollen. Zufrieden lassen sie Sie durch, aber nur, weil Sie «vertrauenswürdig» sind.

Im Büro werden Sie von Ihren Kollegen ständig beobachtet. Bevor der Tag beginnt, stehen Sie alle auf und singen die Nationalhymne. Dann schauen Sie einen kurzen Propagandafilm darüber, wie man einen Terroristen erkennt. Darin wird erklärt, dass ein Terrorist «wahrscheinlich abrupt mit dem Rauchen und Trinken aufhört». Sie wollen lachen. Aber Ihre Kollegen könnten solch ein respektloses Verhalten melden, in der Hoffnung auf eine Belohnung durch die Regierung oder eine höhere Vertrauensbewertung. Sie bleiben den ganzen Film über still.

Jeden Mittag müssen Sie, wenn Sie weiblich sind, eine staatlich verordnete Antibabypille schlucken. Doch damit gehören Sie noch zu den Glücklichen: Die ­Regierung schickt regelmässig weibliche Mitarbeiter zur Zwangssterilisation in eine örtliche Klinik. Die Regierung erklärt, sie wolle die Geburtenrate von Minderheiten senken, weil sie behauptet, niedrigere Geburtenraten würden zu Wohlstand führen.

Nach getaner Arbeit fahren Sie nach Hause, passieren ein weiteres Dutzend Polizeikontrollen und scannen dann Ihren Ausweis, um das Tor am Eingang Ihres Viertels zu passieren. Es ist ein Ghetto, das von einem Zaun oder einer Betonmauer umgeben ist, wo niemand ein- oder ausgehen kann, ohne seinen Ausweis zu scannen. Zu Hause erzählen Ihnen Ihre Kinder von den Partei­tugenden des Patriotismus und der Harmonie, die sie an diesem Tag in der Schule gelernt haben. Sie diskutieren nicht über ihren Unterricht. Der Lehrer hat den Schülern gesagt, sie sollen ­Eltern melden, die nicht mit ihnen übereinstimmen.

Nachdem Sie zu Abend gegessen und die Abendnachrichten gesehen haben – vor einer Regierungskamera, die in der Ecke des Wohnzimmers installiert ist –, ­legen Sie sich mit Ihrem Regierungsaufpasser ins Bett. Hoffentlich können Sie ­einschlafen. Sie sind sich bewusst, dass er die Macht hat, hier im Bett zu tun, was immer er will, denn er wurde vom Staat ­geschickt. Wenn Sie sich seinen Annäherungsversuchen widersetzen, wird er eine ­Anschuldigung erfinden und Sie anzeigen, und Sie werden in die Lager geschickt.

Zum Glück sind Sie heute Abend in ­Sicherheit. Aber Ihr Glück hält vielleicht nicht lange an. Sie schlafen ein und ­wiederholen Ihre Routine am nächsten Morgen. Dies ist ein Tag im Leben einer ­Uigurin, Kasachin oder einer Angehörigen einer anderen ethnischen Minderheit in Xinjiang.

  1. Als der Autor Xinjiang im Dezember 2017 besuchte, hörte er zum ersten Mal den Ausdruck «die Situation». Er wurde von uigurischen Reiseführern verwendet, um den entstehenden Polizeistaat zu beschreiben. Der Assistent des Autors, ­Abduweli Ayup, ein uigurischer Flüchtling aus Xinjiang, hörte den Ausdruck zum ersten Mal im Januar 2016, verwendet unter Uiguren, die aus China geflohen und als Flüchtlinge in der Türkei angekommen waren.

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