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Die Selbstbezogenheit überwinden
Allan Guggenbühl, zvg.

Die Selbstbezogenheit überwinden

Um eigenständige, zufriedene und produktive Mitglieder der Gesellschaft zu werden, müssen junge Menschen frühzeitig Verantwortung übernehmen. Stattdessen werden sie zu oft und zu lange davon dispensiert.

 

«Was ich werde? Gamer! Ich bin recht gut, werde meine Millionen verdienen!» Das teilt mir der Jugendliche mit und wendet den Blick leicht gelangweilt ab. Der 18jährige, intelligente Mann hat seine Bleibe im Parterre des Hauses seiner ­Eltern. Aus dem Gymnasium einer Privatschule ist er wegen häufiger Absenzen und mangelndem Einsatz rausgeflogen. «Nicht mein Ding», meint er lapidar. Nun vertreibt er sich seine Zeit mit Kollegen, Ausgang, Kiffen, Reisen und ­versucht sich in elektronischer Musik. Schuften? Karriere? Etwas für Langweiler. Seine Unbekümmertheit erfüllt die Eltern mit grosser Sorge. Wann übernimmt er Verantwortung für sich selbst und leistet seinen Beitrag in der Gesellschaft?

Eigene Begehren zurückstellen

Verantwortung heisst, dass man sich auf eine Aufgabe einlässt und zuständig fühlt. Man versucht nach bestem Wissen und Gewissen, die Herausforderungen zu meistern und Pflichten zu erfüllen. Ist man verantwortlich, dann macht man sich Gedanken um zukünftige Entwicklungen und Gefahren. Ereignisse wollen antizipiert und Hindernisse erkannt werden, damit präventive Massnahmen getroffen werden können. Wer eine Skitour plant, erkundigt sich über das Wetter, beschafft sich eine Gore-Tex-Jacke, Skitourenhose und Fausthandschuhe. Verantwortung übernehmen heisst, sich vorzustellen, was passieren könnte. Dazu braucht es Vorstellungsvermögen.

Verantwortung zu übernehmen ist mit Selbstüberwindung verbunden. Man widmet sich nicht nur seinen spontanen Bedürfnissen, sondern stellt seine Begehren zurück und befasst sich mit der Aufgabe. Oft steht diese im Widerspruch zur eigenen Behaglichkeit. Wenn die Dachrinnen mit Laub verstopft sind, dann muss man eine Leiter organisieren, hinaufklettern und eine mühselige Arbeit erledigen, auch wenn man gemütlich in einem Liegestuhl sitzen könnte. Das Wissen, dass man sich um die Aufgabe kümmern muss, treibt an. Man überwindet die eigene Selbst­bezogenheit.

«Ist man verantwortlich,

dann macht man sich Gedanken

um zukünftige Entwicklungen und Gefahren.»

Verantwortungsübernahme setzt die Identifikation mit der entsprechenden Sache, Person oder Arbeit voraus. Man empfindet sie als sein Eigen. Sich zu sorgen wird zu einer persönlichen Angelegenheit. Es kommt zu Rück­koppelungen. Es ärgert einen, wenn eine Störung auftritt, etwas nicht funktioniert oder man die Aufgabe nicht erledigen kann. Umgekehrt lösen Erfolge und äussere Bestätigungen Befriedigung aus, auch wenn man nicht persönlich profitiert. «Wissen Sie, was der schönste Moment meiner Arbeit ist?», fragte mich vor Jahren der Bahnhofsverstand des Hauptbahnhofs Zürich. Wir standen an einer erhöhten Stelle am Ende der Bahnhofshalle. «Es ist der Moment, wo die Intercity-Züge nach St. Gallen, Bern und Basel synchron aus der Halle fahren! Alles hat geklappt.» Er freute sich, obwohl er keinen direkten persönlichen Gewinn hatte. Vorstellungsvermögen, Selbstüberwindung und Identifikation sind die personalen Voraussetzungen zur Übernahme von Verantwortung. Sie fördern die Bereitschaft, sich einer Aufgabe zu widmen.

Abschied von der Unschuld

Verantwortungsübernahme ist ein Prozess. Verpflichtungen und sich einer Aufgabe widmen bedeuten Abschiednehmen von den Vorzügen der Adoleszenz. Der gesellschaftliche Status und der Lebensgroove verändern sich. Man droht die Experimentierfreiheit der Jugendphase zu verlieren. Man bewegt sich nicht mehr in einem adoleszenten Zwischenraum, sondern verliert seine Unschuld und übernimmt eine gesellschaftliche Rolle. Man kann sich nicht mehr primär unter seinen Peers bewegen und sich gemeinsam über die Fehler der Etablierten aufregen, sondern betritt die Arena der potentiell Schuldigen. Man wird zu einem Repräsentanten eines Systems. Man kann Fehler begehen, scheitern und wird zur Rechenschaft gezogen. Mit der Übernahme von Verantwortung tauscht man die Vorteile des Unschuldsstatus und des Lebens in einer Bubble gegen Belastungen ein. Der Habitus verändert sich. Während man im puerilen Unschuldsstatus Forderungen stellen, Kritik äussern und Empörung markieren darf, kann man nun im Extremfall an den Pranger gestellt werden. Verantwortungsübernahme ist mit Risiken verbunden. Hat man Pech, dann wird man beschuldigt, verhöhnt und ausgeschlossen.

Für junge Erwachsene ist darum Verantwortungsübernahme nicht nur attraktiv, sondern auch mit dem Gefühl von Verlust verbunden. Wenn es ihnen materiell gut geht, für sie gesorgt ist und sie sich unter den Gleichaltrigen aufgehoben fühlen, dann gibt es keinen Grund, Verantwortung zu übernehmen. Wieso Freiheiten aufgeben und sich durch Pflichten versklaven lassen, wenn man sich eigenen Projekten, Fantasien, persönlichen Kontakten und der Selbstverwirklichung widmen kann? Besser den Eintritt ins Erwachsenenleben in die Zukunft verschieben! Schliesslich gibt es genügend Tätigkeiten, die eine Verzögerung legitimieren. Man unternimmt Reisen, tritt eine weitere Ausbildung an oder engagiert sich in einem Pop-up-Projekt. Keine Verantwortung zu tragen, bedeutet, ein sorgloses Leben zu führen, alle Möglichkeiten offenzulassen und sich seinen persönlichen Interessen widmen zu können.

Ausserdem erlaubt der Freiraum einen kompromisslosen Blick auf gesellschaftliche oder moralische Zustände. Der Unschuldsstatus macht es leichter, Missstände zu benennen, Forderungen zu stellen und zu protestieren. Da man sich noch nicht schmutzig gemacht hat, gelingt es eher, sich als moralisch integre, selbstlose Alternative zu präsentieren und die Mächtigen in die Pflicht zu nehmen. Man kann sich empören. Oft sind Jugendliche überzeugt, dass sie es besser machen würden als die Alten. Sie stossen politische Debatten an und benennen Missstände, doch gleichzeitig empfinden sie etablierte Diskussionen und politische Manöver als fremdartig. Die Alten sprechen nicht die gleiche Sprache und setzen unvertraute Taktiken ein. Sich anzupassen, würde zu einer Selbstentfremdung und zum Verlust an Ausdrucksfreiheit führen. Ausserdem könnte man nicht mehr die Ideale verkörpern, an denen man sich orientiert, sondern würde nach den eigenen Handlungen beurteilt. Dies ist ein Grund, wieso viele Jugendliche ihre Zukunft lieber vor sich herschieben und die Zeit mit provisorischen Tätigkeiten und Weiterbildungen verbringen, statt in die Arena der Verantwortlichen zu treten und Verpflichtungen zu übernehmen. Die Verlustängste sind grösser als der mögliche Prestige oder materielle Gewinn.

Es braucht eine Zäsur

Vor allem in Wohlstandsgesellschaften und bei stabilen politischen Verhältnissen besteht darum oft keine Notwendigkeit, den adoleszenten Status zu verlassen. Die Annahme von Verantwortung ist darum mit ambivalenten Gefühlen verbunden. Viele Jugendliche verlassen die Komfortzone ungern. Sie ziehen es vor, sich in der Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter wohlig einzurichten. Verantwortung übernehmen sie, wenn man sie direkt oder sanft dazu auffordert. Ohne einen gewissen Druck von Ausseninstanzen bleiben sie in der eigenen Subkultur gefangen. Es ist darum Aufgabe der Gesellschaft, der Schule und der Erziehung, der nächsten Generation bei der Übernahme von Verantwortung beizustehen. Der Übertritt gelingt, wenn er markiert und ritualisiert wird. Gesellschaftlich initiierte und inszenierte Übergänge ins Erwachsenenalter werden von den Jugendlichen als eine Zäsur und Aufwertung erlebt. Sie steigern das Bewusstsein für die Herausforderungen. Schleichende Verantwortungsübergaben hingegen funktionieren nicht, weil Verantwortung keine Ambivalenzen erträgt: Entweder hat man sie oder nicht. Sicherheitsnetze und phasenweise Übergaben von Verantwortung drohen darum den puerilen Unschuldsstatus zu verlängern. Junge Menschen brauchen kollektive Akte, die den Rollenwechsel deutlich machen. Sie realisieren dann, dass eine Lebensphase beendet ist und sie sich Aufgaben zuwenden sollen, bei denen persönliche Bedürfnisse zurückstehen müssen. Ambivalenzen und die Furcht vor dem eigenen Scheitern müssen überwunden werden.

Viele Gesellschaften kennen Handlungen, die den Übertritt in den Erwachsenenstatus markieren. Bar-Mizwa und Bat-Mizwa, Konfirmation, der Jägerschlag, die Jugendweihe, Lehrabschluss, Matura und Rekrutenschule kann man als Eintrittszeremonien ins Erwachsenenalter verstehen, wie auch die «Grand Tour»1 oder das Welschlandjahr. Der Jugendliche trennt sich von seiner familiären Umgebung, besteht Prüfungen, muss Ängste überwinden, bis er Verantwortung übernehmen darf. Die Botschaft ist: Du bist auf dem Weg ins Erwachsenenalter, nun geht es darum, sich an Anliegen und Aufgaben der Gesellschaft zu beteiligen. Die Zeit der Schule, der Unabhängigkeit und Delegation der Macht an die Alten ist definitiv vorbei.

Alle und niemand ist zuständig

Die Verantwortungsübergabe durch gesellschaftliche Rituale hervorzuheben, ist heute nicht populär, stattdessen plädiert man für den fliessenden Einstieg. Die Approbation als Lehrperson oder Psychotherapeut erhält man nicht mit dem Diplom, sondern es gilt noch weitere Ausbildungsgänge und Probejahre zu bestehen. Ein klarer Bruch nach der Lebensphase, wo man die Schulbank gedrückt, den Eltern gehorcht und das Wissen der Alten repetiert hat, wird vermieden. «Man hat nie ausgelernt», ist die Botschaft. Sich als ausgereift zu verstehen, gilt heute als Zeichen der Stagnation. Nach Abschluss der Berufsausbildung muss man sich darum spezialisieren und Weiterbildungen antreten. Man bleibt im Lernmodus. Es gilt sich weiterhin anzupassen und den Alten zuzuhören. Es ist jedoch ein Trugschluss zu glauben, dass längere Ausbildungszeiten auch bessere Berufsleute produzieren. Vieles lernt man erst in der Praxis, wenn man im Stress ist, Konflikte meistern und für sich selbst sorgen muss. Was Verantwortung bedeutet, weiss man erst, wenn man eine entsprechende Position inne­hat.

«Junge Menschen brauchen Möglich­keiten,

direkt Verantwortungen zu übernehmen.»

Ein weiteres Problem ist, dass sich in vielen Berufen eine Absicherungsmentalität verbreitet hat. Verantwortlich sind nicht primär Personen, sondern bürokratische Abläufe oder Teams. Man will Vorwürfe abwehren und sich vor Anklagen schützen. In der Schule werden Entscheide im Team und unter Absprache mit Fachpersonen gefällt. Die Folge: Alle und niemand ist zuständig. In anderen Berufen überlässt man Algorithmen die Entscheidung. Für Neueinsteiger bedeutet dies, dass sich der Eintritt in die Verantwortung weiter nach hinten verschiebt. Das System dispensiert die jungen Menschen vor direkten Verantwortungsübernahmen und verhindert dadurch eine Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit.

Übergebt den Jungen das Zepter!

Junge Menschen brauchen Möglichkeiten, direkt Verantwortungen zu übernehmen. Es geht nicht um geführte, kontrollierte, reglementierte und observierte Tätigkeiten, sondern um Aufgaben, für die sie ganz zuständig sind. Geht etwas schief, dann müssen sie geradestehen. Nur effektive Verantwortungsübergabe löst das Gefühl aus, für eine Tätigkeit die Federführung zu haben. Verantwortungsübergaben könnten in der Schule beginnen. Es gibt keinen Grund, wieso Schülerinnen und Schüler sich nicht in einem Schulbetrieb praktisch engagieren sollen. In einer Schule in Kyoto sind die älteren Schüler für das Mittagessen verantwortlich: die Menüwahl, die Zubereitung des Essens, das Mise-en-place, das Servieren und das Aufräumen in der Mensa. Kein Erwachsener ist präsent. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten funktionierte der Mittagstisch. Die Jugendlichen wuchsen über sich heraus und waren stolz auf ihre Leistung. Ebenfalls nehmen Pfadfinderorganisationen und sportliche Vereine Jugendliche in die Verantwortung. Die Jugendlichen sind für die Programme, Disziplin und Lager zuständig. In der Musikszene gibt es Jugendliche, die Konzerte organisieren, Bands bilden, Konflikte lösen und sich selbst disziplinieren. Ich selbst erlebe im Programm Cliqcliq, das ich leite, welche beeindruckende Einsatzbereitschaft Jugendliche zeigen, wenn man ihnen das Zepter überlässt.2

Leider herrscht in akademischen Berufen und Fachhochschulen die gegenläufige Tendenz. Spezialisierungen und Akademisierung sind angesagt. Zusatzausbildungen werden für jede neu identifizierte Tätigkeit verlangt. Man studiert Theorien, statt dank Erfahrungen gescheiter zu werden. Es gilt sich Zusatzkenntnisse in formalisierten Weiterbildungsgängen anzueignen, bevor man aktiv sein kann.

Die jungen Menschen werden so zur Anpassung gezwungen, können sich nicht schuldig machen und dank Misserfolgen wachsen. Ein Segen für die Schweiz ist hingegen die Berufslehre. Sie ist der Ort, wo Jugendliche noch ins kalte Wasser geworfen und mit Herausforderungen konfrontiert werden, die ihr Verantwortungsbewusstsein stärken. Am System der Berufslehre sollten sich auch akademische Berufe orientieren.

  1. Die obligate ein- bis zweijährige Reise, die man im 19. Jahrhundert in England vor dem Berufseinstieg machen musste. Es galt sich mit
    möglichst wenig Geld durchzuschlagen.

  2. http://www.cliqcliq.ch

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