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Die Schweizer – ein Volk von Zugezogenen

Wenn in Schillers «Tell» geschrieben steht, dass die Schweizer nicht immer schon ansässig, sondern Nachkommen armer Einwanderer waren, dann böte sich hier die konstruktive Grundlage einer Fortentwicklung urschweizerischer Identität.

Bei patriotischen Anlässen in der Schweiz fehlt garantiert eine Figur nie: Wilhelm Tell. Der treffsichere Schütze aus Uri taucht meist gerade dann auf, wenn die Schweiz als Nation legitimiert werden soll. Nicht selten handelt es sich dabei um eine restriktive Legitimation, bei der das Land als ein riesiges Luxushotel erscheint: jeder ist willkommen, aber bleiben können nur diejenigen, die genug Geld haben oder die bereit sind, die schmutzige Wäsche zu besorgen. Es sei denn, man sei Nachkomme von denen, die «immer schon» in diesem Hotel wohnten, von richtigen Tellensöhnen und -töchtern eben.

Denkbar wäre aber auch eine völlig andere Interpretation des Tell-Mythos, eine, in der die Schweiz als weltoffenes Land und die Schweizer als ein Volk von Migranten erscheinen. Diese Interpretation stützt sich auf eine genaue Lektüre der berühmten Rütli-Szene, so wie wir sie bei Friedrich Schiller in der klassischen Tell-Geschichte vorfinden. Aus dieser Szene geht hervor, dass Tell und seine Mitbürger keineswegs «seit Ewigkeiten» in der Schweiz wohnten, sondern dass die Schweizer Nachkommen von Einwanderern sind. In der zweiten Szene des zweiten Aktes erklärt Werner Stauffacher die Herkunft der Eidgenossen folgenderweise: «Es war ein großes Volk, hinten im Lande / Nach Mitternacht, das litt von schwerer Teurung. / In dieser Not beschloss die Landsgemeinde, / Dass je der zehnte Bürger nach dem Los / Der Väter Land verlasse – das geschah.» Mit anderen Worten werden bei Schiller die Schweizer eindeutig als Nachkommen von Ausländern dargestellt, die eines Tages zur Auswanderung gezwungen waren. Und nicht nur das: als diese Auswanderer nach langer Wanderung beschliessen, sich im Muotatal definitiv niederzulassen, wohnten dort bereits (andere) Menschen. Ganz klar ist Schiller hier nicht, einerseits heisst es: «Nicht Menschenspuren waren hier zu sehen», aber dennoch: «nur eine Hütte stand am Ufer einsam, / Da sass ein Mann und wartete der Fähre.» Über diesen Mann in der Hütte wird weiter nichts ausgesagt, obwohl er im Stück der einzige «wahre» Schweizer ist, der einzige, der sozusagen «immer schon» dort wohnte. Als Stauffacher weiterfährt und erzählt, dass die Einwanderer beschlossen, im Muotatal «den alten Flecken Schwyz» zu erbauen, ist nicht klar, was mit dem Mann in der Hütte passierte. Durfte er sich am Bau von Schwyz beteiligen? Hat er sich mit den Migranten vermischt? Oder wurde er von ihnen vertrieben oder gar umgebracht? Offenbar hatten die «alten Hirten», von denen Stauffacher die Ursprungsgeschichte der Schweiz erfahren haben soll, auf solche Fragen keine Antwort.

Verdrängter Zündstoff

Erstaunlicherweise ist dieser phantasievollen Herkunftsgeschichte weder von traditionalistischer noch von progressiver Seite grosse Bedeutung beigemessen worden. So überrascht die Tell-Figur etwa in einem Schimpflied aus dem 19. Jahrhundert gegen auswanderungswillige Schweizer, wo es heisst: «Die Väter, die in Unglückstagen / nie feig aus ihrer Heimat flohn, / die Tell und Winkelriede klagen / um dich, um den verlornen Sohn. / So lebe für Amerika! […] Als Schweizer leb und sterb’ ich da!»

Es wundert nicht wenig, dass Tell gerade in diesem Schimpflied aufgeboten wird, heisst es doch im Tell-Stück unmissverständlich, dass er, so wie alle anderen Schweizer, selber Nachkomme von Auswanderern ist. Es zeigt, wie wenig die Tell-Interpretation problematisiert und wie jahrhundertelang über den revolutionären Zündstoff hinweggesehen wurde, der im Tellschen Herkunftsmythos der Schweizer steckt.

Dass reaktionäre Kräfte in der Schweiz nicht geneigt waren, diese Herkunftsgeschichte Teil der Schweizer Identität werden zu lassen, leuchtet ein. Umso mehr wundert es aber, dass bei progressiven Intellektuellen nicht das Umgekehrte passiert ist. Zwar erschien Tell gelegentlich als Symbol für eine revolutionäre, kämpferische Schweiz, wie etwa in Gertrud Leuteneggers «Das verlorene Monument» (1985) oder neulich bei Eveline Hasler in «Tells Tochter» (2004), aber in der Regel haben sich progressive Intellektuelle darum bemüht, den Tell-Mythos zu bekämpfen oder zu parodieren. Bezeichnend ist die Aussage Ludwig Hohls aus dem Jahre 1954, wonach der wahre Gessler heute Wilhelm Tell sei. Das bekannteste Beispiel ist selbstverständlich Max Frischs «Wilhelm Tell für die Schule» (1971). Frisch erwähnt darin zwar die sonderbare Herkunftsgeschichte der Schweizer, aber ohne irgendwelchen Kommentar. Vielmehr geht es ihm darum, einen sich auf Tell stützenden Nationalstolz als falsch zu entlarven. Dass das Buch als Schullektüre konzipiert oder wenigstens präsentiert wurde, unterstreicht den Wunsch, eine Schweizer Jugend ohne Nationalhelden (wie Tell) heranwachsen zu lassen.

Im nachhinein stellt sich die Frage, ob dies eigentlich so klug war, ob es vielleicht nicht intelligenter gewesen wäre, eine so mächtige Figur für die Schweizer Identitätsbildung zukunftsträchtig umzuinterpretieren und für die intellektuelle Modernisierung des Landes einzusetzen. In diesem Zusammenhang möchte man an Leonhard Ragaz erinnern, den religiösen Sozialisten, der bereits 1918 in seinem «Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen» Wilhelm Tell zur Leitfigur einer «neuen Schweiz» machen wollte. Und dies nach der Devise: «Machet das Sinnbild des Wilhelm Tell aus einem Hohn wieder zu einer Wahrheit!»

Wenn nun jemand wie Adolf Muschg in «Ein Land kommt sich abhanden» (1998) den schönen Satz schreibt: «Identität ist nichts, was feststeht […] Identität wächst, und die Nahrung für dieses Wachstum zieht sie aus ihrer Geschichte», hätte man hoffen können, bei ihm Ideen oder Projekte für eine zukunftsträchtige Schweiz zu finden, die aus der Geschichte des Landes hervorgegangen wären. Jedoch, genauso wie Frisch war Muschg zwar Meister in der Dekonstruktion der eigenen Geschichte, bot aber kaum brauchbare Alternativen für die Zukunft der Schweiz an, schon gar nicht solche, die sich auf die Geschichte des Landes stützen würden. In ihrem Eifer, alle identitätsstiftenden Mythen aus der Vergangenheit nach dem Vorbild Deutschlands auf den Schrotthaufen zu werfen, vergassen Schweizer Intellek-tuelle allzu leicht, dass mit dem Tell-Mythos die Bevölkerung auch auf eine multikulturelle Schweiz eingestimmt werden könnte.

Passagiere dritter Klasse

Zu erwähnen ist hier die «geistige Landesverteidigung», die Kulturpolitik der 30er Jahre, die gemeinhin als Sündenbock gilt für alles, was seit dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz schiefgelaufen ist. Es spricht für sich, dass verschiedene Aspekte dieser Kulturpolitik kritikbedürftig sind, in erster Linie die Tatsache, dass es im schönen Bild der viersprachigen Schweiz kaum Platz für (jüdische) Flüchtlinge gab. Dennoch ist erstaunlich, dass gerade zu einer Zeit, als überall in Europa der Monokulturalismus triumphierte, die Schweiz sich für ein multikulturelles Gegenmodell entschied, worin jede Sprachgemeinschaft prinzipiell als gleichwertig galt und der germanische «Übermensch» ausgeschlossen blieb.

Leider brachte das Land nach dem Krieg nie mehr den Mut auf, die progressiven Elemente der damaligen Kulturpolitik weiterzuentwickeln. Denn auch nachdem die faschistische Bedrohung schon längst verschwunden war, blieb die Schweizer Mentalität vierkulturell geschlossen. Das Resultat war, dass Ausländer in diesem Modell höchstens Platz hatten als «Passagiere dritter Klasse» wie Walter M. Diggelmann 1978 schrieb.

Das hätte anders sein können, wäre Schillers Tell richtig gelesen worden. Der Gründungsmythos der Schweiz, so wie er aus diesem Stück hervorgeht, hätte gerade dort ansetzen können, wo die geistige Landesverteidigung stecken geblieben war. Er ermöglicht nämlich eine andere, zukunftsträchtigere Konzeption einer Nation, als wir sie gemeinhin in Europa antreffen. Eine Definition dieser Konzeption findet man bei dem an der Princeton University lehrenden ghanesischen Philosophen Kwame Anthony Appiah, der den Unterschied zwischen Amerikanern und Europäern in Sachen Identität und Nationalbewusstsein dadurch erklärt, dass es in der Alten Welt in allen Territorien Menschen gibt, die glauben, schon immer dort gewesen zu sein, während sich in der Neuen Welt jeder als einen begreift, der aus allen möglichen Gründen von anderswo kam. Entsprechend ist in Europa die Einstellung ganz natürlich: Wir gehören hierher, ihr seid unsere Gäste, also diktieren wir die kulturellen Normen.

Über das Vierkulturelle hinaus

Wenn es nun aber bei Wilhelm Tell heisst, dass die Schweizer selber Nachkommen von Auswanderern seien, die in der Fremde eine neue Heimat aufgebaut hätten, trifft dies eine durch und durch amerikanische Konzeption, eine, die den Anderen, den Fremden unter Berufung des Grundbesitzes unmöglich ausschliessen kann; denn das Land selber erscheint hier als ein «no man’s land», das jedem offensteht. So gesehen, gäbe es kaum noch einen Unterschied zwischen einem Nachkommen jener Schweizer, die sich 1291 auf dem Rütli getroffen haben und dem Kind eines 1991 nach Zürich ausgewanderten Tamilen oder Pakistani. Beide wären dann Nachkommen von Wirtschaftsflüchtlingen, von solchen die, wie es bei Schiller heisst, «von schwerer Teurung gezwungen», das Land ihrer Herkunft verlassen und sich nach langen Strapazen in der Schweiz niedergelassen haben. Mit einer solchen Auffassung von Identität wäre die Schweiz viel besser auf die Herausforderungen vorbereitet, die sich in einer globalen Welt stellen. In der gleichen Schweiz, die einst den Mut gehabt hatte, dem monokulturellen Faschismus die multikulturelle Demokratie entgegenzusetzen, hätte sich so die Möglichkeit geboten, die Nation auf eine multikulturelle Realität vorzubereiten, die weiter ging als nur eine von vier Kulturen. Dass dies nicht passierte, ist nicht nur den reaktionären Kräften des Landes zuzuschreiben; auch die progressiven Intellektuellen trugen dazu bei, da sie schonungslos die Mythen aus der Vergangenheit verketzerten, ohne sich um wirksame Alternativen zu kümmern.

Dennoch hat es unter Schweizer Intellektuellen durchaus Denkanstösse im Sinne einer multikulturellen Auffassung von Identität gegeben. Man denke hier etwa an Blaise Cendrars, der sich selber als «bourlingueur» zu bezeichnen pflegte, was abgeleitet vom Verb «bourlinguer», soviel wie «Weltenbummler» bedeutet. Cendrars, dessen Biographie tatsächlich einer grossen Wanderreise gleicht, konnte mit einer Identität, die sich lediglich auf die Charakteristika des Geburtsortes beschränkt, nichts anfangen. Zu Recht heisst es denn auch in Claude Leroys «Le bourlingueur des deux rives» (1995): «[Cendrars] voyage pour métisser. Pour se métisser.» Es ist kein Zufall, dass sich Leroy hier für eine Metapher aus der lateinamerikanischen Kultur entscheidet, schliesslich lässt sich Cendrars Werk kaum ohne die zentrale Rolle verstehen, die Brasilien darin spielt. Dass eine solche lateinamerikanische Konzeption auch für ein Land wie die Schweiz zukunftsträchtig sein könnte, meint Daniel Maggetti, der in «L’appel du large» (1995) schreibt: «Cendrars nous renseigne sur l’actualité d’un nouveau modèle d’identité – la vision d’une Suisse ouverte, voire même d’une Suisse nomade et aventureuse.»

Für die deutschsprachige Schweiz wäre der relativ unbekannte Lyriker und Philosoph Adrien Turel zu nennen, der sich selbst ein «revenant» nannte, nach dem französischen Begriff, der sowohl Heimkehrer wie auch Gespenst bedeuten kann. Turel war 1890 in Sankt Petersburg geboren worden, lebte als Kind in Lausanne und wuchs in Berlin und Frankfurt auf, bis die Nazis an die Macht kamen und er sich 1934 zunächst nach Paris und ein Jahr später nach Zürich absetzte, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1957 blieb. Von Turel stammt ein Roman mit dem Titel «Dein Werk soll deine Heimat sein» (1942). Er verabschiedet sich damit noch während des Zweiten Weltkrieges von einem Heimatbegriff, der sich auf Sprache, Blut oder Boden stützt. Interessant ist auch das Gedicht «Wohin ich trete, ist mir wie Geburt», das man in der heutigen Literaturwissenschaft als «nomadisch» bezeichnen würde, heisst es doch: «So, wie ich schreite, muss ich mich verwandeln. / Drum zögr’ ich auch jungfräulich jeden Schritt.» Anstatt, wie wohl die meisten Migranten, die aus Deutschland vor dem Naziterror flohen, ein Leben lang den Verlust der Heimat zu beklagen, zeigt sich Turel zuversichtlich, dass sich überall auf der Welt eine Heimat finden lässt, dass Heimat nicht unbedingt eine Frage der Geburt oder Abstammung sein muss, sondern auch ein intellektueller Entscheid sein kann.

Das Alphorn als multikulturelles Symbol

Kaum ein Schweizer Autor hat so stark mit multikulturellen Denkansätzen experimentiert wie Hugo Loetscher. Besonders im Sammelband «Der Waschküchenschlüssel» (1983) lassen sich Parallelen zur neuen Interpretation der Tell-Geschichte ziehen. Um zu verdeutlichen, dass die Schweiz ohne das Ausland nicht auskomme, benutzt Loetscher ein traditionelles identitätsstiftendes Symbol der Schweiz: das Alphorn. «Ein richtiges Alphorn», so erklärt er, «wird mit Bambus eingewickelt – in welchem Alpental aber wächst Bambus?» Anstatt dieses Symbol zu verketzern und jene Schweizer, die auf Alphornmusik stolz sind, lächerlich zu machen und in die reaktionäre Ecke zu verdammen, versucht er vielmehr, es neu zu interpretieren. So wird ausgerechnet das Alphorn zum Symbol einer multikulturellen Schweiz. Noch deutlicher ist dies in der Geschichte «Helvetische Flurbereinigung». Dort untersucht Loetscher, was wohl passierte, wenn man in der Schweiz die Parole «Ausländer raus» konsequent in die Praxis umsetzen würde. Anfangen müsste man mit den Kirschen, die gingen zurück nach Italien, dann kämen die Kartoffeln und Tomaten dran, die zurück nach Südamerika müssten, am Ende müsste man sogar die Schweizer selber wegschicken, denn: «Die Vorfahren unserer Vorfahren sind einst eingewandert […] Wenn dem aber so ist, drängt sich die Überlegung auf, ob wir, aus Respekt vor dem Land, wie es einmal war, nicht besser selber auswandern würden. Ohne Zweifel wäre das Schweizerland dann öd und menschenleer, aber dafür ursprünglich wie noch nie.» Loetscher zeigt hier, dass die Schweizer Identität ohne das Fremde nicht auskommt und im Grunde genommen gar nicht so viel anders ist, als die einer kreolischen Kultur in Lateinamerika.

Eine ähnliche Idee findet sich bei Peter Bichsel im Aufsatz «Chaotisch wie die Sprache selbst» (2000). Anstatt die Sprache als Teil unserer Identität bedingungslos festlegen und schützen zu wollen, schlägt Bichsel vor, gerade dieses starke identitätstiftende Symbol «kreolisieren» zu lassen und schreibt: «Ich würde mich sehr freuen darüber, wenn dieser Text – den ich hier schreibe – in hundert Jahren nicht mehr lesbar wäre, weil die Sprache inzwischen gewachsen wäre.» Resigniert fügt er aber hinzu: «Leider werden das schulmeisterliche Sprachpuristen verhindern.» Die Identität, für die Bichsel plädiert, ist also keine, die sich gegenüber dem Fremden verschliesst, sondern die das Fremde verstärkt in sich aufnimmt, ohne die Veränderungen als Verlust zu betrachten; sie ist vielmehr eine Chance, damit Neues entsteht.

Dieser Satz liesse sich ins Unendliche wiederholen, etwa: «Ich würde mich freuen, wenn die Schweizer Kultur in hundert Jahren für mich nicht mehr wiederzuerkennen wäre, weil sie inzwischen gewachsen wäre.» Dies aber wird nur dann möglich sein, wenn eines Tages alle, die in der Schweiz geboren werden, seien sie Nachkommen von solchen, die bereits vor Jahrhunderten oder von solchen, die erst seit Jahrzehnten in die Schweiz eingewandert sind, stolz werden sagen können: Auch ich bin ein Kind von Wilhelm Tell.

Jeroen Dewulf, geboren 1972, ist Dozent für Germanistik an der Universität Porto und Mitglied der Forschungsgesellschaft CIEG der Universität Coimbra.

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