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Die Schweiz wirkt polarisierter, als sie ist
Nenad Stojanović, fotografiert von Alain Amherd.

Die Schweiz wirkt polarisierter, als sie ist

Die direkte Demokratie legt gesellschaftliche Konflikte offen. Gleichzeitig wirkt sie integrativ, weil sich bei Sachfragen wechselnde Mehrheiten bilden.

Früher war bekanntlich alles besser. Unsere subjektive Wahrnehmung ist stark von der Gegenwart und der nahen Vergangenheit geprägt. Und dadurch oft irreführend. Umfragen zeigen regelmässig, dass die Mehrheit der Bevölkerung stets glaubt, früher sei die Kriminalität tiefer als heute gewesen. Gemäss Statistiken ist aber generell das Gegenteil wahr. Viele finden auch, dass die heutige Jugend sehr verdorben sei. Ähnlich äusserten sich schon griechische Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles über die Jugendlichen ihrer Zeit.

Solche Realitätsverzerrungen prägen auch unsere Sicht der schweizerischen Politik. Wie oft haben wir etwa von einer «Zunahme der Polarisierung» oder dem «Ende der Konkordanz gehört? Früher war alles besser, früher herrschten Harmonie und Adolf Ogis Freude.

Mythen rund um die Zauberformel

Wirklich? Die Realität ist deutlich komplexer. Denken wir an die alte Zauberformel, die ja als Ausdruck der Konkordanz gilt und die man als Zeichen der damals vermutlich tieferen Polarisierung interpretieren könnte. Man muss nur einmal die parlamentarischen Protokolle und Zeitungen vom Dezember 1959 lesen, um festzustellen, dass die Formel nicht durch einen Zauber entstanden ist. Die FDP hat sich bis zum letzten Tag vehement dagegen gewehrt und ist nur unterlegen, weil das Bündnis zwischen der SP und der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei (später CVP) die Mehrheit in der Bundesversammlung hinter sich brachte. Kaum eine Partei gibt «freiwillig» einen Teil ihrer Macht auf.

Es empfiehlt sich also, die im öffentlichen Diskurs, aber auch in politikwissenschaftlichen Arbeiten dominante Floskel vom «freiwilligen Proporz» zu hinterfragen. Damit will ich nicht sagen, dass sich etwa die Polarisierung oder die Konkordanz seit den 1960er- oder ’70er-Jahren nicht verändert hätten. Das Verhalten der politischen ­Akteure sowie die strukturell-institutionellen Rahmen­bedingungen befinden sich immer in einem dynamischen Prozess. Es herrscht zwar ein breiter Konsens unter Politologinnen und Politologen, dass die Schweizer Politik seit Ende der 1980er-Jahre kompetitiver und konfliktueller geworden sei. Entscheidend sind dabei natürlich die ausgewählten Indikatoren, auf denen solche Analysen basieren. Es ist zum Beispiel unbestritten, dass es im Parlament schwieriger geworden ist, breite Koalitionen zu finden. Bundesrats­mitglieder verletzen das Kollegialitätsprinzip häufiger als früher. Die Wahl- und Abstimmungskämpfe sind deutlich kompetitiver geworden. Auch hat die Zahl der angenommenen Volksinitiativen seit 1994 deutlich ­zugenommen.

Auf der strukturellen Ebene ist zu beobachten, dass die Stellung des Parlamentes gegenüber dem Bundesrat stärker geworden ist. Auch die politischen Parteien sind organisatorisch und finanziell viel kräftiger als früher. Parallel, und vielleicht als Konsequenz davon, hat sich der zentrale Ort der Entscheidungsfindung langsam von den Interessengruppen (vor allem Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften) auf die Ebene der Parteipolitik verschoben. Eine im Jahr 2010 veröffentlichte Studie, die auf den Daten der Online-Wahlhilfe «EU-Profiler 2009» basiert, behauptete, das Schweizer Parteiensystem sei inzwischen stärker polarisiert als jenes in Frankreich, Deutschland, Österreich, den Niederländen oder sogar in Grossbritannien. Als Grund werden unter anderem der Aufstieg der SVP und ­ihres Zürcher Flügels sowie die damit verbundenen Aus­einandersetzungen zu den Themen wie Europa- und Ausländerpolitik angeführt.

Das polarisierteste Land Europas?

Eine andere Studie von 2015 zeigt sogar, dass das Parteiensystem der Schweiz das am stärksten polarisierte in ganz Europa ist, wenn man die wirtschaftlichen und die sozio-kulturellen Politikpositionen betrachtet. Diese Behauptung basiert aber ausschliesslich auf einer Umfrage unter Experten, welche die verschiedenen Parteien aufgrund der eigenen Landesexpertise beziehungsweise Wahrnehmung bewertet haben. Für die Schweiz wurden also Expertinnen und Experten der Schweizer Politik beigezogen. Wie gut sich diese Bewertungen der schweizerischen Parteien mit denjenigen der Expert(inn)en aus den anderen Ländern vergleichen lassen, um dann eben behaupten zu können, dass die Parteien im Land X polarisierter als im Land Y seien, bleibt eine offene Frage.

Tatsächlich muss das Bild einer extrem stark polarisierten Schweiz nuanciert werden. So haben Klaus Armingeon und Sarah Engler in einer 2015 veröffentlichten ­Studie gezeigt, dass in der Schweiz die Parteiwählerschaft (insbesondere jene von SP und Grünen gegenüber der SVP) zwar relativ polarisiert ist – wenn auch weniger als in Frankreich und Österreich –, dass aber die Gesamtwählerschaft deutlich weniger polarisiert ist als in den anderen Ländern: Nur in Finnland und den Niederlanden findet man tiefere Werte. Einen besonderen Fokus haben die zwei Wissenschafter auf den politisch zentralen Konflikt zwischen «Öffnung und Schliessung» gelegt.

 

«Bei gewissen Fragen sind die Wählerinnen und Wähler der
verschiedenen Parteien weniger polarisiert als ihre Vertreter.»

 

Aufschlussreich ist zudem, dass bei gewissen Fragen die Wählerinnen und Wähler der verschiedenen Parteien weniger polarisiert sind als ihre Vertreter. So hat eine vor kurzem erschienene Studie von Lukas Lauener gezeigt, dass bei der Frage der EU-Integration die Kandidatinnen und Kandidaten bei den eidgenössischen Wahlen 2019 «extremere Positionen als ihre Wählerschaft» hatten. Inter­essanterweise ist sowohl die Wählerschaft des linken Pols (SP/Grüne) wie auch jene des rechts-konservativen Pols (SVP) offener gegenüber einer Annäherung an die EU als die Vertreter der jeweiligen Parteien.

Dynamik und Stabilität

Vorsicht ist auch geboten bei der Interpretation der Ergebnisse einzelner Volksabstimmungen, die je nach Thema ­einen Gegensatz zwischen Stadt und Land oder zwischen den Sprachregionen zeigen. Erstens nimmt dabei im Durchschnitt weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten teil. Eine Person, der das Ergebnis einer Abstimmung gleichgültig ist, kann per Definition nicht Teil einer polarisierten Bürgerschaft sein. Zweitens sind die Abstimmungen themenabhängig. Je nach Thema ist jeder von uns – falls stimmberechtigt und willig, das Stimmrecht wahrzunehmen – manchmal in der Minderheit und manchmal in der Mehrheit. Gerade diese Dynamik der wechselnden Mehrheiten und Minderheiten ist von zentraler Bedeutung für die Stabilität und die politische Integration von politischen und kulturellen Minderheiten sowie für die all­gemeine Akzeptanz der direkten Demokratie. Die direkte Demokratie mit ihrer Ja/Nein-Logik bei Abstimmungen zwingt die Parteien sowie die Bürgerinnen und Bürger zu einer klaren Meinungsäusserung, was die Wahrnehmung der Polarisierung sicher verstärkt, aber sie spaltet nicht die ganze Gesellschaft in zwei klare Lager, was Ausdruck einer starken Polarisierung wäre.

Konkordanz nach 2023

Welche Schlussfolgerungen können wir für die eidgenössischen Wahlen 2023 ziehen? Erstens wird die Polarisierung – wie auch immer wir sie definieren und messen wollen – nicht eine grössere oder kleinere Rolle spielen als in den vergangenen Jahren. Eher dürften die politischen Auseinandersetzungen entlang anderer Themen und Konflikt­linien (wie Energiekrise oder Neutralität) verlaufen, als das bei den letzten Wahlen der Fall war.

Zweitens sind nach den Wahlen Verschiebungen der aktuellen Zauberformel im Bundesrat kaum zu erwarten, es sei denn, Ignazio Cassis träte zurück und die Mitte-­Partei würde zusammen mit der GLP den Sitz zu erobern versuchen. Die Grünen könnten einen Bundesratssitz nur bekommen, wenn sie einen SP-Sitz angreifen. Das können sie sich in der heutigen Lage, auch angesichts der Listenverbindungen und Allianzen bei den Ständeratswahlen zwischen den beiden Parteien, nicht leisten. Viel spannender ist die Frage, wann Ueli Maurer zurücktritt und wer von der SVP seinen Platz übernimmt. Dass sein Sitz in der SVP bleibt, wird aber von den anderen Parteien nicht in Frage gestellt. Einzig wenn die SVP dem Parlament nur eine einzige Kandidatur präsentieren würde, die man als potentiell unkollegial à la Christoph Blocher einstuft, könnten die anderen Parteien in die Versuchung kommen, eine Alternative zu suchen.

Früher war alles besser? Es mag sein, dass die Schweizer Politik zwischen der Abwahl von Ruth Metzler 2003 und der Wahl von Guy Parmelin 2015, also zwischen dem Abbruch der alten und der Konsolidierung der neuen Zauberformel, eine relativ turbulente Zeit durchlebte. Es ging vor allem um die Frage der Integration der stärksten politischen Kraft in den Bundesrat, und zwar mit den von der SVP abgesegneten Kandidaten, die gleichzeitig akzeptabel für die andern Parteien waren. Es ist auch kein Zufall, dass die «Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft» gerade im Jahr 2015 ein Sonderheft mit dem Titel «Consensus lost? Disenchanted Democracy in Switzerland» ver­öffentlichte, wo die vermutlich starke Zunahme der Polarisierung im Zentrum der Debatte stand. Seither ist es deutlich ruhiger um die Hypothese einer starken Polarisierung und des «Endes der Konkordanz» geworden.

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