«Die Schweiz wird nie energieautark sein»
Welche Technologien soll die Politik wie fördern, um die Energieversorgung des Landes zu gewährleisten? Würde man hierzu am besten ganz auf den Import setzen? Doris Leuthard beantwortet Fragen, die sich aus unserem Energiedossier (Juni 2014) ergeben haben.
Frau Leuthard, was genau hat Sie veranlasst, Ihre Position zur Kernenergie nach dem Reaktorunglück von Fukushima zu ändern?
Der Bundesrat hat einen Grundsatzentscheid für den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie getroffen, der auch durch das Parlament bestätigt wurde. In der Energiestrategie 2050 will der Bundesrat deswegen das Kernenergiegesetz dahingehend ändern, dass keine Rahmenbewilligungen für den Bau neuer Kernkraftwerke mehr erteilt werden dürfen. Ich habe meine Position gegenüber der Technologie nicht geändert. Sie hat vor allem wegen der CO2-freien Produktion ihre Vorteile. In der Energiepolitik brauchen wir eine technologieoffene Diskussion. Derzeit überwiegen die Nachteile der Kernenergie deutlich. Die hohe Fachkompetenz ist aber weiterhin nötig, sei es beim Betrieb bestehender Werke, für die Stilllegung oder auch für die sicherheitstechnische Beurteilung.
Bei erneuerbaren Energien oder smarten Netzen geht die Politik pauschal davon aus, dass der technische Fortschritt gross sein und eine längerfristige Umsetzung der Energiestrategie des Bundesrats vereinfachen wird. Sind denn grosse und interessante Technologiesprünge nicht auch bei konventionellen Kraftwerkstechnologien zu erwarten – also bei der Kernkraft oder bei fossilen Kraftwerken? Sollte eine Energiepolitik und ihr Förder- bzw. Lenkungssystem nicht grundsätzlich offen sein für alle Technologien?
Wir gehen keineswegs von pauschalen Annahmen aus. Selbstverständlich sind auch bei konventionellen Kraftwerken technologische Weiterentwicklungen wahrscheinlich. Allerdings spricht man bei der Kerntechnologie seit Jahrzehnten davon. Die Energiepolitik muss für alle Technologien offen sein – nicht nur für Produktions-, sondern speziell auch für Effizienz- und Speichertechnologien. Da wir jetzt entscheiden müssen, wohin die Reise geht, ist klar, dass die erneuerbaren Energien die Nase vorne haben. Angesichts der allgemeinen Forderung nach mehr Marktnähe erscheint es zudem aber fraglich, ob der Staat für die technische Weiterentwicklung konventioneller Produktionsformen Subventionen sprechen soll. Solche Entwicklungen sollen durch die Technologieunternehmen im Markt erfolgen. Sie können sich so mit verbesserten, effizienteren Kraftwerkstechnologien differenzieren und sich Wettbewerbsvorteile verschaffen. Da muss sich der Staat nicht einmischen.
Gehen wir davon aus, dass weiterhin ein mässiges Bevölkerungswachstum von 1 Prozent pro Jahr stattfinden wird und dass deshalb der Stromverbrauch im Jahre 2050 circa 85 Milliarden kWh betragen wird und nicht nur 60 Milliarden kWh wie in der Botschaft des Bundesrats vom September 2013 geschätzt. Aus welchen Stromquellen wird diese zusätzliche Nachfrage dannzumal gedeckt werden können?
Es geht nicht darum, eine Stromproduktion aufzubauen, um einen hypothetischen Strombedarf zu decken. Wie für die Internationale Energieagentur (IEA) auch, hat für uns die Steigerung der Effizienz und damit die Reduktion des Verbrauchs erste Priorität. Die Nachfrageentwicklung muss jedoch auf jeden Fall genau und vorausschauend beobachtet werden. Dazu ist in der Energiestrategie ein Monitoring vorgesehen. Damit wird die Zielerreichung untersucht und die Effizienz, Effektivität und das Zusammenspiel der energiepolitischen Instrumente jeweils evaluiert. Bedenken Sie zudem, dass wir europaweit Überkapazitäten haben. Eine rein schweizerische Marktbetrachtung ist verfehlt.
Die Energiestrategie des Bundesrats will letztlich eine «Versorgungslücke» verhindern, indem der Ausbau von erneuerbaren Energien im Inland forciert und die Nachfrage reduziert wird. Gleichzeitig aber gibt es in Europa zu viel Strom. Warum erhöht die Schweiz nicht einfach die Stromimporte?
Die Schweiz war, ist und wird nie energieautark sein. Rund 80 Prozent des Energiebedarfs importieren wir heute – insbesondere fossile Brenn- und Treibstoffe und Kernbrennstoffe. Beim Strom sieht es anders aus. In den Wintermonaten sind wir auch hier seit vielen Jahren auf Stromimporte angewiesen. Der Bund hat das Potenzial der Erneuerbaren im Inland skizziert, daraus wurden gewisse Zubauziele definiert, die in der Energiestrategie festgehalten sind. Werden diese Ziele nicht erreicht, müssen wir vermehrt Strom importieren. Der Markt und nicht der Staat entscheidet, ob die Investitionen in der Schweiz getätigt werden und wir hier neue Kraftwerke zubauen oder ob im Ausland investiert wird und wir vermehrt auf Import setzen.
Heimische Kraftwerksbetreiber beklagen sich über rekordtiefe Preise im europäischen Stromgrosshandel. Kann die Schweiz etwas gegen diesen Preissturz unternehmen? Und muss sie das aus Ihrer Sicht überhaupt?
Ich verstehe die Sorgen der vom schwierigen Handel betroffenen Stromproduzenten. Die Marktsituation ist angesichts der derzeit sehr tiefen Strompreise auf dem europäischen Markt tatsächlich schwierig. Allerdings entspricht es nicht meinem Verständnis von freier Marktwirtschaft, wenn der Staat nun hektisch mit Stützungsmassnahmen ins Marktgeschehen eingreifen soll. Noch vor wenigen Jahren sprach man von Stromlücke, und die Strompreise waren rekordhoch; da haben sich die Betreiber ja auch nicht über die Marktentwicklung beklagt. Nun gilt es gemeinsam eine Baisse zu durchlaufen. Günstige Strompreise sind ja zudem nicht für alle Marktteilnehmer eine schlechte Nachricht. Ob Massnahmen nötig sind, wird daher derzeit geprüft.
Der Bundesrat will die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) in ein Prämienmodell mit Direktvermarktung überführen. Dabei handelt es sich etwas vereinfachend um eine marktnähere KEV. Deuten aber die negativen Erfahrungen in Deutschland nicht eher darauf hin, dass möglichst rasch eine gänzliche Abkehr von diesen Subventionsmodellen nötig ist?
Die Förderung von erneuerbarer Energie wird noch einige Jahre notwendig sein, dann soll die Förderwelt aber durch ein Lenkungssystem abgelöst werden. Dazu braucht es eine neue Verfassungsgrundlage. Die Verwaltung arbeitet bereits daran, Varianten für diesen Übergang in ein Lenkungssystem darzulegen. Die Vernehmlassungsvorlage dazu dürfte im Frühjahr 2015 vorliegen.
Was werden Sie unternehmen, damit das Parlament noch vor den Wahlen 2015 über die bundesrätliche Energiestrategie entscheiden kann, und wie stehen Sie zur Option, die Bürger darüber abstimmen zu lassen?
Auf den Fahrplan der parlamentarischen Beratung hat der Bundesrat bekanntlich keinen Einfluss. Aber das Energiegesetz unterliegt dem fakultativen Referendum. Falls genügend Unterschriften gesammelt werden, werden die Bürgerinnen und Bürger über das neue Gesetz abstimmen können. Zudem stehen zwei Volksinitiativen im Raum betreffend Atomausstieg und Energieeffizienz.