Auf einen Quadratkilometer kommen in der Schweiz 44,9 Meter Landesgrenze. In Deutschland sind es 10,4, und in den USA nur noch 1,2 Meter. Diese Zahlenspielerei bekräftigt, was wir intuitiv bereits wissen: Geographische Grenzen sind in der Schweiz allgegenwärtig, und ohne routinemässige Grenzübertritte in unsere direkten Nachbarländer würde nur wenig funktionieren. Jeden Tag tauscht die Schweiz Waren und Dienstleistungen mit der Europäischen Union im Wert von 1 Mrd. Franken aus. Erstmals verdiente die Schweiz im Jahr 1999 jeden zweiten Franken im Ausland, d.h. die Summe der Exporte (Waren und Dienstleistungen) entsprach 50 Prozent des BIP. Zuletzt (2015) lag dieser Anteil bei 70 Prozent. Auch ein Blick in die Geschichte zeigt: Erst der Handel und die Offenheit der Schweiz für das Neue jenseits der eigenen Grenze ermöglichten ihr ab dem 19. Jahrhundert den Aufstieg von einem Auswanderungsland zu einer der reichsten Nationen der Welt.
Im Kontrast zu dieser Schweiz, die sich als traditionelle Grenzüberschreiterin in Sachen Aussenwirtschaft positioniert, stehen die mentalen Schutzwälle im Landesinnern, die zunehmend aufgebaut werden. Alleine von 2013 bis 2017 stimmte der Schweizer Souverän über 18 Vorlagen ab, die unsere marktwirtschaftliche Ordnung im Fokus hatten. Dabei zeigt die Stimmbevölkerung immer weniger Lust auf Veränderung. 2017 wurde das besonders deutlich: trotz der offensichtlich alternden Gesellschaft konnte keine mehrheitsfähige Reform der Altersvorsorge gefunden werden, und die für den Wirtschaftsstandort wichtige Unternehmenssteuerreform III wurde vom Souverän bachab geschickt. Gefühlt geht es uns nach wie vor so gut, dass wir im Zweifelsfall lieber im Status quo verharren. Das helvetische Bewusstsein verdrängt, dass seit 1995 die Arbeitsproduktivität der Schweiz relativ zum Ausland rückläufig ist – unser Vorsprung wird laufend kleiner. Doch beschränkt sich der mentale Grenzaufbau nicht alleine auf das Landesinnere, sondern er führt gleichzeitig zu einer prosperitätsgefährdenden Abschottung nach aussen. In der Frage des Verhältnisses der Schweiz zu Europa und zu ihrer Rolle in der multipolaren Welt hat man Mühe, sich zu positionieren und zurechtzufinden.
Dabei zeigt eine genauere Betrachtung: Die jüngste Vergangenheit (2010–2017) brachte den Schweizerinnen und Schweizern nur wenig zusätzlichen Wohlstand, seit der Finanzkrise ist man mit einer anhaltenden Wachstumsschwäche konfrontiert. Das Risiko ist gross, dass die demographische Entwicklung den allgemeinen Wohlstand schon bald massiv unter Druck setzen wird. Spätestens dann sind tiefgreifende Reformen unumgänglich. Damit würde sich das Muster der Vergangenheit wiederholen, wonach die Schweiz sich vor allem nach Krisen bewegt: nach dem Bürgerkrieg 1848, nach der Emigrationswelle Ende des 19. Jahrhunderts oder in den 1990er Jahren, nach dem EWR-Nein.
Grundsätzlich gilt: die direktdemokratische Schweiz kann sich nur dann weiterentwickeln, wenn das Kollektiv der Stimmbürger dazu bereit ist. Hier besteht der grösste Unterschied zu den Nachbarländern. Unser auf Ausgleich bedachtes System braucht also einen Weckruf, der in unserem Land einen konstruktiven Zukunftsdiskurs auslöst, eine breite öffentliche Debatte über die verschiedenen innen- und aussenpolitischen Optionen, die sich ihm bieten. Aus der Psychologie wissen wir, dass Menschen, die ihre eigenen Grenzen kennen und ausloten, sie auch leichter überwinden können. Bei Staaten dürfte es ähnlich sein. Auch die Schweiz muss wieder vermehrt zur Grenzüberschreiterin werden.
Peter Grünenfelder
ist Direktor von Avenir Suisse.