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Die Schweiz und ihre Aversion gegen Strategie

Eine Replik auf Anne van Aakens Essay «Standortfaktor Recht»*

Anne van Aakens Essay «Standortfaktor Recht» bietet einen willkommenen Anlass, über einige staatsrechtliche Fragen nachzudenken, deren Beantwortung für die Zukunft der Schweiz von grosser Bedeutung ist. Zunächst ist es unbestritten, dass die Rechtssicherheit zumindest für kleine Staaten ein wesentlicher Faktor ihres Wirtschafts- und Lebensraums ist. Ebenso zustimmen kann ich der  Feststellung, dass sich Völker- und nationales Recht, sowie formell gesetztes und «weiches» Recht mehr und mehr überlagern. Doch einige Folgerungen des Artikels bedürfen einer kritischen Beurteilung, die ich nachfolgend in fünf Punkten ausführe.

Völkerrecht und Rechtsstaatlichkeit

Ausgehen möchte ich von dem gross hervorgehobenen Zitat: «Ein Ziel der Schweiz der Zukunft muss es sein, sich gleichzeitig ihre (Völker-)Rechtsstaatlichkeit und auch die ‹Langsamkeit› der direkten Demokratie zu bewahren.»

Um diesen angetönten Zielkonflikt zu verstehen, lohnt es sich in Erinnerung zu rufen, dass sich der Völkerrechtsstatus der Schweiz aus ihrer Stellung als anerkanntes Völkerrechtssubjekt in der Form eines souveränen Staates ergibt. Wie sie aktiv und passiv mit den ihr daraus zukommenden Rechten und Pflichten umgeht, ist grundsätzlich eine völkerrechtliche Frage. Nur zu oft wird diese aber von politischen Fragen, also von Macht und wirtschaftlichen Interessen, überlagert. Das Ergebnis der steuerrechtlichen Regelungen mit den USA spricht dazu Bände.

Rechtsverwirklichung ist Resultat eines komplexen Prozesses von Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Eine nüchterne Betrachtung führt der Schweiz vor Augen: Die Durchsetzung von völkerrechtlichen Bestimmungen nach rechtsstaatlichen Prinzipien ist auf dem internationalen Parkett eine eher schwierige – und unsichere – Angelegenheit. Die innere Rechtsstaatlichkeit ist ein striktes Verfassungsgebot (Art. 5 BV). Dieses zusätzlichen Zieles bedarf es folglich für die Rechtsetzung gar nicht.

Indessen scheint diese Verfassungsrechtspflicht vom Bundesrat in jüngster Zeit nicht immer beachtet zu werden (jüngstes Beispiel: nicht publizierter Bundesratsbeschluss vom 18. April 2012 betr. Erlaubnis für bestimmte Banken, Informationen einschliesslich der nicht codierten Namen von Mitarbeitenden und «Dritten» direkt dem IRS zu übermitteln).

Szenarien und Wirklichkeit

Van Aaken schildert die vom Hague Institute for the Internationalisation of Law entwickelten vier Szenarien für das Recht der Zukunft (Law of the Future) und zeigt mögliche Folgen für die Schweiz auf. Das ist anregend, aber unzureichend. Es wäre es hilfreich gewesen, den derzeitigen Zustand als tatsächliches Szenario zu beschreiben und dabei die Sicht gar über den ökonomischen Horizont hinaus zu wagen.

Sehen wir uns also einige internationale Rechtsgebiete an, fällt auf, dass sich viele Staaten im Rechts-Ernstfall eher vornehm zurückhalten: Das Römer Statut des Internationalen Gerichtshofes wurde – ausser von Frankreich und dem Vereinigten Königreich – von keinem anderen ständigen Mitglied des UNO Sicherheitsrates ratifiziert. Die USA haben zudem das II. Zusatzprotokoll der Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte nicht übernommen. Auch auf dem Feld des soft law glänzen die USA mit Abwesenheit: An den Regeln von «Basel II» haben sie munter mitgewirkt, diese aber für die US Banken nie verbindlich umgesetzt. Van Aaken erklärt uns im Szenario global constitutionalism wie Einzelstaaten ihre Souveränität zugunsten einer Rechtsharmonisierung wenn nicht aufgeben, so doch erheblich einschränken. Bereits die oben genannte, unvollständige Aufzählung zeigt jedoch, dass dieses Szenario bis auf weiteres eine Illusion bleiben dürfte.

Direkte Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit und Strategie

Die direkte Demokratie gilt es nach Anne van Aaken zu bewahren. Erstaunlich ist es dann, dass sie im selben Text damit wiederstreitende Positionen vertritt. Zum Beispiel mit der Forderung: «Initiativen, die für Wirtschaftsakteure Rechtsunsicherheit schaffen und dem internationalen Wettbewerbsumfeld keine Beachtung schenken […], sollten verfassungsrechtlich […] überprüfbar sein.» Es stellt sich die Frage, ob hier Rechtssicherheit mit Rechtsstaatlichkeit bzw. Grundrechtskonformität verwechselt wird.

Die Empfehlung an die Schweiz, Strategien auf die erwähnten Szenarien des Rechts der Zukunft zu entwickeln, scheint einen Aspekt ausser Acht zu lassen: In der Schweiz herrscht eine ausgeprägte Strategieaversion, die u.a. in der direkten Demokratie und dem Willen, bei jeder Gesetzesänderung das Referendumsrecht beanspruchen zu können, gründet. Verstärkt gelten diese Einschränkungen für allfällige Bindungen im aussenpolitischen Bereich.

Zustimmen möchte ich der Autorin in dem Punkt, dass die Rechtsstaatlichkeit auch nicht über Notrecht ausgehöhlt werden darf. Wissenschafter und das Parlament haben bereits deutlich auf wiederholte Massnahmen des Bundesrates reagiert, die er  auf Art. 184 und 185 BV (Kompetenz des Bundesrates zu verfassungsunmittelbaren Verordnungen) stützt. Ausdruck davon ist das Bundesgesetz über die Wahrung von Demokratie, Rechtsstaat und Handlungsfähigkeit in ausserordentlichen Lagen. Dieses Postulat erscheint also als erfüllt.

Damit wären wir wiederum bei der zu bewahrenden Langsamkeit der direkten Demokratie angelangt. Aber spüren wir nicht seit geraumer Zeit immer deutlicher, dass gerade diese auf der strategischen Ebene nachteilig wirken kann? Nicht nur die USA haben ihre Ungeduld deutlich kundgetan, auch die EU drängt auf beschleunigtes Erzielen von Ergebnissen in Bezug auf das gegenseitige Verhältnis. Zeitdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit von strategischen Fehlern auf schweizerischer Seite. Die zusätzliche Hürde der Referendumsmöglichkeit nährt wiederum die Neigung der Gegenseite, vermehrt Druck auszuüben. So sehr eine Entschleunigung mancher Entwicklungen zu begrüssen wäre, die Langsamkeit kann – wie schon das Sprichwort lehrt – für die Schweiz auch strafend wirken.

Umgekehrt kann sich das schweizerische politische System punkto Effizienz mitunter durchaus mit andern Staaten messen, wenn man es z.B. mit den US-amerikanischen Budgetdebatten, deren Filibustermechanismus oder dem italienischen Reformstau vergleicht. Auch der politische Entscheidungsprozess bezüglich «Stuttgart 21» in Deutschland zeichnete sich weder durch die Bildung von Rechtssicherheit noch Geschwindigkeit aus.

Bilden von Koalitionen

Koalitionen stärken die eigene Verhandlungsposition. Unbestritten. Um solche einzugehen bedarf es jedoch einer Strategie. Dass diese bisher in der Schweiz nicht konsensfähig sind, haben wir bereits gesehen. Das ist schade. Denn die Chance, die in solchen Koalitionen steckt, bleibt nach wie vor bedenkenswert. Im Verein mit gleichgesinnten Staaten wäre zumindest eine Strategie zur FACTA-Regelung zu prüfen gewesen. Diese hätte die einseitige Regelung möglicherweise nicht nur zu verhindern gewusst, sondern gleichzeitig eine ausgewogene, multilateral reziproke Handhabung der Informationsvermittlung in Steuerangelegenheiten vorbereitet. Eine geschickte Regelung hätte uns den ganzen Steuerstreit mit der EU bzw. den EU-Staaten erspart. Am Rande sei noch erwähnt, dass sie einen Beitrag zu Bekämpfung der Geldwäscherei, der Finanzierung des Terrorismus und auch der Korruption liefern könnte. Aus solchen Initiativen könnte zusätzlich eine Gleichbehandlung der Finanzplätze folgen, was mit den derzeitigen völkerrechtlichen Regelungen, welchen die Schweiz zugestimmt hat oder noch zustimmen wird, gerade nicht der Fall sein wird.

Neutralität

Unklar bleibt im Beitrag von Anne van Aaken auch, was sie in Bezug auf das sicherheitspolitische Instrument der Neutralität zum Ausdruck bringen will (vgl. dazu die die Neutralitätsberichte des Bundesrates von 1993 und 2005 sowie den diesbezüglichen Anhang in seinem Aussenpolitischen Bericht 2007). In der Praxis kommt es immer wieder zu Zielkonflikten: spätestens seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wird die Neutralität ausschliesslich bei internationalen bewaffneten Konflikten geübt; gerade dann aber werden Anordnungen des UNO-Sicherheitsrates über das Neutralitätsrecht gestellt.

Fazit

Die Schweiz hat eine Reihe von Problemen lange vor sich her geschoben und in gewisser Weise auch Realitätsverweigerung betrieben. Die Entwicklung innerhalb der EU und wiederentdeckte Werte, die unversehens zu Massstäben für transnationale Regelungen werden (obwohl man diese Werte – z.B. Treu und Glauben, Art. 5 Abs. 3BV – zu beachten immer vorgegeben hat), rufen nach einer intensiven Auseinandersetzung über die höchst bedeutungsvollen Fragen zu grundlegenden Elementen der schweizerischen Staatspolitik. Dafür sind Diskussionen wie sie Anne van Aakens Artikel aufwirft, in der deliberativen Demokratie ebenso dringlich wie anforderungsreich.

* Anne van Aaken: Standortfaktor Recht. In: Schweizer Monat, Sonderthema 8. Dezember 2012. S. 20-24.

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