Die Schweiz sollte
Sicherheitspolitik machen,
wie ein Unternehmen
Risikomanagement betreibt
Die Schweizer Politik streitet leidenschaftlich über die Armeeausgaben. Die Diskussion verkennt, dass Sicherheit weit mehr umfasst als die militärische Dimension.

Der Krieg in der Ukraine hat die schweizerische Sicherheitspolitik schlagartig ins Zentrum der politischen Diskussionen gerückt. Das war zuvor während sehr langer Zeit nicht mehr der Fall.
Wie in anderen europäischen Ländern ist bewusst geworden, dass die Armee grosse Fähigkeitslücken aufweist und dass die Armeereformen der vergangenen drei Jahrzehnte in erster Linie Abbauvorlagen waren.
Gleichzeitig hat die Diskussion zu einer radikalen Verengung des Blickfeldes in mehrfacher Hinsicht geführt.
- Eine einseitige Konzentration auf mögliche militärische Bedrohungen.
- Eine Verschiebung weg von der Konfliktvermeidung und Konflikteindämmung hin zur Vorbereitung auf den schlimmsten Fall, einen Krieg.
- In den öffentlichen Debatten ist über weite Strecken eine Rückkehr zum Denken und zur Rhetorik des Kalten Krieges sichtbar geworden. In einer Zeit mit viel Ungewissheit ist das attraktiv. Die klare Aufteilung in Gut und Böse schafft die Illusion von Übersichtlichkeit.
Das sind alles problematische Sichtweisen.
Die Schweiz bewegt sich in einer komplexen Welt. Unser Land ist einem breiten Spektrum von Risiken und Gefahren ausgesetzt. Dazu gehören Cyberangriffe, Terrorismus, das organisierte Verbrechen, irreguläre Migration, Klimawandel und ökologische Herausforderungen (Biodiversität, Rohstoffknappheit, Technologierisiken wie die künstliche Intelligenz, Quantencomputer, Risiken der Biotechnologie und so weiter). Zu Recht verlangt die Bundesverfassung deshalb, sich mit einem breiten Spektrum von Risiken zu befassen und vorausschauend auf negative Entwicklungen einzuwirken.
Die schweizerische Sicherheitspolitik hat gemäss Bundesverfassung zum Zweck, «… die Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und Integrität der Schweiz und ihrer Bevölkerung sowie ihre Lebensgrundlagen gegen direkte und indirekte Bedrohungen und Gefahren zu schützen sowie einen Beitrag zu Stabilität und Frieden jenseits unserer Grenzen zu leisten …»1
Die Verengung des Blickfeldes führt aber nicht nur zur Abkehr vom Verfassungsauftrag. Sie ist auch ein Bruch mit einer langen Entwicklung der schweizerischen Sicherheitspolitik. Seit dem letzten Jahrhundert sind immer weitere staatliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche zu Teilen einer umfassenden Sicherheitspolitik geworden. Damit wurde dem sich stetig ausweitenden Spektrum von Risiken und Gefahren Rechnung getragen.
Falsche Reihenfolge
Letztes Jahr wurde ich von der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik beauftragt, eine Studie zu verfassen zum Thema «Schweizerische Sicherheitspolitik neu denken, aber wie?».
Ich habe vorgeschlagen, Sicherheitspolitik so zu betreiben, wie private Unternehmen Risikomanagement betreiben. Das heisst Risiken identifizieren und bewerten – und dann Massnahmen ergreifen, um auf die Risiken einzuwirken –, möglichst bevor sie zu Bedrohungen und Gefahren werden. Ich bin davon überzeugt, dass auf diese Art eine kohärente Sicherheitspolitik gelingen kann.
Das würde auch dabei helfen, die verschiedenen Bereiche der Sicherheitspolitik nicht gegeneinander auszuspielen: Armee gegen Entwicklungszusammenarbeit, Bevölkerungsschutz, humanitäre Hilfe oder Friedenspolitik und so weiter.
Das ist keine Absage an die Erhöhung des Armeebudgets. Bei der Armee gibt es tatsächliche empfindliche Fähigkeitslücken, die rasch zu schliessen sind. Aber sie müssen sich auf die grössten Risiken und Bedrohungen beziehen.
«Bei der Armee gibt es tatsächliche empfindliche Fähigkeitslücken, die rasch zu schliessen sind. Aber sie müssen sich auf die grössten Risiken und Bedrohungen beziehen.»
Leider ist die Diskussion in der Schweiz ganz anders verlaufen, und zwar recht sonderbar.
- Zuerst wurde ein langer Streit über das richtige Modell des neuen Kampfflugzeugs ausgetragen und schliesslich mit dem Entscheid für die Beschaffung des F-35 beendet.
- Danach, 2023, legte der Chef der Armee sein Schwarzbuch mit der Doktrin für die Armee vor.
- Am Schluss hat der Bundesrat damit begonnen, den sicherheitspolitischen Rahmen zu setzen. Gegenwärtig ist das Staatssekretariat für Sicherheitspolitik daran, eine sicherheitspolitische Strategie zu entwerfen.
Die naheliegende Logik wäre umgekehrt. Zuerst die Analyse, dann die Strategie und erst danach die Beschaffungsentscheide. Der historische Rückblick zeigt allerdings, dass dieses Vorgehen nicht unüblich war und in der Schweiz oft ein Fokus auf das vermeintlich Praktische und Konkrete gelegt wurde. Strategien waren oft nachträgliche Rechtfertigungen und Erklärungen.
Ein klares Bekenntnis zur Neutralität – das heisst den völkerrechtlichen Rechten und Pflichten eines neutralen Staates, verbunden mit einer gut kommunizierten Neutralitätspolitik – ist ein gutes Fundament auch für eine zukünftige Sicherheitspolitik der Schweiz. Einzige ernsthafte Alternative dazu ist der Nato-Beitritt. Schwer verständliche Hybridformen, wie siegelegentlich in den Diskussionen auftauchen – die «kooperative» Neutralität beispielsweise –, sind nicht brauchbar.
Klarheit in Bezug auf die Neutralität ist auch ein wichtiger Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit mit der Nato und mit deren Mitgliedstaaten. Sie macht die Schweiz berechenbar. Die Zusammenarbeit mit der Nato, beispielsweise im Bereich der Ausbildung, ist meines Erachtens unproblematisch, solange die Neutralität in einem Kriegsfall tatsächlich eingehalten werden kann.
Die Partnerschaft für den Frieden ist für diese Zusammenarbeit nach wie vor ein tragfähiger Rahmen und keineswegs obsolet, auch wenn sich inzwischen wichtige Partnerstaaten wie Schweden und Finnland für den Nato-Beitritt entschieden haben.
Soft Power wird unterschätzt
Bei der Festlegung einer zukünftigen Sicherheitspolitik der Schweiz geht es um die Frage, mit welchen Mitteln und konkreten Zielsetzungen die Schweiz für sich selbst und für ihr Umfeld Sicherheit schaffen kann. Welches Profil will sie einnehmen? Welche Mittel stehen ihr zur Verfügung?
Mit militärischen Mitteln und anderen Formen von Hard Power, also politischer oder wirtschaftlicher Macht, ist die Schweiz nicht in der Lage, Stabilität zu projizieren. Hingegen verfügt die Schweiz über viel Soft Power. Das heisst, sie kann mit Wissen, Informationen und Anziehungskraft auf das Verhalten anderer einwirken.
Internationale Ratings belegen seit vielen Jahren, dass die Schweiz bezüglich Soft Power zu den wirkungsmächtigen Staaten gehört. Dieses Potenzial wird in der Sicherheitspolitik (und in der Aussenpolitik) zu wenig genutzt. Die guten Dienste gehören in diesen Bereich. Aber sie sind in ihrer klassischen Form selten geworden und stammen aus einer anderen Epoche. Deshalb sind neue Ansätze und Modelle erforderlich.
«Internationale Ratings belegen seit vielen Jahren, dass die
Schweiz bezüglich Soft Power zu den wirkungsmächtigen Staaten gehört. Dieses Potenzial wird in der Sicherheitspolitik zu wenig genutzt.»
Welches sind die richtigen inhaltlichen Schwerpunkte? Einen Schwerpunkt sehe ich im engagierten Einsatz für das Völkerrecht und für funktionierende multilaterale Institutionen – auch weil das internationale Genf der weltweit wichtigste Hub für den Multilateralismus ist. Die Schweiz ist in diesem Bereich in einer guten Ausgangslage und hat viel Glaubwürdigkeit. Das ist besonders wichtig, gerade weil vieles in den internationalen Beziehungen politisch blockiert ist.
Einen anderen, ausbaufähigen Schwerpunkt sehe ich darin, über Grenzen und politische Frontlinien hinweg zu wirken und verschiedene Akteure an einen gemeinsamen Tisch zu bringen. Diese Fähigkeit hat die Schweiz während ihrer Mitgliedschaft im UNO-Sicherheitsrat bewiesen und möglicherweise bringt die bevorstehende schweizerische Präsidentschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE neue Chancen.
Gefahr für die offene Gesellschaft
Nur eine breit angelegte Sicherheitspolitik kann den Herausforderungen der Zukunft genügen. Ich bin zwar überzeugt, dass sehr viele Aspekte und Instrumente zu einer erfolgreichen Sicherheitspolitik gehören. Hingegen bin ich kein Anhänger von dem, was im Fachjargon «Securitization» – Versicherheitlichung – heisst, also die Unterordnung sämtlicher Bereiche in eine Sicherheitslogik. Das ist gefährlich, weil damit das Risiko besteht, die freie und offene Gesellschaft einzuschränken. Damit würde genau das beschädigt werden, was eine sinnvolle Sicherheitspolitik in einem liberalen Staat letztlich schützen soll. Darin hallt ein Satz nach, der Benjamin Franklin zugeschrieben wird: «Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.»
Bundesverfassung, Art. 2 Zweck; Art. 54 Auswärtige Angelegenheiten und Art. 58 Armee. ↩