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Die Schweiz – Sinnbild der Diversität

Hoch der Anspruch, bescheidener die Wirklichkeit Die Schweiz gilt weltweit als ein Meisterwerk der Vielfalt in der Einheit, als ein erfolgreiches Modell, das ethnische, linguistische, konfessionelle und andere Unterschiede achtet. Der Autor des folgenden Beitrags fragt, wie es sich verhält, wenn man vom offiziellen Credo zur harten Realität absteigt.

Das Gleichgewicht zwischen Einheit und Vielfalt ist immer offen, immer problematisch, immer neu zu suchen, ansonsten negieren sich das Leben, der Mensch und die Gesellschaft. Das Streben nach Identität, Teil jeder Wirklichkeit, lebt vom anspruchsvollen Bemühen um die Synthese zwischen Einheit und Vielfalt. Wie hat die Schweiz Einheit und Vielfalt tatsächlich in Einklang gebracht?

Senn mit griechischer Allüre

1896, anlässlich der zweiten Landesausstellung in Genf, wurde die industrielle Revolution, die Innovationskraft der Schweiz, ihre Leistungen in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Handel inszeniert. Man suchte nach einem Symbol, einem Sinnbild der neuen Zeit in Form einer gigantischen Statue und verfiel auf die hoch traditionelle Figur des Alphirten. Zur Verfertigung dieses Genius der Berge erhielt der Bildhauer eine Sennenkleidung, nach der er sich zu richten hatte. Doch die Genfer Bürgerschaft, städtisch, industriell, bank- und kunstverbunden, fand dieses Bauerngewand zu grob und hässlich. So wurde beschlossen, ihm einen klassischen Stil zu verpassen. Das Resultat der Manipulationen an Kleidung und Anatomie war ein schweizerischer Hirt mit griechischer Allüre. Die Metamorphosen-Bastelei gebar einen Mischling, einen Bastard, Bergler und Mediterraner in einem. Abends verbreitete das Werk mit Hilfe eines mittelalterlichen Beleuchtungskörpers und einer elektrischen Lichtquelle weithin das Licht des Fortschritts und der Zivilisation. Man kann in dieser Spielart einer sanften ethnischen Säuberung eine eigentliche Kolonisierung der Vielfalt sehen. Die Stadt integriert den Bergler, aber ohne jeden Respekt vor der Diversität, einfach durch Anverwandlung an ein Modell guter Ländlichkeit und guter Bergwelt, das sie sich zurechtgeschustert hat. Diese Episode erscheint mir typisch dafür, wie die schweizerische Identität bekräftigt wird: Alle Verschiedenheiten werden integriert, vorausgesetzt, sie sind vorher gereinigt und zivilisiert worden, so wie es ein ratifiziertes Vorbild vorgibt, welches das enthält, was im Land als «guter» kultureller Unterschied durchgeht, und das ausschliesst, was als «schlechter» kultureller Unterschied gilt.

Identitätsbastelei

Für dieselbe Landesausstellung in Genf wurde auch das erste künstliche «Schweizerdorf» unserer Geschichte produziert, wo die verschiedenen Baustile sowie die Eigenarten der Trachten, Bräuche, Bauern, Handwerker, Gegenstände, Feste, Speisen, Musik und Kühe die Einheit und Vielfalt der Schweiz zelebrieren sollten. In dieser gigantischen Klitterei wurden die Embleme definiert, die für das «richtige Appenzell», das «richtige St. Gallen», das «richtige Bern», das «richtige Genf» oder das «richtige Wallis» zu stehen hatten. So kam ein patriotisches System zur Welt, in dem die tatsächliche Vielfalt jedes Kantons umfunktioniert und so zugeschnitten wurde, dass sie sich dank Manipulation und Läuterung in die allgemeine helvetische Symphonie ein-passen liess.

Während des ganzen 20. Jahrhunderts überspannten diese von den vorherrschenden städtischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Kreisen getragenen Prozesse die gesamte Schweiz. Die Einheimischen tief im Land akkulturierten die ihnen vorgesetzten oder aufgezwungenen Modelle und wurden nun durch und durch akzeptabel in einer durch und durch korrekten Vielfalt. So entstand der Mythos von der einen und vielfältigen Schweiz. Die verschiedenen Basteleien an der Identität hatten ein vorherrschendes Modell des Schweizers hervorgebracht.

Gegenüber Aussenstehenden gibt der Glaube an dieses Meisterwerk helvetischer Konstruktionskunst ein Gefühl der Exklusivität, bei dem sich zur Schau getragene Bescheidenheit und ein starkes Überlegenheitsgefühl mischen. Bloss: wie können wir dabei offen sein für die mannigfaltigen Kulturen der Welt? Denn sie schweben als Gefahr über unserem «Wir», erscheinen uns als undiszipliniert und unruheträchtig, sie bedrohen unser Verborgenstes und profanieren die Perfektion der Miniatur. Doch die Gefährdung der verschiedenen Teile der helvetischen Mechanik steht wohl nicht an erster Stelle. Wesentlich ist die Besorgnis, neue Kulturen, besonders wenn sie tatsächlich Einzug hielten, könnten das ganze Syntheseprodukt der schweizerischen Fabrik in Frage stellen, d.h. präzise das, von dem man sagt, es mache die Schweiz und die Schweizerische Eigenart aus.

Solche Abstossungen fremder Kulturen existieren wirklich, doch noch andere, unendlich subtilere Haltungen gilt es aufzuspüren. Kehren wir einen Augenblick zur Genfer Landesausstellung 1896 zurück. Hier haben wir gleichsam die in-vitro-Geburt eines Verfahrens zur Herstellung von Schweizer Eigenart. Auf der einen Seite die Öffnung und die Siege von Wissenschaft, Technologie und Industrie; auf der anderen das Wursteln mit Kultur-Versatzstücken, um damit politisch und kulturell korrekte Multi-Vielfalten herzustellen und «richtig» Schweizerisches hervorzubringen.

Während des gesamten 20. Jahrhunderts entwickelte sich dieses Modell und entfaltete sich vor unseren Augen. Es führte einerseits zu einer wirtschaftlichen und finanziellen Präsenz überall in der Welt, teilweise begleitet von einer erstaunlichen Geschäftstüchtigkeit; anderseits zu immer neuen Abwandlungen des Nationalen, Kantonalen und Lokalen. Kulturell werden die Schweizer zwischen diesen Polen oft zu grossen «Melting Pot»-Fans, zu grossen Konsumenten und Voyeuren anderer Kulturen, vorausgesetzt, es lässt sich mit Hilfe von typisch Nationalem, authentisch Schweizerischem oder ultra-aufgepepptem Lokalem immer wieder sicher zu der eigenen Identifikation zurückfinden.

Dabei entsteht der Eindruck, es fehlten oft wirkliche kulturelle Begegnungen und schöpferische Interaktionen mit neuen Kulturen. Es sieht so aus, als ob durch eine allgemeine Zapperei der Kultur-Konservatismus verstärkt würde. Zwischen schweizerischem Expansionismus, Konsumations-Multikulti und Selbstzentrierung auf helvetisch Reines, sieht man die politische Kultur zwischen Rückzug und Öffnung schwanken.

Landesausstellung als Paradigmenwechsel

Wie sieht die Zukunft aus? Eine Antwort kann die Expo.02 geben, die sechste Landesausstellung, die letztes Jahr stattfand. Mitunter kommt es im Leben vor, dass man eine Identität aufgibt, die man geduldig aufgebaut und verkörpert hat, um dann zu einer Art Urzustand zurückzukehren, wo man sich gehen lässt, sich verzettelt, wo man sich, auch über Irrwege, sucht. Dies war es denn auch etwa, was sich an der Expo.02 ereignete. Die Schweiz liess sich gehen und unternahm aufs Geratewohl den Versuch, Oberflächlichkeit und Tiefe zu verbinden und Freude an einfachen Genüssen und Emotionen zu finden. Hinter viel Äusserlichkeiten ist jedoch eine wirkliche Suche nach Unterschieden sichtbar geworden. Die Schweiz benutzte die Expo.02 zu einem Paradigmenwechsel gegenüber früheren Landesausstellungen. Diesmal wurde nicht die Kultur für die Produktion von vorgegeben Nationalem instrumentalisiert, sondern man hat das Nationale (und auch Nicht-Nationales, Weltläufiges) zur Schaffung eines KulturObjekts von philosophischem und poetischem Gehalt herbeigezogen, aus dem sich dann neuartiges Nationales ergeben könnte. Die Landesausstellung 1896 in Genf zelebrierte zum ersten Mal die helvetische Diversität. Man verstand, dass der Reichtum unseres Landes in seinen verschiedenen Kulturen, Sprachen und Regionen lag. Die Landesausstellung 1896 war ein Lobpreis auf die Partikularismen und ihre Vereinigung in einem auf Frieden gegründeten Gemeinwesen. Die Ausstellungen von 1914 und 1939 intonierten erneut diese Partitur der Einheit in der Vielfalt. Die Expo 1964 in Lausanne spürte den Niedergang dieses grossen helvetischen Themas und inszenierte stattdessen dasjenige des Gegensatzes Modernität und Tradition. Die Expo.02 schliesslich hat, zwar nicht programmatisch, aber im nachhinein, die schöne Sicherheit der mannigfaltigen Vielfalt in der Einheit platzen lassen und an ihrer Stelle eine andere Identität aus neuen Unterschieden angeboten, die nicht den typischen Partikularitäten der Schweiz entstammten, sondern einer Schweiz als Fragment der Welt. In der Linie der Landesausstellungen stellte die Expo.02 wohl die Diversität dar, aber nicht mehr gemäss dem traditionellen Skript, das inzwischen gelegentlich zum Klischee und zu einem Stereotyp ohne Vitalität verkommen ist.

Ambivalenz von Öffnung und Rückzug

Seit der Expo.02 hat sich das Echo der Schweiz vervielfältigt, als ob sie sich fast im Bild eines aufgebrochenen, verzettelten, unzusammenhängenden, heterogenen Landes gefiele. In der Ausstellung wie auch im Publikum hat die Mannigfaltigkeit gegen Einheit und Homogenität die Oberhand behalten. Und trotzdem: Wer den Besuchern zuhörte, konnte feststellen, dass die Meinungen geteilt waren. In ihrer Ambivalenz zeigen sie eine Bevölkerung, welche die Diversität schätzt, sie sogar wärmstens wünscht, die sich aber auch um den Zusammenhalt sorgt und mehr Einheit und Gemeingeschick für die Schweiz erhofft. Das Aufplatzen und die Diversität werden als Qualitäten der Expo.02 anerkannt, verlieren aber nach der Rückkehr ins Land an Bedeutung. So gibt es in der Schweiz zwei gegensätzliche Bestrebungen: Die der Expo.02 setzt auf Abreaktion und Befreiung; die andere, ausserhalb der Expo.02, sucht Substanz und Rückkonzentration und setzt auf nutzen- und willensgesteuertes Handeln.

Offensichtlich sind diese beiden Arten des Seins keine einfachen Gegensätze, keine simple Spiegelung der Aufteilung in Modernität und Tradition. Was da am Werk ist, weit über die Expo.02 hinaus, ist die Verbindung und Konfrontation unterschiedlicher Lebensweisen und Denkweisen in der heutigen Welt. Das Paradox der Expo.02 ist, dass sie den Wunsch nach Ziellosigkeit, Reisen, Aufsplitterung an die Oberfläche gebracht hat, aber zugleich auch denjenigen nach dem Gefühl von Sicherheit und Rückzug. Die Expo.02 hat den Atem der Welt mit unserer häuslichen Luft verwirbelt, und diese beiden Strömungen haben zu den konträren Haltungen von Kühnheit und Ängstlichkeit geführt.

Zum Schluss möchte man sich ausmalen, wie ein neues nationales Ereignis – es braucht keine Landesausstellung zu sein – zu einem neuen «Fest der Vielfalt» quer durch die ganze Schweiz werden könnte. Stellen wir uns vor, dieses Ereignis gäbe allen in der Schweiz anwesenden Kulturen die volle Freiheit, sich auszudrücken. Stellen wir uns dabei innovationsträchtige Mischungen – richtige Melting Pots – vor. Dann sähen wir tatsächlich das Erstehen einer neuen Schweiz und das Wiederfinden ihrer Traditionen der Aufnahmefreude, der Gastfreundschaft und unserer uralten Funktion des Überschreitens von Pässen und Grenzen.

Der Text wurde von Reinhard R. Fischer, Nyon, aus dem Französischen übersetzt.

Bernard Crettaz, geboren 1938 im Wallis, schloss seine Studien in Genf mit einem Doktorat in Soziologie ab. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Genf war er Konservator der Abteilung Europa am ethnographischen Museum der Stadt Genf. Er hat verschiedene Publikationen über die Schweiz und die Alpen verfasst, darunter «La beauté du reste», Editions Zoé 1993 und «Au delà de Disney Land alpin», Ivrea 1995.

Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referats, das im Juni 2003 im Rahmen des Vortrags- und Konzertzyklus der Bank Wegelin & Co zum Thema «Melting Pot ?» in St. Gallen gehalten worden ist.

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