
Die Schweiz muss ihren
Sonderweg beharrlich
weitergehen – damit bleibt sie für Europa und die Welt ein Vorbild
Wer wie Thomas Cottier die Bundesstaatsgründung mit der europäischen Integration gleichsetzt, verkennt die historischen Tatsachen. Die zentralistische EU rettet die Demokratie nicht, sondern gefährdet sie. Eine Replik.
I. Der historische Kontext
Thomas Cottier gibt die Vorgeschichte des Sonderbundes ab 1815, also vor allem Restauration und Regeneration in der Schweiz, verkürzt wieder und ignoriert dabei den aktuellen Forschungsstand zu dieser wichtigen Phase der Schweizer Geschichte. Er folgt dabei der eindimensionalen liberalen «Meistererzählung», welche den Freisinn als einzigen Träger des Fortschritts bezeichnet und die Katholisch-Konservativen als Bremsklotz für die Moderne und in «ständestaatlicher Ordnung» verhaftet sieht.
Die Phase von 1798 bis 1848, also von der Helvetik bis zur Gründung des Bundesstaates, war für die Schweiz eine Phase der politischen Umbrüche, ohne Schwarz und Weiss, dafür mit vielen Grautönen. Ein Höhepunkt war der Sonderbundskrieg 1847. Der 1845 gegründete «Sonderbund» respektive die «Schutzvereinigung» verstiess wie das liberale Siebnerkonkordat vom März 1832 und der konservative Sarnerbund vom November 1832 gegen die Bestimmungen des Bundesvertrags von 1815. Eklatante Rechtsverletzungen wie die Klosteraufhebungen und Freischarenzüge sowie die Untätigkeit der Tagsatzung machen seinen Gründungsakt verständlich. Gewissen Liberal-Radikalen kam der Sonderbund (wie die Jesuitenfrage) entgegen, weil sie davon ausgingen, dass ohne Gewalt eine Umgestaltung der Schweiz kaum durchführbar sei. Deshalb trieben sie den Konflikt propagandistisch bis zum Krieg weiter, der glücklicherweise auch dank der Zurückhaltung der Kantone und dem General der Tagsatzungstruppen, Guillaume Henri Dufour, nur ein relativ glimpflicher «Bruderzwist» blieb. Die Anhänger des Sonderbunds ihrerseits manövrierten sich ins Abseits und verschärften die Konfessionalisierung derart, dass sich unter anderen die reformierten Konservativen, die den politischen Anliegen des Sonderbunds wohlgesonnen waren, abwandten oder neutral verhielten. Da die Bevölkerung der Sonderbundskantone mehrheitlich einen Offensivkrieg über die Kantonsgrenze hinaus ablehnte, die militärische Führung nicht genügte und Absprachen untereinander fehlten, blieben die Aktionen des Sonderbunds zum Scheitern verurteilt. Die Bewertung der Vorgeschichte des Sonderbundes ist zentral und wird in der Regel zu wenig gewichtet. Auch Cottier verharrt hier in alten Mustern; dabei war diese Phase eine entscheidende Grundlage für den späteren Bundesstaat. Der Freiburger Historiker Oskar Vasella konstatiert diesbezüglich, dass gerade in der Beurteilung des katholischen Konservatismus «eine grössere Freiheit im geschichtlichen Denken» nötig sei, um die Vorgeschichte der Bundesstaatsgründung wahrheitsgetreuer darzustellen.
Die eidgenössischen Kantone waren bereits während der Restaurationszeit «Laboratorien der Freiheit», was schliesslich auch zur Entwicklung der Demokratie auf Gemeinde- und Kantonsebene beitrug. Das führte dann in der Phase der Regeneration ab 1830 dazu, dass neben radikalen und frühsozialistischen Kreisen auch die Katholisch-Konservativen in ihren Kantonen mehr Volksrechte erkämpften, so zum Beispiel im Kanton Luzern, wo nach St. Gallen und Baselland demokratisch-konservative Kreise das Gesetzesveto als Vorläufer des fakultativen Referendums einführten. Im Gegensatz zu Cottiers Behauptungen haben die Katholisch-Konservativen am Erfolgsmodell der Schweiz entscheidenden Anteil.
Die Bundesverfassung von 1848 war die erste Verfassung der Eidgenossenschaft, die sich die Schweizer Stimmberechtigten selbst gaben. Die Schweiz wurde damit für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eine demokratisch-republikanische Insel inmitten der Monarchien Europas. Im übertragenen Sinne sind hier Vergleiche mit der Gegenwart durchaus erwünscht.
Der Sonderbund half indirekt mit, eine zentralistische Lösung zu erschweren und weitere revolutionäre Umgestaltungen im Sinn der Radikalen zu unterbinden. In den folgenden Jahrzehnten standen der weitere Ausgleich und die Integration der Verlierer und nicht Siegerdiktat und Ausgrenzung im Vordergrund.
II. Lehre für die Gegenwart: Den demokratischen Nationalstaat stärken
Cottier behauptet, dass die heutige Debatte um die Integration der Schweiz in die EU und Nato wichtige Parallelen zur Gründungszeit des Bundesstaates von 1848 aufweise. Tatsächlich geht es im Kern um die Frage der Souveränität. Der EU und Nato nahestehende Kreise – Cottier zählt sich dazu – betonen in diesem Zusammenhang, auch die schweizerischen Kantone hätten ja damals Souveränität an den Bund abgegeben und einen solchen Schritt müsste nun auch die Schweiz in Richtung EU machen. Zum einen wird damit suggeriert, die EU befinde sich mit dem angestrebten Ziel eines Bundesstaates auf einer Erfolgsstrasse. Zum anderen wird der Schweiz eingeredet, dass sie mit einem EU-Beitritt genau das vollziehen würde, was sie in ihrer Geschichte schon einmal gemacht habe, nur dieses Mal eben im grösseren Rahmen. Wer solches nicht unterstützt, wird von Cottier pauschal des «Konservatismus» bezichtigt; deren Anhänger würden heute einen «neuen Sonderbund» bilden. Dieser historische Vergleich hinkt beträchtlich und führt ins ideologische Abseits.
Wie sieht denn heute das EU-Gebilde aus? Cottier spricht bezüglich der EU von einem «neuen Bund in Europa» und dann gar von einem «föderalen Bund». Die EU ist aber de facto weder ein Staatenbund noch ein Bund von gleichberechtigten Ländern. Sie ist keine Nation, sondern ein zentralistisches Gebilde (Brüssel), das durch verschiedene Vertragswerke zusammengehalten wird. An die diversen Verträge halten sich die einzelnen Länder nur bedingt (siehe Maastricht-Kriterien). Die Neigung der EU zu einem bürokratischen Moloch ist augenfällig. Seit den Anfängen, also seit der Montanunion 1951, zeichnet sich die EG/EU zudem durch das Konzept der Supranationalität aus. Das heisst, dass die einzelnen Mitgliedsländer immer mehr souveräne Rechte an das Zentrum abtreten und die eigene staatliche Souveränität kontinuierlich entleert wird.
In den einzelnen Ländern der EU sind – ausser in Irland – nicht einmal Volksabstimmungen über die Staatsverträge, welche die rechtliche Grundlage bilden, vorgesehen. Föderal aufgebaut, wie Cottier behauptet, ist die EU auch nicht, und selbst die auf Eis gelegte EU-Bundes-verfassung, die grösstenteils mit dem Vertrag von Lissabon von 2007 eingeführt wurde, enthält keine klassischen föderalen Elemente. Dementsprechend hat auch das ständige Reden der EU-Verantwortlichen von Subsidiarität keinen Bezug zur Realität. Cottiers Behauptung, die heutigen Strukturen der EU – «ein System der Mehrebenenregierung» – seien mit der schweizerischen Bundesverfassung kompatibel, ist absurd.
«Cottiers Behauptung, die heutigen Strukturen der EU seien mit der schweizerischen Bundesverfassung kompatibel, ist absurd.»
III. Würdigung des Schweizer Sonderwegs
Am Schluss redet Cottier eine globale Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie herbei. Eine solche Dichotomie ist unsinnig, nur schon, wenn man sich den Zustand der Demokratie in Europa anschaut. Die beiden «Kernländer» der EU, Frankreich und Deutschland, versinken immer mehr in Wirtschaftskrise und politischem Chaos. In Frankreich verharrt das Parlament in Flügelkämpfen ohne Bereitschaft für Kompromisse, es herrscht eine politische Blockade. In Deutschlands repräsentativer Demokratie klammern sich die etablierten Parteien an ihre Pfründe. So kommen liberale und demokratische Grundsätze immer mehr unter Druck.
In Zeiten, in denen in Europa das postnationale Zeitalter eingeläutet wird, wie das Intellektuelle wie Cottier wollen, ist es an der Zeit, den demokratisch verfassten Nationalstaat zu festigen und diesen als Rechtsstaat weiter zu stärken. Nur so können Friede und Ordnung gesichert werden. Den Nationalstaat in Europa zu festigen, würde auch heissen, das Projekt der Aufklärung zu vollenden und als ein «Europa der Nationalstaaten» auch die Abhängigkeiten gegenüber den USA selbstbewusster in Frage zu stellen.
Die neutrale Schweiz, als Bundesstaat subsidiär organisiert, muss ihren Sonderweg weitergehen und wird so immer mehr zum demokratischen Modell in einer zunehmend zerrütteten Welt. Die Eidgenossenschaft vereint die besten europäischen Traditionen und könnte mithelfen, im Dialog eine europäische Sicherheitsarchitektur zu errichten, einfach ohne die Nato.