Die Schweiz in der Welt: Stärken und Herausforderungen
Ein schriftlicher Austausch mit dem langjährigen Diplomaten Jacques Pitteloud
Die Schweiz ist ein kleines Land in einer weiten Welt. Welches sind aktuell die wichtigsten Herausforderungen, die diese uns stellt?
Natürlich ist unser Land von allen grossen geostrategischen Bewegungen – und Bedrohungen – mehr oder weniger direkt tangiert, aber eine Frage überschattet alle anderen: für die Schweiz ist der Elefant im Raum unsere Beziehung zur EU; wie wir diese Beziehungen gestalten wollen, das ist die Hauptfrage, die sich uns stellt. Terrorismus, Migration und weitere Phänomene sind nicht zu unterschätzen, aber strategisch gesehen steht im Moment für die Schweiz eine Hauptfrage im Vordergrund.
Dies gesagt, werden wir uns natürlich auch mit sicherheitspolitischen Herausforderungen auseinandersetzen müssen: Der Eindruck, die Welt sei eine friedlichere, geordnetere geworden, hat sich als Illusion herausgestellt. Ich stelle fest, dass gewisse Vorstellungen, die wie Modeerscheinungen aufgekommen und unsere Weltsicht nun über viele Jahre geprägt haben, zum Beispiel die Prognose, Japan werde die Welt regieren, oder die des kometenhaften Aufstiegs der BRICS-Staaten, einem neuen Realitätssinn gewichen sind, die den Blick schärft für alte, bekannte geopolitische Phänomene. Ich denke an die Gegensätze zwischen Russland und dem Westen, die «uneasy partnership» Europas mit der Türkei, die zentrale Rolle des Irans im spannungsvollen Verhältnis zwischen sunnitischer und schiitischer und schliesslich der westlichen Welt.
Diese – neue alte – Welt ist genauso gefährlich wie jene des 20. Jahrhunderts. Für die Schweiz heisst dies, dass sie gewappnet sein muss für unruhige, irritierende Zeiten. Es gibt Krisen und Kriege, wirtschaftliche Destabilisierung, demographische Ungleichgewichte, Terrorismus. Die gute Nachricht: man kann – gerade wir als freiheitliche und demokratische Gesellschaft – lernen, mit diesen Phänomenen umzugehen!
Auch mit Fundamentalismus?
Der Fundamentalismus, der sich ausserhalb Europas entwickelt, löst auch bei uns immense Ängste aus. Dies insbesondere mit Migrationsbewegungen und der Vorstellung, dass Fundamentalismus auch bei uns ankommt oder schon angekommen ist. Nationalistische Reflexe sind in solchen Zeiten leicht zur Hand: Menschen fürchten sich vor ungewisser Zukunft, vor Problemen, die unlösbar scheinen. Sie reagieren damit, sich auf überkommene, angeblich traditionelle Werte zu besinnen; das gibt scheinbare Sicherheit und Stabilität.
Die richtige Art für die Schweiz, auf angsteinflössende Phänomene wie Fundamentalismus zu reagieren, ist aus meiner Sicht: patriotisch, das heisst mit dem Wissen und Bewusstsein darum, dass wir eine Gesellschaft sind, die die besten Karten in der Hand hat, um schwierige Probleme, die sich uns stellen, zu lösen. Wir haben robuste, kluge und effiziente Institutionen gebaut, die in der Lage sind, herausforderungsreiche, komplexe gesellschaftliche Situationen zu meistern.
Kurz gesagt: Nationalismus ist ein Ausdruck der Angst, Patriotismus ist der Ausdruck von gesundem Selbstvertrauen.
Man gewinnt den Eindruck, dass antifreiheitliche Kräfte an verschiedenen Orten der Welt auf dem Vormarsch sind, auch in Europa. Warum?
Nun, wenn Menschen das Gefühl haben, die Welt sei daran, aus den Fugen zu geraten, sehnen sich nicht wenige danach, dass eine starke Hand die Probleme löst und die Welt wieder ins Lot bringt. Demokratische Prozesse funktionieren diametral anders als die sprichwörtliche «starke Hand», sie sind breiter abgestützt und ihre Wirkung setzt daher auch später ein, aber ist dafür auch nachhaltiger. Für die, die rasch wirksame Lösungen wollen, solche, die «durchgreifen» und «jetzt sofort Ordnung machen» wollen, ist die Praxis demokratischer, rechtsstaatlicher und freiheitlicher Prozesse verdächtig, ungeeignet, unwirksam, und sie setzen sie daher zunehmend unter Druck.
Der Ruf nach dem «starken Mann» ist eine periodisch wiederkehrende Erscheinung. In einer komplexen Welt erliegen Menschen immer wieder der Versuchung, auf komplizierte Fragen einfache Antworten formulieren zu wollen. Diese Tatsache erklärt den heutigen Anstieg des Populismus im Westen. Übrigens: Populisten werden dann stark, wenn der politische Mainstream gewissen Themen systematisch ausweicht und die (oft legitimen) Ängste der Bevölkerung ignoriert. Die heutige populistische Welle ist eine direkte Konsequenz der politischen Korrektheit: wenn gewisse Themen gar nicht mehr erörtet werden dürfen, weil es die dominante Denkart verbietet, wächst der Wähleranteil der Randparteien, die sich eben nicht diesem verordneten Denken unterstellen. Populisten stellen sehr oft die richtigen Fragen und liefern fast unausweichlich die falschen Antworten.
Es ist die Aufgabe der etablierten Parteien, auf die Ängste der Bevölkerung einzugehen und die richtigen Problemlösungsstrategien zu entwickeln.
Wie können wir unsere freiheitliche Ordnung, Bürgerrechte und Rechtsstaat verteidigen?
Dadurch, dass wir anerkennen, dass es keine absolute Kontrolle, keine absolute Sicherheit gibt – und dass Kriege, Konflikte, geopolitische Spannungen, wirtschaftliche Instabilitäten einen Preis haben und Verluste mit sich bringen. Man sagt nicht vergebens «war is messy» – er ist es, auch jener, der nicht auf dem Schlachtfeld gekämpft und gewonnen wird, jener, in dem es um die Verteidigung unserer freiheitlichen Ordnung geht.
Und wie reagieren auf interne Kräfte, die den Staat für überflüssig halten oder die freiheitliche Ordnung schwächen wollen?
Wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine gefährlichere Welt auch höhere Kosten mit sich bringt. Wir müssen wissen, dass wir bereit sind, diesen Preis zu zahlen – und hier liegt wohl ein Unterschied zu früheren herausforderungsreichen Perioden: Es scheint manchmal, als ob wir uns der eigenen Werte nicht mehr ganz so sicher wären. Umso wichtiger ist die politische Aufgabe, zu definieren, welche Massnahmen notwendig sind, um die freiheitliche Ordnung mit ihren Bürger- und Menschenrechten und damit den Rechtsstaat zu schützen. Die Politik – im inneren wie im äusseren Aktionsradius – muss hier sorgfältig und weitsichtig navigieren, das heisst: ganz ohne Naivität und mit viel Augenmass.
Ich warte mit einer gewissen Sehnsucht auf die Formulierung einer neuen «Containment Policy» angesichts der aufkommenden ideologischen Auseinandersetzung mit den Gegnern der Freiheit: wer der neue George Kennan des Westens sein wird, weiss ich leider noch nicht, aber die freiheitlichen Gesellschaften müssen wieder ideologisch aufrüsten.
Wie steht die Schweiz im Vergleich da?
Die institutionelle, rechtsstaatliche Ordnung im Land, die funktionierende Demokratie – dies sind ohne Zweifel zwei schwergewichtige Stärken, die die Schweiz zu einem Erfolgsmodell machen. Diese Eckpfeiler unserer Gesellschaft schaffen den Rahmen, Einwanderung zugunsten der Schweiz zu nutzen. Praktisch jeder Schweizer, jede Schweizerin hat eine Familiengeschichte, die irgendwo und irgendwie mit Einwanderung und Migration verbunden ist. Es macht mich stolz, in den Zeitungen zu lesen, dass Secondos überdurchschnittliche Uni-Leistungen erzielen. Wir mögen das Image von Kleinkrämern und Buchhaltern haben: Wenn wir uns umschauen, sehen wir, dass wir überdurchschnittlich leistungsfähige gesellschaftliche Lösungen gefunden haben. In der Schweiz hat die Integration bisher bestens funktioniert und ich habe keine Zweifel, dass es auch in Zukunft so sein wird.
Sicher orten Sie auch Schwächen, die sich bemerkbar machen?
Was mich besorgt, ist die Beobachtung, dass wir mehr und mehr denken, wir könnten wichtige gesellschaftliche Leistungen einfach einkaufen, ohne uns dafür mit unserer Zeit und unserem Mitdenken dafür zu engagieren – dabei bedingen die rechtsstaatliche, freiheitliche Ordnung, eine lebendige Demokratie und sozialer Zusammenhalt aktiv engagierte Bürgerinnen und Bürger. Und ihren kritischen Geist! Um Trends abzuwenden, wie jener, dass jeder und jede einen Universitätsabschluss braucht. Unser duales Berufsbildungssystem ist Gold wert und aus wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer, aber auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist es eines der herausragenden Plus der Schweiz.
Brexit – was wären die Konsequenzen?
Es ist eine Binsenwahrheit, dass ein Brexit weitreichende Konsequenzen für ganz Europa haben dürfte. Über konkrete Folgen kann man heute nur spekulieren. Die Schweiz hat sich auf verschiedene Szenarien eingestellt. Aus meiner Sicht gilt die normative Kraft des Faktischen: Jede Ausgangslage nach der Volksbefragung vom 23. Juni werden wir als Chance betrachten und packen müssen.
Die Geschichte zeigt: Freiheitliche Gesellschaften gewinnen. Gilt das auch in Zukunft?
Freiheitliche Gesellschaften sind oft nicht auf Konflikte, schon gar nicht auf bewaffnete Konflikte vorbereitet. Sie brauchen Zeit, um aus dem Dornröschenschlaf aufzuwachen. Aber wenn sie erwacht sind, können sie Energien freisetzen, die eine autoritär strukturierte Gesellschaft niemals mobilisieren kann. In beiden Weltkriegen und im Kalten Krieg hat sich gezeigt, dass sich die freiheitlichen Gesellschaften durchsetzen, nur sie konnten schliesslich und auf die Länge alle erforderlichen Ressourcen bereitstellen. Nur in freiheitlichen Gesellschaften wird die Fähigkeit zum kritischen Denken gefördert – und es ist schliesslich dieser kritische Geist, das Hinterfragen, die Selbstverantwortung auch zur Suche von Lösungen, das konstruktive Mitdenken, Mittragen, das eine freiheitliche Gesellschaft erfolgreich macht. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass dies nicht auch künftig der Fall sein wird.
Jacques Pitteloud
ist Jurist und langjähriger Diplomat im Dienste der Eidgenossenschaft. Seit 2015 leitet er die Direktion für Ressourcen des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Zuvor war er unter anderem als Missionschef in Nairobi, Kenia, und in verschiedenen Führungsfunktionen des EDA und des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) tätig.