Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg
Arbeitskreis Gelebte Geschichte,
Wir ziehen Bilanz: Zur Haltung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg
Stäfa: Gut Verlag, 2005
Ist es nötig, dass der «Arbeitskreis Gelebte Geschichte» (AGG) die Kritik am Bergierbericht, die doch schon da und dort sattsam bekannt ist, nochmals auffrischt? In der Gemeinschaftsarbeit : «Wir ziehen Bilanz» wiederholt und ergänzt der geschichtsbewusste Arbeitskreis Feststellungen, die er zum Teil schon in seiner ersten Publikation «Erpresste Schweiz» (2002) vorgebracht hat.
Um die gestellte Frage vorweg zu beantworten: der neuerliche Versuch, die Vergangenheitsvergewaltigung des Bergierberichts zu bewältigen, ist bitter nötig. Ein zwingendes Motiv dafür war offenbar die unglaubliche Gedankenlosigkeit Israel Singers, mit der er als Vorsitzender des Jüdischen Weltkongresses die schweizerische Neutralität im Zweiten Weltkrieg als Verbrechen (crime) bezeichnen durfte – und das selbst dann noch, als 2005 viele glaubten, Entschuldigungen, Erklärungen und die mehr als anderthalb Milliarden des Bankenvergleichs hätten Genüge getan. Singers nie widerrufene Behauptung wird in dem Buch mehrmals widerlegt, erstaunlich geduldig von Hans Senn, dem Generalstabschef von 1977 bis 1980. Er legt mit sachlichen Gründen dar, dass der Krieg «durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland kaum verlängert, durch die erfolgreiche Behauptung unseres Landes möglicherweise sogar verkürzt» wurde.
Nicht ohne Empörung geht der Auslandschweizer Georg Gyssler, seinerzeit Brown-Boveri-Geschäftsleiter in New Jersey (USA) auf die «massiven Vorwürfe» Singers ein; sie seien «kalkuliert» und zielten darauf ab, neue Klagen zu erheben. – Der Amerikaner Stephen P. Halbrook (Autor von «Swiss Armed Neutrality in World War II», 1998) erörtert, wie sinnlos und kontraproduktiv es – auch für die nicht wenigen geretteten Juden – bis 1945 gewesen wäre, wenn die Schweiz den Alliierten hätte zu Hilfe kommen wollen. Halbrook erinnert auch daran, wie wenig neutral die herrschende Gesinnung in der Schweiz war; er zitiert, wie Deutsche hier genannt wurden, wobei sich das schweizerdeutsche Wort im englischen Text recht deutlich und gar nicht drollig ausnimmt: «bad names such as ‹Sauschwob› (Swabian pig)». – Redaktor Hannes Ringger geisselt die servile Haltung der Schweizer Medien, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weder Singer, noch Bronfman, noch d’Amato, noch Eizenstat usw. zurechtzuweisen wagten.
Der französische Jurist und Politologe Marc-André Charguéraud, Autor von «La Suisse présumée coupable» (2001), äussert sich am heftigsten über Singers Provokation. Der Franzose begreift nicht, dass es in der Schweiz keine nachhaltigen Reaktionen gab, dass sich Singer nicht einmal entschuldigen musste, wie es Alfred Donath immerhin verlangt hatte. Und in Amerika – das die vermeintlich amoralische Haltung der Neutralität selber bis zur Provokation von Pearl Harbour (7. Dezember 1941) bewahrte – hätte sich der Eindruck festgesetzt, dass Singer die Schweiz mit Recht verhöhne.
Das schwierigste Kapitel hat Jean Christian Lambelet, Wirtschaftsprofessor in Lausanne und Genf, übernommen. Er überdenkt nochmals die schweizerische Flüchtlingspolitik von 1939 bis 1945, ohne sie restlos rechtfertigen zu können. Denn in der Tat kann nichts darüber hinwegtäuschen, dass die Schweiz sich schuldig gemacht hat. Das oft missbrauchte Wort von der «tragischen Schuld», der selbst der Gutwillige, gerade weil er gutwillig ist, nicht ausweichen kann, darf hier benutzt werden. Und Gutwilligkeit, die ja auch das Überleben des eigenen Volkes bedenken musste, darf mindestens einem Teil der verantwortlichen schweizerischen Instanzen zugestanden werden. Und weil auch die unvermeidliche Schuld vom Schuldbewussten schmerzlich empfunden wird, ist es verwerflich, wenn Kritiker, die ihrerseits anscheinend keinerlei Schuld verspüren, das Missgeschick des Schuldbewussten noch mit falschen Bezichtigungen aufbauschen. Deshalb ist es verständlich, wenn Lambelet darauf beharrt, dass die Bergier-Kommission die Zahl der abgewiesenen Flüchtlinge zu hoch angesetzt habe, indem sie von der Zahl der Abweisungen auf die Zahl der Abgewiesenen schloss, was insofern problematisch ist, als sich viele Flüchtlinge zwei- oder mehrmals meldeten. Des Weiteren erinnert Lambelet daran, dass der Beschluss vom 13. August 1942, die Grenze für sämtliche illegalen Flüchtlinge zu schliessen, in der Praxis nicht streng befolgt wurde. Bundesrat Steiger habe mit dem offiziellen Beschluss weitherum die allzuvielen potentiellen Immigranten abschrecken wollen, um im wirklich praktizierten Aufnahmeverfahren um so grosszügiger sein zu können. Hätte die Schweiz die Grenze völlig geöffnet, wäre dies rasch in ganz Europa bekannt geworden, und es hätte bald so viele Asylbewerber gegeben, dass entweder die ohnehin bedrängte Wirtschaft wirklich zusammengebrochen wäre, oder man hätte die Allzuvielen schliesslich doch abweisen müssen. Lambelet resümiert: Die Frage, ob die Aufnahmepraxis noch grosszügiger hätte sein können, lasse sich nicht fundiert beantworten. Doch nichts erlaube, die Hypothese auszuschliessen, dass das Land unter den damaligen Umständen «le maximum de ce qu’il lui était possible» getan habe.
Der bereits erwähnte Hans Senn geht mit Generalsgeschick auf die Kommission Bergier ein, indem er ihre Argumente, soweit sie Berechtigung haben, freimütig anerkennt, um dann das Unberechtigte um so überzeugender blosszustellen, besonders treffend Hans Ulrich Josts Verunglimpfung der geistigen Landesverteidigung und Jakob Tanners abstruse Deutung des Reduitbezugs als «Demutsgeste». Da der Bundesrat der Kommission die einseitige Sicht auf die antischweizerischen Klagen anbefohlen hatte, hätte sie leicht zugeben können, dass ihr Bericht nicht die ganze Wahrheit enthalten konnte. Wenn klar widerlegte Behauptungen von diesen Experten oder von verantwortlichen Instanzen des Jüdischen Weltkongresses, der BBC und des schweizerischen Fernsehens oder von massgeblichen Advokaten und Politikern in den USA auch nur einmal zurückgenommen worden wären, hätte der AGG wohl auf seinen neuerlichen Protest verzichten können. Und schlagende Widerlegungen gab es ja, nicht nur die hier bereits erwähnten, auch in der Presse, und nicht nur in der «Schweizerzeit» und im «Zürcher Boten», und es gab sie auch von Juden, besonders entschieden von Max Frenkel und provokant von Norman Finkelstein: «The Holocaust Industry». Aber diese Stimmen wurden nie an massgebender Stelle erhört, und so muss man allen vierzehn Autoren des vorliegenden Buches dankbar sein.
Jeder hat etwas Wichtiges zu sagen, nicht zuletzt die einzige Frau unter ihnen, Elisabeth Bürki-Flury. Sie verteidigt die vom Bergier-Bericht kritisierten Bäuerinnen und Geschäftsführerinnen, die das Überleben in der Neutralität wesentlich ermöglicht haben. Botschafter Heinz Langenbacher verteidigt die Aktivdienstgeneration, die «Erlöschenden», wie Experte Georg Kreis sie apostrophiert habe; aber er geht wohl zu weit, wenn er die Willfährigkeit des späteren Geschlechts nur mit dem Bedürfnis erklärt, «so schnell wie möglich zum business as usual zurückzukehren». Langenbacher übersieht das der Selbstanklage vorauseilende Schuldgefühl, das in unserer Gesellschaft immer noch weit verbreitet ist. Auch Nationalrat Martin H. Burckhardt wehrt sich für die ältere Generation und berichtet von rühmlichen Erfahrungen mit den Bundesräten Minger, Schaffner, Delamuraz und von unrühmlichen mit Bundesrat Cotti. Hans Georg Bandi, Professor für Urgeschichte, kritisiert Flavio Cotti ebenfalls, etwa aufgrund seiner Auswahl der Experten, und er ruft die kriegverkürzende Aktion des späteren Divisionärs Max Waibel in Erinnerung. Der Wirtschaftswissenschafter Marcel Charles Heimo rekapituliert gründlich «L’affaire des fonds juifs en déshérence». Rudolf Stettler, Jurist und Diplomat, erwägt, auf welche Weise der Bergierbericht für die Schulen von Nutzen sein könnte. Ohne auf seine persönliche Involvierung einzutreten, fragt Botschafter Carlo S. Jagmetti, wer für die heute noch nachwirkende Eskalation der Krise in den Beziehungen zu den USA verantwortlich war. Niemand sei zur Rechenschaft gezogen worden. Aber die Frage werde vielleicht auch irgendeinmal von einer Kommission geprüft werden. Jagmetti erwartet von einer solchen jedoch nicht einfach eine billige Beschuldigung von Bundesrat und classe politique. In einem eindrücklichen weltpolitischen tour d’horizon zeigt er, wie just das an sich erfreuliche Ende des Kalten Krieges den USA mehr Unabhängigkeit und Rücksichtslosigkeit auch gegenüber Freunden erlaubte. Professor Peter Wegelin entwirft schliesslich ein grosses Fresko der Schweizergeschichte, angefangen mit der hochgemuten Landesausstellung 1939 und der imposanten AHV-Abstimmung 1947, über das sogenannte Malaise von 1964, die Jugendunruhen von 1968 bis zu dem «unverständlichen Wertewandel», den der Bundesrat der 90er Jahre mit seiner Umdeutung der Landesgeschichte um «einer vermeintlich wirkungsvollen Aussenpolitik» willen betrieben habe. Aber Wegelin will keine Generation aburteilen; er schliesst mit einem Lob der heute zunehmenden Bereitschaft zur Freiwilligenarbeit.
besprochen von Gerhard Frick, geboren 1924, Historiker und Buchautor in Zürich.