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Die Schweiz, ein Land der Rentner

Die freiheitliche Wirtschaftsform ist der Ausgangspunkt für Wachstum und Wohlstand aller statt weniger. Die Schweiz aber nimmt freiwillig Abschied vom Wettbewerb und verrentet sich.
Eine Einsicht ist nicht erkennbar. Oder doch?

Die Schweizerische Post AG war lange eine staatstragende Organisation – sie ist noch heute eine vom Staat geführte. Der Konzern ist eine Einheit, die im sicheren, langen Schatten des grossen staatlichen Monopolisten agiert und bemüht ist, sich aus einem öffentlich geleiteten in einen nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen geführten Betrieb zu entwickeln. Langsam. Theoretisch. Von verwandeln kann jedenfalls keine Rede sein, und eine Privatisierung steht nicht an. Das Siegel des staatlichen Privilegs bleibt auf unabsehbare Zeit bestehen.

Jedes Privileg bedeutet zugleich eine Bürde. Statt Briefe oder Postkarten verschicken wir WhatsApp-Nachrichten, E-Mails und Snapchat-Botschaften. Die Pakete werden nicht unbedingt weniger, aber längst auch von anderen Anbietern verteilt. Die Kerngeschäftsfelder der Post schrumpfen. Dennoch muss das Unternehmen die Grundversorgung gemäss Artikel 92 der Bundesverfassung in abgelegenen Tälern und Weilern aufrechterhalten und bekommt unter anderem deshalb die auflaufenden Defizite durch den Staat gedeckt. Das ist die Bürde – für die Post und für die Mehrheit der Steuerzahler.

Ein wirklich nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen geführter Betrieb hätte sein Geschäftsnetz längst gestrafft. Das geht nicht, und dennoch muss etwas geschehen, weil sich die Welt verändert. Wer in letzter Zeit einmal den Fuss in eine Poststelle gesetzt hat, kann dies bezeugen. Die Post bietet nicht mehr nur Briefmarken und Einzahlungsschalter an, sie ist Bank, Kiosk, DVD-Verkäuferin, Buchladen und Kopiercenter in einem. Sie tut das, was private Unternehmen tun, wenn die Margen im herkömmlichen Geschäft schwinden. Sie diversifiziert und sucht sich frisches Business. Sie bietet mit bestehenden Kostenstrukturen neue Dienstleistungen feil.

Doch genau damit gerät sie als staatsnahes Unternehmen in direkten Wettbewerb mit privaten Anbietern von Bankservices, Büchern, Kopierwaren, Drucksachen, Kioskartikeln. Nur dass diese Akteure im Unterschied zur Post im schlimmsten Fall in Konkurs gehen, im Bedarfsfall nicht auf ebenso vorzüglich verzinste Darlehen zurückgreifen oder im Zweifelsfall einzelne defizitäre Geschäftsfelder nicht quersubventionieren können.

Der Spiess eines staatlichen oder staatsnahen Betriebs ist in guten wie in schlechten Zeiten um einiges länger als jener eines wirklich privatwirtschaftlich tätigen Unternehmens. Dem Grundsatz der wettbewerblichen Neutralität entspricht dieser Zustand nicht. Schlimmer noch, er verfälscht den Wettbewerb, weil er private Initiativen erschwert bis verunmöglicht. Wenn eine komplizierte Koexistenz von staatlich geleiteter und privatwirtschaftlich dominierter Wirtschaftstätigkeit zu einem unfairen Verdrängungskampf wird, ist dies Ausdruck einer verkrampften Wirtschaftsordnung. Die Wirtschaftsfreiheit, das Axiom für Wachstum und Wohlfahrt, bleibt ein frommes Versprechen.

Diese Freiheit zu Wohlfahrt steht indes in unserer Verfassung aus dem Jahre 1999 – unter dem Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit in den Artikeln 94 und 27. Abweichungen von diesem Grundsatz, die sich gegen den Wettbewerb richten, sind begründungspflichtig. In der Verfassung haben wir uns alle auf ein Bekenntnis geeinigt, wonach wirtschaftliche Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung die Wertepfeiler auch des staatlichen Handelns darstellen. Demgegenüber stehen als zu zähmende Grössen die staatliche Einflussnahme und eine bewusste Steuerung der Wirtschaft. Schon die Gründerväter (und -mütter) sind davon ausgegangen, dass mit dieser Maxime Wohlstand für alle dauerhaft erreicht und der Staatsumfang in Schranken gehalten werden kann.

Diesem Denken liegt eine positive Überzeugung zugrunde. Nicht der Staat, sondern privatwirtschaftliche Akteure sind die primären Leistungserbringer, weil sie dies ebenso gut oder besser können. Viele kleine, dezentrale Initiativen privater Unternehmer vermögen Fehlentwicklungen zudem schneller und in ihrer Wirksamkeit beständiger zu korrigieren, als wenn die öffentliche Hand, ausgestattet mit Exklusivansprüchen, an ihrer statt tätig würde. Forschungsergebnisse stützen diese in der modernen Schweiz gelebte und erwiesene Annahme. Es zeigt sich, dass die sogenannte Fiskalquote – die Summe aller Einnahmen des Staates im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt – direkt mit der Wachstumsquote verbunden ist.1 Die Korrelation ist negativer Art: je höher die Fiskalquote über die Jahre, desto geringer die Wachstumsquote. Hohe Fiskalquoten, oder etwas vereinfacht: hohe Steuern und andere Zwangsabgaben, sind Wachstumsbremsen für eine Volkswirtschaft. (Und nur in Klammern sei bemerkt: Nur wo viel Wohlstand ist, kann jemand auf die Idee kommen, über eine staatliche Drosselung des wirtschaftlichen Wachstums nachzudenken. Wachstumskritik ist ein Luxusphänomen.2)

 

Wie gross ist die Idealgrösse?

Wie gross soll und darf die maximale staatliche Einflussnahme in der Wirtschaft sein? Das ist die Kernfrage, an der sich die politischen Geister scheiden. Der Vater der modernen Ökonomie, der Schotte Adam Smith, sah den idealen Staat als einen Player, der sich auf drei Aktionsfelder konzentriert: «Peace, tolerable justice and easy taxes.»

Sind die Steuern in der Schweiz heute «easy»? Jede unternehmerisch tätige Person, die ihr Geld auf eigenes Risiko verdient, wird dies verneinen. Derweil steigen die Staatseinnahmen auch in der Schweiz seit Jahr und Tag. Was der Staat einnimmt, gibt er auch konsequent aus. Die Staatsaktivitäten wachsen über die Jahrzehnte gesehen an, die Aufgaben – die Anmassungen – nehmen zu. Wer den Blick auf die bereits erwähnte Fiskalquote richtet, erkennt Erstaunliches. Dieser Indikator beträgt für das Messjahr 2009 offiziell 30,3 Prozent. Verglichen mit den OECD-Ländern ist dies ein ausgesprochen tiefer Wert. Doch hier versteckt sich das Problem. Die OECD kalkuliert die Zwangsbeiträge an private Einrichtungen wie die berufliche Vorsorge und die Krankenkasse nicht, die hierzulande einen bedeutenden Teil des Sozialstaates ausmachen. Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, hat diese Summen berücksichtigt und eine Fiskalquote von 42,6 Prozent für dasselbe Jahr errechnet,3 Avenir Suisse kommt auf der Grundlage nachvollziehbarer Berechnungen gegenwärtig auf einen Wert von 48 Prozent.4

Die Staatsquote – die Summe aller Staatsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt – ist nur eine logische Folgerung aus der Fiskalquote, weil sich Staaten selbst mit weiterhin leistungsfähigen Volkswirtschaften nicht beliebig verschulden können. Auch in der Schweiz dreht sich der Diskurs längst um eine einprägsame Zahl: 50. Über rund 50 Prozent der Wertschöpfung der Volkswirtschaft gebietet der Staat. Dieses bedeutet nicht, dass die Bürger ein halbes Jahr für den Staat arbeiten – als Regel gilt, dass der Staat rund die Hälfte der Hälfte, also einen Viertel, den Bürgern über verschiedene Kanäle und Kassen in geldwerter Form wieder zurückerstattet.5 Aber die Quote zeigt an, über welchen Teil der Wertschöpfung nicht mehr der einzelne, sondern Repräsentanten des Kollektivs – Politiker, Amtsträger, Behördenvertreter – entscheiden: es ist sozusagen der freiwillige Entmündigungskoeffizient einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Deshalb ist der Befund des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk zutreffend: Staaten mit Quoten von um die 50 Prozent gehören zur Kategorie der «real existierenden Semisozialismen». 6 Die Hälfte der Wertschöpfung wird den Bürgerindividuen entzogen, damit kollektiviert und verpolitisiert. Eigenverantwortung wird rhetorisch hochgehalten in der Erarbeitung der Wertschöpfung – wenn es jedoch um die Verwendung des Erwirtschafteten geht, gilt das Prinzip der brüderlich geteilten Verantwortung.

 

Eklatanter Realitätsverlust

Diesem Befund steht ein merkwürdiges diskursives Phänomen gegenüber. Obwohl sich der grosse Einfluss des Staates in der Schweiz auf die Privatwirtschaft eindeutig belegen lässt, ist im öffentlichen Narrativ stets vom «schlanken Staat» die Rede (in Abgrenzung etwa von den Nachbarstaaten). Schlagworte wie «Tiefsteuerland» oder «Steuerparadies» gehören zum Repertoire von Etatisten und Staatsskeptikern gleichermassen. Gerne wird von beiden Seiten auf die Birnen mit Äpfeln vergleichenden Statistiken der OECD und anderer Organisationen verwiesen. Besser noch: den Parteien querbeet in diesem Land ist es gelungen, schlicht zu vergessen, welches die Aufgabe des liberalen Staates wäre. Sie vermitteln den Eindruck, Wettbewerb sei inzwischen in unmenschlicher Weise gewachsen und Teil einer seelenlosen Welt geworden.

Es ist gerade so, als ob eine Schar Politikerinnen und Politiker in einer Nussschale auf hoher See schaukeln und munter Lieder über mystifizierte Bergwanderungen trällern würde. Das wäre nicht weiter schlimm, würde sie die missliche nautische Situation erkennen und nicht die spärliche Zeit für sinnlose Diskussionen über die optimale Nutzung von fernen Berggebieten verschwenden. Woher rührt dieses Verkennen der Realität?

Es ist bewusst und gewollt. Die staatlichen Aktivitäten auf dem Feld der Wirtschaft nehmen seit Jahren spürbar zu. Entweder steigt die Intensität von direkten Marktinterventionen oder aber die Einflussnahme durch staatliche, staatsabhängige oder staatsnahe Akteure verschärft sich. Dies hat zur Folge, dass das Heer der Angestellten des staatlichen, staatsabhängigen oder staatsnahen Sektors und der Empfänger staatlicher Transferleistungen ständig wächst. Die wechselnden Mehrheiten im Land sind längst zu Profiteuren des staatlichen Gewalt- und (Um-)Verteilungsmonopols geworden. Die Schweiz nimmt Abschied vom Wettbewerb und verrentet sich selber im Glauben, dass die Renten ewig weiterfliessen.

Reformen auf Gesetzes- oder Weisungsebene würden den Wettbewerb auffrischen, doch sie sind nicht mehr durchsetzbar gegen die Interessen der Profiteure der geltenden Ordnung. So wird die frühzeitige Verrentung zum Ausgang der Bürger in ihre selbstgewählte Unmündigkeit.

Noch in den 1990er Jahren haben die politischen Kräfte im Lande wenigstens ansatzweise Reformwille und Umsetzungskraft an den Tag gelegt. Es war ein Gebot der Not: Die Wirtschaft erwies sich als dauerstagnierend – und der Staat wuchs weiter. Heute fehlt dieser Druck trotz Frankenstärke und wachsender Regulierungsdichte – was sich die Schweiz in den letzten Jahren leistet, ist im besten Falle ein bequemer Luxuspessimismus. Der Volksmund nennt es «leiden auf hohem Niveau» – man redet über unvollendete Reformen, um sich vor ihnen zu drücken.

Der Finanzsektor ist gegängelt und unterliegt einer in absurdem Masse zunehmenden Regeldichte, welche Auswüchse der Vergangenheit bekämpft, in Tat und Wahrheit aber jene der Zukunft erst ermöglicht. Der Arbeitsmarkt ist systematisch verbürokratisiert. Demokratisch nicht legitimierte Weisungen und Erlasse erschweren das Unternehmertum. Wer heute die Selbständigkeit sucht, läuft Gefahr, sich kafkaesk in Bürokratiefluren zu verlaufen, bevor auch nur der erste Franken nach Hause getragen ist. Das Gesundheitssystem ist durch- und überreguliert. In der Energiefrage schliesslich hat die öffentliche Hand nach dem Atom-GAU von Fukushima überstürzt eine Wende eingeleitet und ist in einen Blindflug übergegangen.

Allenthalben wächst der Staat trotz historisch einmalig hoher Staatsquote. Der Wettbewerb schrumpft trotz obsessiver Wettbewerbsrhetorik. Der in der Verfassung niedergeschriebene Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit verblasst und verdampft zur blossen Erinnerung. Es bleibt die Erzählung von einer besseren Zeit des Wachstums und der Schaffung von Volksvermögen. Die Frage liegt auf der Hand: Soll das wirklich eine zeitlich nahe, aber gefühlt weit zurückliegende Vergangenheit bleiben, nur weil wir offenbar den erwiesenen Erfolgsmotor – die Garantie der Wirtschaftsfreiheit – vergessen haben?

Würden die politischen Parteien und die staatlich kontrollierten Stellen die mittelfristigen Interessen aller wahrnehmen, wäre die Antwort klar. Stattdessen schielen Volksvertreter von links bis rechts auf die mächtige Klientel der offenen oder versteckten Rentenbezüger und stärken deren kurzfristiges Wohlbefinden, jenseits aller Finanzierbarkeit.

Das zeigt das ganze Dilemma. Wer vergisst, gewinnt jetzt und verliert morgen. Wer sich erinnert, besinnt und erneuert, der verzichtet heute, wird aber morgen noch wohlanständig leben. Der zweite Weg ist der schwierigere. Aber zweifellos der bessere.


Bruno Affentranger
ist Wirtschaftspublizist und Verleger (BA Medien, Luzern).

René Scheu
ist Philosoph und Herausgeber des «Schweizer Monats».


1 Andreas Bergh, Magnus Henrekson: Government Size and Growth:
A Survey and Interpretation of the Evidence, Research Institute of Industrial Economics, IFN Working Paper No. 858, 2011.

2 Zur Kritik der Wachstumskritik bzw. den Mythen des Nullwachstums:
www.warum-wachsen.ch

3 Urs Furrer, Frederic Pittet: «Fiskalpolitik der Schweiz: der Schein trügt», Dossierpolitik Economiesuisse, Februar 2011.

4 Gerhard Schwarz, Marco Salvi: «Wo bitte diktiert der Markt?», in: Schweizer Monat, Juni 2015, Ausgabe 1027, S. 50–54.

5 Marco Salvi, Luc Zobrist: «Zwischen Last und Leistung: Ein Steuerkompass für die Schweiz», NZZ Libro, 2013.

6 Peter Sloterdijk: «Du musst dein Leben ändern», Suhrkamp: Frankfurt 2009, S.608: «Was die Ungelassenen am wenigsten verstehen, ist die schlichte Gegebenheit, dass bei Staatsquoten um 50 Prozent der Tatbestand des real existierenden liberal-fiskalischen Semisozialismus erfüllt ist, gleichgültig, unter welchem Etikett dieser Zustand an den Mann gebracht wird, ob er New Deal heisst oder ‹soziale Marktwirtschaft› oder ‹Neoliberalismus›.» Vgl. ebenfalls «Kapitalismus und Kleptokratie. Über die Tätigkeit der nehmenden Hand», in: «Die nehmende Hand und die gebende Seite», Suhrkamp: Frankfurt 2010, S. 97 ff.

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