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Ab jetzt geht es abwärts: Eine schrumpfende
Arbeitsbevölkerung stellt die Schweiz vor neue Herausforderungen

Um die Folgen des demografischen Wandels zu kompensieren, muss die Schweizer Wirtschaft produktiver werden. Doch bis jetzt hinkt sie anderen Ländern hinterher. Höchste Zeit für neue Ansätze.

Ab jetzt geht es abwärts: Eine schrumpfende Arbeitsbevölkerung stellt die Schweiz vor neue Herausforderungen
Ein Rentner hobelt Holz in seiner Werkstatt, fotografiert am Freitag, 2. Februar 2024 in Uster. Bild: Keystone/Christian Beutler.

Der demografische Wandel, also Veränderungen von Bevölkerungsgrösse und Struktur, ist in seinem Ausmass und seinen Auswirkungen überall auf der Welt prägend für die Zukunft der Menschheit. In den letzten rund 200 Jahren haben die meisten Länder ein Bevölkerungswachstum und insbesondere ein Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter verzeichnet. Im Rahmen dieser Transition sind auch die Geburtenraten sowie der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung gestiegen. Heute ist die Situation eine andere: Durch die steigende Lebenserwartung bei gleichzeitig immer weniger nachrückenden Menschen wird der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in immer mehr Ländern sinken. Dieser Rückgang der relativen und absoluten Grösse der Erwerbsbevölkerung hat ungeahnte Folgen. Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum, den damit einhergehenden Wohlstand sowie auf die Innovationsfähigkeit sind dabei von besonderer Tragweite.

Im Jahr 2024 erreicht der Bestand der Schweizer Arbeitsbevölkerung, also der Menschen im Alter zwischen 15 und 65, seinen Höhepunkt. In der Schweiz hat sich das Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter seit den 2010er-Jahren verlangsamt und wird ab nächstem Jahr sinken. Bis im Jahr 2050 wird es in etwa auf den Stand von 2008 zurückfallen. Dies ist vor allem auf die seit über 40 Jahren tiefen Geburtenraten in der Schweiz zurückzuführen.

Jedes Jahr 20 000 Arbeitskräfte weniger

Der positive Nettozuwanderungssaldo gleicht den Rückgang in der Schweiz nicht aus: Die Erwerbsbevölkerung wird von derzeit etwa 5,8 Millionen auf 5,3 Millionen im Jahr 2050 schrumpfen. Das entspricht einem Rückgang um etwa 20 000 Arbeitskräfte jedes Jahr – also ungefähr der Bevölkerung der Stadt Aarau. Langfristige Bevölkerungsprognosen für die Schweiz deuten nicht nur auf einen Rückgang der Erwerbsbevölkerung, sondern auch der Gesamtbevölkerung hin. Dieser Rückgang steht im Gegensatz zu den USA, deren Gesamt- und Arbeitsbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten voraussichtlich weiterwachsen wird, wenn auch in einem langsameren Tempo als bisher. Dies vor allem deshalb, weil in den USA in den letzten vierzig Jahren die Geburtenraten immer deutlich höher waren als in Europa. Ebenfalls gab es einen Zustrom von Einwanderern mit einer hohen Arbeitsmotivation.

Seit 1950 ist das Wachstum der Erwerbsbevölkerung in der Schweiz einer der wichtigsten Treiber des Wachstums des Bruttoinlandsproduktes (BIP). Auf dieses Wachstum kann sich die Schweizer Wirtschaft nun nicht mehr verlassen. Die Summe an geleisteten Arbeitsstunden wird in der Schweiz sinken. Der einzige Mechanismus, dies wirtschaftlich zu kompensieren, wäre eine steigende Produktivität. Doch auch diese stagniert in der Schweiz seit langem.

Wichtigste Messgrösse für die Produktivität ist die sogenannte totale Faktorproduktivität (TFP). Dies ist eine volkswirtschaftliche Kennzahl, welche die Effizienz misst, mit der die kombinierten Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zur Herstellung von Waren und Dienstleistungen eingesetzt werden. Auch wenn die Produktivität in der Schweiz, besonders die Arbeitsproduktivität, in den letzten 30 Jahren leicht angestiegen ist, zeigt die langfristige Analyse eine Stagnation. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die TFP zunächst stark angestiegen, doch mittlerweile liegt sie nur leicht über dem Niveau von 1974. Die Schweizer Produktivität betrug im Zeitraum 2007–2020 nur rund 60 Prozent der Produktivität der USA. Der Hauptgrund für die wachsende Produktivitätslücke ist der Technologiesektor. Die Schweiz und Europa generell konnten aus der ersten digitalen Revolution, die durch das Internet ausgelöst wurde, zu wenig Profit ziehen – sowohl im Hinblick auf die Gründung neuer Technologieunternehmen als auch auf die Verbreitung digitaler Technologien in der Wirtschaft. Diesen Rückstand aufzuholen bleibt die grosse Herausforderung der Schweiz.

«Die Schweizer Produktivität betrug von 2007 bis 2020 nur rund

60 Prozent derjenigen der USA. Der Hauptgrund für die wachsende Lücke ist der Technologiesektor.»

Ältere Bevölkerung, tiefere Innovationsfähigkeit

Eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung wird in der Schweiz ohne Zweifel Einfluss auf das langfristige wirtschaftliche Wachstum haben. Dies ist unter anderem auf weniger Arbeitskräfte, eine sinkende beziehungsweise andere Konsumnachfrage, sozialpolitische Belastungen, negatives Investitionsklima und die Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit zurückzuführen. Länder mit hohem Einkommen, die ein positives Bevölkerungswachstum im Erwerbsalter aufweisen, haben ein im Mittel um 0,9 Prozentpunkte höheres BIP-Wachstum pro Jahr als Länder ohne oder mit negativem Erwerbsbevölkerungswachstum. Dieser Effekt macht langfristig einen wesentlichen Unterschied und bedeutet hohe Opportunitätskosten für den Wohlstand in der Schweiz.

Kann uns mehr Innovation vor diesem Wohlstandsverlust retten, indem wir unsere schrumpfende und alternde Erwerbsbevölkerung mit höherer Produktivität kompensieren? Leider nur bedingt, denn der demografische Rückgang hat ebenfalls negative Auswirkungen auf die Innovationsfähigkeit eines Landes. Jüngere Menschen haben mehr von dem, was Arbeitspsychologen «fluide Intelligenz» nennen, namentlich die Fähigkeit, neue Probleme zu lösen und sich mit neuen Ideen auseinanderzusetzen. Ältere Menschen verfügen über mehr «kristallisierte Intelligenz», einen Bestand an solidem Wissen über die Funktionsweise von Dingen, die sie im Laufe der Zeit aufgebaut haben.

Die «fluide Intelligenz» erreicht im frühen Erwachsenenalter ihren Höhepunkt und beginnt mit 30 Jahren bereits abzunehmen. Beide Arten von Intelligenz sind nützlich, aber sie sind nicht gleichwertig, wenn es um Innovation geht. Im Allgemeinen beeinflusst ein hoher Anteil junger und mittlerer Alterskohorten das Innovationstempo positiv, während der Einfluss bei Rentnern negativ ist. Dies ist auch messbar: Ein Rückgang der Erwerbsbevölkerung wird in der Schweiz wohl zu einem Rückgang zum Beispiel an Patentanmeldungen – einer Kennziffer für Innovationen – führen. Anzumerken ist, dass unvorhersehbare technologische Innovationen diesem Trend eventuell entgegenwirken können.

Das Problem einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung ist selbstverstärkend: Wohlstandsverluste, die durch eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung entstehen, könnten mit steigender Produktivität kompensiert werden – jedoch wird Produktivität, die hauptsächlich durch Innovation vorangetrieben wird, gleichzeitig negativ vom Rückgang der Erwerbsbevölkerung beeinflusst. Es droht die Entstehung eines Teufelskreises, in dem der Wohlstand erodiert.

Wohlstand sichern

Die gute Nachricht ist: Wir sind demografischen Entwicklungen nicht machtlos ausgeliefert. Wir können zwar das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung nicht verhindern, aber wir können uns mit den Folgen auseinandersetzen sowie Ansätze zur Anpassung entwickeln und erproben. Damit die Schweiz auch in herausfordernden Zeiten ihren Wohlstand sichern kann, sind folgende Bereiche mit Massnahmen konkret anzugehen:

  • Bahnbrechende Technologien einsetzen und fördern: Der technologische Fortschritt ist seit der industriellen Revolution der wichtigste Treiber von Produktivität. Offenheit gegenüber neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI) oder Quantentechnologie ist für eine alternde Gesellschaft unabdingbar, um ihre Innovationsfähigkeit sicherzustellen. Dabei sollten diese Technologien kreativ eingesetzt werden. Beispielsweise kann ein Mangel an menschlicher Innovation, ausgelöst durch die demografische Entwicklung, weniger schädlich sein, wenn er durch neue, von KI entwickelte Ideen ausgeglichen wird. Ob Maschinen jedoch jemals lernen werden, wie man bahnbrechende neue Ideen entwickelt, bleibt eine bisher ungelöste Frage.
  • Der Bildung noch höhere Priorität einräumen: Bildung ist neben Innovation eine der wichtigsten Variablen, welche die Produktivität einer Volkswirtschaft erhöhen können. Indem sie den Bildungsstandard stetig verbessern, können alternde Gesellschaften das schwindende Reservoir an jungen Menschen besser nutzen. Da das Arbeitskräftepotenzial schrumpft, wird die Maximierung der Leistungen aller vorhandenen Arbeitskräfte von entscheidender Bedeutung sein.
  • Den Dialog über Generationen und Gesellschaften hinweg aktivieren: Ein enormes Potenzial liegt in der dynamischen Interaktion zwischen Generationen durch den Transfer von Wissen oder sozialem und finanziellem Kapital. Der Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Generationen auf der Grundlage von Vertrauen und Respekt werden in Zeiten von schrumpfenden Erwerbsbevölkerungen zu tragenden Säulen von Wachstum und Wohlstandsgenerierung. Auch müssen Synergien zwischen fluider und kristallisierter Intelligenz besser ausgeschöpft werden. Zudem sollte der Verlust an fluider Intelligenz durch Kooperationen mit Gesellschaften, welche diese (noch) in grossem Umfang haben, kompensiert werden.
  • Ein längeres und flexibleres Arbeitsleben ermöglichen und fördern: Ein fixes Rentenalter von 65 Jahren ist ein Konstrukt der Vergangenheit. Wir müssen die Beschäftigungsoptionen für ältere gesunde Erwachsene erweitern, die über das 65. Lebensjahr hinaus beruflich einen Beitrag leisten wollen. Eine Hauptvoraussetzung für längeres und produktiveres Arbeiten ist dabei die Sicherstellung eines guten Gesundheitszustandes der Bevölkerung. Ausserdem sollte die Schweiz die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Zuwanderern erhöhen.
  • Die unangenehme Debatte über Migration und Integration führen: Durch die demografische Entwicklung der Arbeitsbevölkerung und den daraus entstehenden Mangel an Fachkräften erhält die Diskussion über die Zuwanderung einen anderen Rahmen. Die Schweiz muss eine eigenständige Migrationsdebatte führen und wirtschaftliche und sozialpolitische Argumente abwägen. Die wirtschaftlichen Argumente für mehr Zuwanderung sind überzeugend, unabhängig davon, ob die lokale Erwerbsbevölkerung wächst oder schrumpft. Es gilt die kontrollierte Migration und damit hauptsächlich die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union zu regeln, um dem Fachkräftemangel wirkungsvoll entgegenzuwirken. Auch Fachkräfte aus aussereuropäischen Staaten muss die Schweiz aufnehmen können. Eine hohe irreguläre und unkontrollierte Migration hingegen kann den Sozialstaat belasten und wird den Fachkräftemangel wohl nicht beheben.
  • Dialog und neue Kooperationen mit anderen hochinnovativen Gesellschaften, Staaten und Institutionen: Hier eröffnet sich ein neues Betätigungsfeld für Diplomaten und Wirtschaftsvertreter.

Die Herausforderungen sind gross. Das Schrumpfen der Erwerbsbevölkerung können wir nicht verhindern. Es gibt aber zielführende Massnahmen, welche die negativen Folgen begrenzen oder gar kompensieren können. Die Zeit drängt: Der Bestand der Schweizer Arbeitsbevölkerung hat 2024 seinen Höhepunkt erreicht. Von nun an geht es nur noch abwärts.

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