Die Schule braucht verbindliche Regeln
Ein Interview mit Hans Ulrich Stöckling Robert Nef und Stefan Stirnemann konfrontieren den Vorsitzenden
der Schweizer Delegation mit den Schwächen der Reform und stellen
die Frage nach dem weiteren Vorgehen in der Schweiz.
Herr Stöckling, am 1. Juli 1996 unterzeichnete die Schweiz in Wien die «Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung». Was bedeutet das für die Schweiz?
Das ursprüngliche Motiv der Rechtschreibreform war die Verhinderung des Auseinanderdriftens der Rechtschreibung im deutschsprachigen Raum durch einen Alleingang der DDR. Nach 1989 war dieses Ziel hinfällig. Aus meiner Sicht hätte man die Übung damals abbrechen können. Das Dauertraktandum der Reformer, die Kleinschreibung, wurde ohnehin nicht angepackt – übrigens mit guten Gründen. Was pendent blieb, war das sogenannte Dudenprivileg, das in der Schweiz nach wie vor gilt. Unter dem Druck der Konkurrenten im Verlagsbereich wurde dieses Privileg zu einem Politikum. Durch die Unterzeichnung der Absichtserklärung von Wien hat sich faktisch für die Schweiz wenig geändert. Einen verbindlichen Regulierungsbedarf gibt es nur im Schulbereich und bei amtlichen Publikationen, und da war bisher in Zweifelsfällen der Duden maßgebend. Wenn der Duden sich an die Absichtserklärung hält und man kein neues Referenzwerk bestimmt, wird eigentlich die Neuregelung in der Schweiz automatisch nachvollzogen, und die Angelegenheit ist für uns erledigt. Daß man 1996 das neue Regelwerk für verbindlich erklärte, war möglicherweise ein Fehler, aber das Rad läßt sich nicht zurückdrehen. Es muß nicht à tout prix alles einheitlich sein, aber eine Regelung, an die man sich bei Prüfungen und allenfalls in Rekursermittlungen halten kann, ist notwendig.
Reiner Kunze, einer der großen Lyriker unserer Zeit, ist der Auffassung, daß durch die Reform das Sprachgefühl ausgehebelt werde. Mit ihm wehren sich Autoren wie Günter Grass, Thomas Hürlimann oder Martin Walser. Welchen Stellenwert hat für Sie diese grundsätzliche Ablehnung?
Wenn Schriftsteller mit der Sprache schöpferisch umgehen und sich nicht an Regeln halten und wenn Verlage eigene Wege gehen, habe ich überhaupt nichts dagegen. Aber was sich Günter Grass erlauben kann, kann nicht für jeden Schüler gelten. Die Schule muß Gewißheit haben und vermitteln, was in ihrem Bereich punkto Rechtschreibung verbindlich ist. Wenn wir das offen lassen, leisten wir keinen Beitrag zur schöpferischen Sprachentwicklung, sondern fördern die Verluderung.
Auch die Sprachwissenschaft übt heftige Kritik und argumentiert, die sogenannte Rechtschreibreform entspreche nicht dem Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung. Von Theodor Ickler liegt ein sprachwissenschaftlicher Kommentar vor, der alle Mängel des neuen Regelwerks auflistet. Wie stellen Sie sich zu diesem Zwiespalt zwischen Politik und sachlicher Richtigkeit?
Die Regeln der Rechtschreibung sollen nicht im politischen Prozeß evaluiert werden, sondern von Fachleuten. Die Zwischenstaatliche Kommission war ein solches Gremium. Ob sie mit der Neuregelung materiell immer richtig lag, kann ich als Nicht-Fachmann nicht beurteilen. Fachleute sind sich selten restlos einig. Der Staat hat meines Erachtens nur einmal mit der Absichtserklärung über die Neuregelung von 1996 eingegriffen. Alle späteren Änderungen sind nicht durch eine politisch mandatierte Autorität veranlaßt worden. Über den Sprachgebrauch bestimmen letztlich weder die Schriftsteller noch die Wissenschafter, sondern der Alltag. Der «Spiegel» hat beispielsweise mit seinem Stil den Sprachgebrauch wesentlich mehr beeinflußt als manches sprachwissenschaftliche Lehrbuch. Die wissenschaftlich «richtige» bzw. «falsche» Schreibweise gibt es nicht, da Orthographie auf Konventionen beruht. Die Politik kann lediglich ein Referenzwerk (oder mehrere Referenzwerke) für maßgebend erklären, und sie muß dies – wohl oder übel – auch tun.
Der Duden von 1996 und der Duden 2000 weichen in Hunderten von Fällen voneinander ab. Kurz nach Ablauf der Übergangszeit (2005) wird es eine weitere Generation von Wörterbüchern geben. Läßt es sich rechtfertigen, daß im Verlauf von nur 10 Jahren drei Duden erschienen sind und für Ämter und Schulen gekauft werden mußten? Wie geht es weiter?
Aus kommerziellen Gründen hat der Duden schon vor 1996 von Auflage zu Auflage viele Änderungen vorgenommen. Das Spannungsfeld zwischen Norm und Wirklichkeit, zwischen Neuregelung, Kommissionsmeinung, Wissenschaft, Schriftstellern, Duden und Konkurrenzverlagen wird sich nie vollständig abbauen lassen, und darum gibt es auch keine verläßliche Prognose. Ich meine, daß die Diskussion um das Regelwerk bald wieder abgelöst wird von der Diskussion um das verbindliche Referenzwerk und um den jeweils neuesten Stand beim Duden. Grundsätzlich sollte immer die neueste Auflage verbindlich sein. Wir können nicht verhindern, daß der Duden aus kommerziellen Gründen jedes zweite Jahr eine neue Auflage druckt, aber wir könnten zum Beispiel festlegen, daß alles, was nach den letzten drei Auflagen korrekt ist, in der Schule nicht als Fehler gilt. Aber auch hier gilt es abzuwägen: Wenn wir einen zu großen Spielraum eröffnen, wird sich die Lehrerschaft immer weniger sorgfältig um die Rechtschreibung kümmern und damit der Sprachverluderung Vorschub leisten.
Die deutschen Bundesländer haben ein Verfahren vereinbart, das eine Entscheidung nach Vorlage des Berichts der «Zwischenstaatlichen Kommission» Ende dieses Jahres vorsieht. Kann die Schweiz bei dieser Entscheidung mitreden?
Wenn von deutscher Seite eine neue Debatte gewünscht wird, dann werden neue Verhandlungen notwendig. Wir werden uns daran beteiligen und die Situation neu beurteilen. Wenn sich das Ganze in Deutschland nicht durchsetzt, so liegt auch für die Schweiz eine neue Situation vor. Es geht bei der Rechtschreibung nicht um einen politischen Entscheid über «richtig» oder «falsch», sondern um den Entscheid über das für die Übereinstimmung mit der Sprachkonvention maßgebende Referenzwerk. Ich gehe davon aus, daß dies in der Schweiz wie bisher der Duden sein wird. Das ist aber keine Grundsatzfrage, die für immer beantwortet werden muß. Sicher macht es keinen Sinn, in der Schweiz ein vergleichbares eigenes Referenzwerk zu schaffen. Aber wenn es einmal zwei gleichwertige und gleich verbreitete Wörterbücher geben sollte, könnte ich mir vorstellen, daß man auf beide verweist und beide Varianten gelten läßt. Eine Lösung, bei der man eine unbeschränkte Zahl von Varianten zulassen würde, wäre allerdings für die Schule untauglich. Wenn nichts verbindlich ist, wird aus Angst vor einer Niederlage bei Rekursen überhaupt nicht mehr korrigiert.
Hans Ulrich Stöckling, geboren 1941, ist Mitglied der Regierung des Kantons St. Gallen und Präsident der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK).