Die schrittweise Entmündigung der Eltern
Unsere Landesregierung plant die vorsorgliche Unterstellung aller Eltern unter Staatsaufsicht. Sie soll bis ins Detail reglementieren, wem Kinder zur Betreuung anvertraut werden dürfen.
Trotz bürgerlichen Mehrheiten hat sich die Schweiz im
20. Jahrhundert schrittweise von einem freiheitlichen Rechtsstaat zu einem bevormundenden Daseinsvorsorgestaat entwickelt. Die gesetzgeberische Bemühung um eine Gruppe nachweisbar Hilfebedürftiger wurde in perfektionistischer Manier immer weiter ausgedehnt, bis Gefährdung und Bedürftigkeit zum Regelfall werden. Dann kann die gesetzgeberische Käseglocke der Regulierung über alle gestülpt werden.
Die Gewöhnung an diesen Wandel geht sehr weit, aber sie ist glücklicherweise doch noch nicht unbegrenzt. Es gibt immer wieder Aufwallungen gegen die Perfektionierung der staatlichen Bevormundung. Ein Gesetzgebungsprojekt der jüngsten Zeit hat erfreulicherweise ein liberales Rauschen auch in jenem Blätterwald ausgelöst, der üblicherweise
alle gouvernementalen Mitte-links-Projekte als notwendige Fortschritte zu mehr Ordnung und Gerechtigkeit begrüsst. Es geht um folgendes. Der vom Bundesrat in die Vernehmlassung geschickte Entwurf zu einer Verordnung über die Kinderbetreuung zwingt die Kantone zur Schaffung einer zentralen Fachbehörde, die für die Bewilligung und die Beaufsichtigung von Tages- und Pflegeeltern sowie von Einrichtungen und Plazierungsorganisationen zuständig ist. Originalton des behördlichen Begleitschreibens: «Die Aufsicht über das individuelle Betreuungsverhältnis erfolgt hingegen durch die Kindesschutzbehörde oder die Eltern, die den Entscheid über die Plazierung getroffen und den Betreuungsplatz ausgewählt haben. Diese Zweiteilung ermöglicht es, Fachwissen und Erfahrung bei einer Behörde zu konzentrieren. Dadurch trägt sie zur weiteren Professionalisierung bei und erleichtert die Zusammenarbeit der Kantone.»
Kinder werden aus dieser Sicht nicht mehr in eine Familie hineingeboren, sondern in ein «individuelles Betreuungsverhältnis», dessen zunehmende Professionalisierung zur Staatsaufgabe wird. Es ist unbestritten, dass es seit je überforderte Eltern und vernachlässigte Kinder gegeben hat. Aber rechtfertigt diese Tatsache die vorsorgliche Unterstellung aller Eltern unter eine Staatsaufsicht, die sogar die sogenannte Fremdbetreuung im engsten Familien- und Bekanntenkreis einer Bewilligungspflicht unterstellt? Mit Recht wurde die Frage aufgeworfen, ob eine Landesregierung, die solche Gesetzesentwürfe in die Vernehmlassung schickt, mit der sozialen Realität funktionierender Familien überhaupt noch vertraut ist.
Allerdings steht fest, dass in einzelnen Kantonen bereits ähnliche Regulierungen existieren, ohne dass dies je zu geharnischter Kritik Anlass gegeben hätte. Die zuständigen Fachstellen beteuern treuherzig, der Vollzug bereite keine Schwierigkeiten, weil man die Vorschriften «vernünftig» anwende und auf flächendeckende Kontrollen verzichte. So ist durch eine zwar mögliche, aber nicht konsequent durchgesetzte Staatsaufsicht über alle Eltern eine Art von «Freiheit auf Abruf» entstanden, die den bevormundenden Daseinsvorsorgestaat sogar als wohlwollend und tolerant erscheinen lässt. Von der ursprünglichen Freiheitsidee als einem verfassungsmässigen Anspruch gegen alle Staatseingriffe ist nach diesem institutionellen, d.h. vom Staat konzedierten Freiheitsverständnis nicht viel übrig geblieben.
Das alles wäre an sich nicht so verderblich, wenn es nicht schrittweise die individuelle Freiheit zerstören würde, die mündigen Menschen nicht nur das Risiko der Freiheit, sondern auch die Verantwortung für die Folgen ihres Handelns zumutet. Es trifft zu, dass es im Falle freier Eltern zunächst die verwahrlosten Kinder sind, welche die Folgen verantwortungsloser Elternschaft zu tragen haben. Wenn nun der Staat mit seiner Aufsicht in diese Lücke springt und dafür gleich den Preis einer potentiellen Entmündigung aller Eltern einfordert, so hat dies langfristige Folgen. Warum? Ganz einfach deshalb, weil nur die gegenseitige Zumutung von Freiheit und Verantwortung das Versagen im Einzelfall für alle sichtbar und spürbar werden lässt und dadurch individuelle Direkthilfe sowie persönliche und gemeinsame Lernprozesse ermöglicht.
Was aber geschieht im umgekehrten Fall, wenn der Staat die erzieherische Verantwortung schrittweise übernimmt? Viele Eltern dürften sich zuerst einmal sogar entlastet fühlen. Doch je mehr man die Kinderbetreuung reglementiert und staatlich beaufsichtigt, desto schwächer wird die allgemeine Bereitschaft zur selbstverantworteten Elternschaft. Gleichzeitig werden die versagenden Eltern entlastet und anonymisiert. Der Sozialfall wird zum Normalfall. Das ist der Fluch der bevormundenden staatlichen Daseinsvorsorge.
Robert Nef, geboren 1942, ist Jurist und war bis 2008 Mitherausgeber der «Schweizer Monatshefte».