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Die schärfste Waffe des Staates stumpft ab
Foto Patrick Guidon zvg.

Die schärfste Waffe des Staates stumpft ab

Das Strafrecht wird zunehmend als Allheilmittel zur Lösung gesellschaftlicher Probleme eingesetzt. Doch die Aufgabe, für gesellschaftliche Werte einzustehen, können die Strafbehörden den Bürgern nicht abnehmen.

 

«Die da sündigen, die strafe vor allen,
auf dass sich auch die andern fürchten.» – 1. Tim. 5, 20

Bereits im 1. Brief des Paulus an Timotheus wird die These formuliert, dass die Bestrafung einzelner bei anderen Menschen Furcht auslöst. Implizit darin enthalten ist der Gedanke, dass Menschen durch die drohende Bestrafung von der Begehung von Delikten abgehalten werden. Dieser Abschreckungsgedanke – in der Strafrechtsdogmatik als negative Generalprävention bezeichnet – ist tief in unserer gesellschaftlichen DNA verwurzelt. Er feiert auch im 21. Jahrhundert in der Schweiz fröhliche Urständ. Denn er beflügelt die Fantasien all jener, die ein echtes oder vermeintliches gesellschaftliches Problem erkannt zu haben glauben und Remedur schaffen wollen. Um das Verhalten der Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken, genügt nach dieser Auffassung die Schaffung einer Strafnorm und gegebenenfalls das Statuieren einiger Exempel. Hierdurch, so die trügerische Hoffnung, lasse sich das gewünschte Ergebnis mühelos erzielen und das Problem beseitigen. Zugleich und stillschweigend wird damit dem Bild eines Menschen Hobbesʼscher Prägung gefrönt, der eines Korrektivs in Form eines umfassend strafenden Leviathans bedarf.

Dem Bundesrat ist die zunehmende Tendenz in Öffentlichkeit und Politik, das Strafrecht als Allheilmittel zur Lösung beliebiger gesellschaftlicher Probleme einzusetzen, nicht verborgen geblieben. Mehrfach hat er im Zusammenhang mit Gesetzesvorlagen mahnend darauf hingewiesen, Strafrecht dürfe nur als Ultima Ratio eingesetzt werden und solle nicht jedes moralisch vorwerfbare Verhalten lückenlos erfassen. Allein, die berechtigten Einwände der Regierung verhallten im medialen und politischen Getöse in aller Regel ungehört. Es verwundert deshalb nicht, dass in den vergangenen Jahrzehnten unzählige neue, strafrechtlich bewehrte Verbote geschaffen wurden. Im Zentrum steht dabei längst nicht mehr nur das Kernstrafrecht, wie es im Schweizerischen Strafgesetzbuch enthalten ist. Vielmehr hat sich das Strafrecht auf anderem Weg bis in die hintersten Winkel des täglichen Lebens ausgedehnt. Jedem (Verwaltungs-)Gesetz werden heute unreflektiert Strafbestimmungen beigefügt, deren Tragweite sich in der Regel erst aus Detailbestimmungen in Verordnungen ergibt. In Kombination mit der ausufernden Rechtsetzungsaktivität auf Verordnungsstufe führt dies dazu, dass nahezu jedes rechtswidrige Verhalten potentiell auch strafrechtliche Sanktionen nach sich zieht.

Ein Volk von Straftätern

Die Folgen dieses unkritischen gesetzgeberischen Aktivismus sind mannigfaltig. Zunächst führen die unzähligen Strafbestimmungen zu Myriaden an Strafverfahren. Dieser wird der Staat nur noch mittels bedenklicher Erledigungsmethoden Herr, namentlich durch sogenannte Strafbefehlsverfahren. Ordentliche Strafverfahren mit einer Beurteilung durch ein Gericht sind denn auch längst nicht mehr der Normal-, sondern der statistische Ausnahmefall. Sodann hat die uferlose Ausweitung des Strafrechts eine fragwürdige Pönalisierung weiter Bevölkerungsteile zur Folge. Per Februar 2019 enthielt das Schweizerische Strafregister 1 146 000 Urteile, die 789 000 Personen betrafen. Klammert man die strafunmündigen und deshalb nicht als Täter in Frage kommenden Kinder unter 10 Jahren aus und berücksichtigt man überdies alle nicht im Strafregister verzeich­neten Urteile wegen Übertretungen, so zeigt sich, dass ein sub­stanzieller Anteil der ständigen Wohnbevölkerung aus Straftätern besteht. Zwar ist Kriminalität gemäss dem französischen Soziologen Émile Durkheim (1858–1917) ein normales Phänomen und eine notwendige Erscheinung jeder Gesellschaft. Wer das Strafrecht indes als letzte und schärfste Waffe des Staates im Verhältnis zu seinen Bürgern und damit die Straffälligkeit als Ausnahme begreift, den muss die Kriminalisierung breiter Bevölkerungskreise nachdenklich stimmen.

Angesichts der unüberblickbaren Anzahl von Strafnormen stellt sich sodann unweigerlich die Frage, ob die entsprechenden Bestimmungen überhaupt noch eine irgendwie geartete Steuerungswirkung entfalten können. Das gilt insbesondere für das Dickicht der Übertretungen. Wer hätte etwa gewusst, dass ein Nummernschild zu den Kriterien der Betriebssicherheit eines Fahrzeugs gehört und man sich deshalb bei Verlust des Schildes des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs strafbar macht? Wem ist bekannt, dass von zwei Hunden in einem grossen Zwinger jedes der beiden Tiere Anspruch auf eine eigene erhöhte Liegefläche und eine Rückzugsmöglichkeit hat und die Missachtung dieses Rechts eine strafrechtliche Verurteilung wegen Übertretung des Tierschutzgesetzes nach sich zieht? Nur schon diese banalen Beispiele aus der Praxis der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen zeigen, wie breit das Strafrecht heutzutage eingesetzt wird. Die Kantone stehen dem Bund im übrigen in keiner Weise nach. So wird seit dem 1. Januar 2020 im Kanton St. Gallen strafrechtlich verfolgt, wer gegen störendes Gebell oder Geheul des eigenen Hundes vorsätzlich keine geeigneten Massnahmen ergreift. Der praktischen Anwendung dieser Strafbestimmung, namentlich der Antwort auf die Frage, welche Massnahme zur Vermeidung von Gebell oder Geheul denn geeignet sei, darf man gespannt entgegensehen. Das Einsperren eines heulenden Hundes in einen schalldichten Raum jedenfalls dürfte mutmasslich seinerseits strafrechtliche Sanktionen wegen Verstosses gegen tierschutzrechtliche Bestimmungen nach sich ziehen.

Verwesentlichung tut not

Was ist zu tun? Es soll an dieser Stelle nicht den Apologeten eines unkontrollierten Rückzugs des Staates aus allen Lebensbereichen das Wort geredet werden. Das gesellschaftliche Zusammenleben in einer zunehmend komplexen Welt bedarf der staatlichen Ordnung. Und auch das Strafrecht hat seine Daseins­berechtigung. Eine Signalwirkung, wie sie sich der Bundesrat etwa von der am 9. Februar zur Abstimmung kommenden Ausweitung des Antirassismustatbestandes auf Fälle von Diskriminierung wegen sexueller Orientierung verspricht, kann es aber – wenn überhaupt – nur bei zielgerichtetem Einsatz entfalten. Die aktuelle, breitflächige Verwendung in sämtlichen Lebensbereichen droht das Strafrecht zu verwässern und als schärfste Waffe stumpf werden zu lassen. Not täte vor diesem Hintergrund eine Entschlackung und Verwesentlichung. Dies würde freilich einen echten gesellschaftlichen Diskurs über den Zweck und die Grenzen des Strafrechts bedingen. Davon ist man derzeit weit entfernt. Zwar stellt die Politik konsterniert fest, dass das Strafrecht nicht die gewünschte Wirkung zur Lösung gesellschaftlicher Probleme entfaltet. Anstatt aber die sich aufdrängende Frage nach der Eignung des Mittels zu beantworten, wird einfach die Dosis erhöht. Davon zeugt beispielsweise die derzeit hängige Revision zur breitflächigen Erhöhung der gesetzlichen Mindeststrafen.

Ehrlicher wäre das Eingeständnis, dass die strafrechtliche Erfassung eines bestimmten Verhaltens zwar Ausdruck eines gesellschaftlichen Wertekonsenses bildet; die Ursachen und das Auftreten deliktischen Verhaltens vermag sie aber nur beschränkt zu beeinflussen. Vor diesem Hintergrund und einem freiheitlich-liberalen Staatsverständnis folgend, hat sich der Gesetzgeber beim Einsatz des Strafrechts deshalb zwei Fragen zu stellen. Erstens: Liegt überhaupt ein echter Handlungsbedarf vor? Und falls ja: Ist der Einsatz des Strafrechts wirklich verhältnismässig, oder reichen das Zivil- und/oder Verwaltungsrecht zur Regelung aus?1 Bei seinem Entscheid hat der Gesetzgeber auch zu berücksichtigen, dass die strafrechtliche Sanktionierung allenfalls unerwünschte Nebeneffekte zeitigen kann. Die Delegation gesellschaftlicher Probleme an die Strafbehörden kann nämlich dazu führen, dass der soziale und ethische Druck auf den einzelnen abnimmt, inakzeptablem Verhalten wie Hass, Gewalt oder Diskriminierung selbst entgegenzutreten. Derartiges Verhalten nicht stillschweigend hinzunehmen und couragiert sowie im Diskurs Widerstand zu leisten, ist aber gesellschaftliche Pflicht sämtlicher aufgeklärter Bürger. Davon kann und darf das Strafrecht nicht entbinden.

  1. Siehe dazu auch Botschaft des Bundesrates vom 25. April 2018 zur Harmonisierung der Strafrahmen und zur Anpassung des Nebenstrafrechts an das geänderte Sanktionenrecht, BBl 2018 2836.

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