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Die Sache mit der Gemeinnützigkeit

Wer philanthropisch tätig wird, stellt sich und sein Handeln in den Dienst anderer, seine Eigeninteressen hintan. Damit dieses Engagement aber überhaupt möglich wird, müssen die Rahmenbedingungen stimmen – und darüber entscheiden nicht zuletzt die Steuerbehörden.

Die Sache mit der Gemeinnützigkeit
Illustration von Christina Baeriswyl.

Eine Milliarde Euro wurde innerhalb von zwei Tagen für den Wiederaufbau der Pariser Notre-Dame-Kathedrale gespendet, nachdem ihr gesamter Dachstock Mitte April einem Brand zum Opfer gefallen war. Nur wenige Stunden nachdem die Flammen gelöscht waren, hatten einzelne französische Industriellenfamilien fast im Alleingang die Summe gestiftet. Die mediale Freude über das Engagement zugunsten des Wiederaufbaus wich allerdings beinahe ebenso schnell der Kritik: In Kommentaren und Kolumnen europäischer Leitmedien wurde die Frage gestellt, weshalb es so einfach sei, für einen Bau aus Stein und Holz dermassen viel Geld zu sammeln, während sich dies für humanitäre Projekte meist als deutlich schwieriger erweise. Die Grossspenden der «Luxuskönige» Arnault und Pinault im Fall von Notre-Dame haben Zweifel an einer rein altruistischen Motivation aufkommen lassen – nicht nur die Werbewirkung ist enorm, sondern auch der steuerliche Nebeneffekt: Spenden können in Frankreich zu 60 Prozent von den geschuldeten Steuern abgezogen werden, also nicht nur vom steuerbaren Einkommen wie etwa in der Schweiz. Spenden und Gemeinnützigkeit hängen jedenfalls eng zusammen: Von Spenden spricht man üblicherweise, wenn freiwillige Zuwendungen an gemeinnützige Institutionen getätigt werden. Damit wären wir beim eigentlichen Thema. Was heisst «gemeinnützig»? Und: Wer entscheidet darüber?

Wer entscheidet, was gemeinnützig ist?

Mit der Frage, was gemeinnützig sei, sind in der Schweiz – und anderswo – in erster Linie die Steuerbehörden befasst, und im Anschluss daran zuweilen auch die Gerichte. Denn gemeinnützige Organisationen haben unter gewissen Voraussetzungen Anspruch auf eine Befreiung von den direkten Steuern von Bund und Kantonen. Der Begriff der Gemeinnützigkeit ist damit auch ein Begriff des Steuerrechts, und zwar ein bundesrechtlich vorgegebener. Allerdings: In den Bundessteuergesetzen sucht man vergeblich nach einer Definition. Fündig wird der Suchende erst im einschlägigen Kreisschreiben von 1994 – dies ist eine sozusagen zwar interne, aber dennoch öffentlich einsehbare Praxisanweisung – der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Demnach setzt Gemeinnützigkeit einerseits die «Verfolgung von Allgemeininteressen» und andererseits das «Fehlen von Eigeninteressen», die Uneigennützigkeit, voraus. Als im Allgemeininteresse liegend werden exemplarisch Tätigkeiten im karitativen, humanitären, gesundheitsfördernden, ökologischen, erzieherischen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich bezeichnet. Entscheidend seien die jeweils massgebende Volksauffassung und die ethischen Prinzipien, die der Rechtsordnung zugrunde lägen. Als uneigennützig wird eine Tätigkeit eingestuft, der Gemeinsinn zugrunde liegt. Das Kreisschreiben verlangt altruistisches Handeln, das Erbringen von «Opfern» unter Hintansetzung von Eigeninteressen. Da schwingt offensichtlich einiges an Pathos mit. Und es wird rasch klar, dass der Begriff der Gemeinnützigkeit in hohem Masse wertungsbezogen ist, örtlich unterschiedlich interpretiert wird und zudem einem zeitlichen Wandel unterliegt.

«Der Gemeinnützigkeitsbegriff ist föderalistisch ausserordentlich zersplittert.»

Veranschaulichen mag dies die Steuerbefreiungspraxis bei Sportvereinen: Während lokal oder national tätigen Sportvereinen die Steuerbefreiung wegen der Verfolgung von Selbsthilfezwecken regelmässig versagt bleibt, profitieren internationale Sportverbände wie die UEFA gemäss einem Rundschreiben der Eidgenössischen Steuerverwaltung von der Steuerbefreiung. Diese Praxis wurde vom Bundesgericht in zwei Urteilen aus den Jahren 2010 und 2017 grundsätzlich abgesegnet: Während der internationale Sport zur Völkerverständigung und Friedensförderung beitrage und Werte wie Fairplay, Kampf gegen Rassismus etc. vermittle, fehle diese Dimension bei einem Schweizer Sportverband. Hinzu komme die ausserordentliche Bedeutung des Standorts Schweiz für die Verbandsführung des Weltsports… – honi soit qui mal y pense. Anders beurteilt wird die Gemeinnützigkeit mit Blick auf Sportvereine demgegenüber etwa in Deutschland: Das Hessische Finanzgericht hat 2010 dem national agierenden Bundesverband für «Drehstangen-Tischfussballsport» (= Töggele) die Steuerbefreiung gewährt, weil dieser Sportförderung betreibe.

Was ist nun gemeinnützig? Die Schweiz gibt 26 Antworten

Zuständig für die Beurteilung von Steuerbefreiungsgesuchen wegen Gemeinnützigkeit ist in der Schweiz derjenige Kanton, in dem die gesuchstellende juristische Person ihren Sitz hat. Die Ausdeutung des Gemeinnützigkeitsbegriffs wird damit zur kantonalen Angelegenheit. Das führt dazu, dass wir in der Schweiz – etwas überzeichnet – 26 verschiedene Definitionen von Gemeinnützigkeit haben, jedenfalls in steuerlicher Hinsicht. Der Gemeinnützigkeitsbegriff ist damit föderalistisch ausserordentlich zersplittert. Diese Begriffsunschärfe ist Fluch und Segen zugleich: Einerseits wird eine gebührende Beurteilung des Einzelfalls ermöglicht, andererseits schafft sie Rechtsunsicherheit und lässt Raum für individuelle (moralische) Anschauungen der konkret damit befassten Steuerbehörden.

In der Praxis zeigt sich denn auch ein äusserst heterogenes Bild. Auseinander gehen die Meinungen der kantonalen Steuerbehörden etwa hinsichtlich der Frage, ob Stiftungsräte ehrenamtlich tätig sein müssen oder nicht, um die Uneigennützigkeit der Stiftung bejahen zu können. Überwiegend wird dies verlangt. Umstritten ist ebenso, unter welchen Voraussetzungen Tätigkeiten im Ausland aus Schweizer Sicht als gemeinnützig eingestuft werden können. Nicht selten verlangen die kantonalen Behörden, dass sich das gemeinnützige Wirken (auch) auf dem Kantonsgebiet entfaltet. Ein kontrovers diskutiertes Thema ist weiter, inwieweit sich wirtschaftliche Aktivitäten von Stiftungen mit dem Gemeinnutz vertragen. Grundsätzlich sind die Steuerbehörden hier skeptisch. Im Ergebnis pflegt jeder Kanton (und mitunter sogar jeder Steuerkommissär) sein eigenes Begriffsverständnis. Das wiederum hat zur Folge, dass sich ein interkantonaler Steuerbefreiungstourismus bemerkbar macht: Verweigert ein Kanton der Stiftung die Steuerbefreiung, verlegt sie ihren Sitz eben in einen anderen Kanton (statt den beschwerlichen Gerichtsweg zu beschreiten). Gemeinnützigkeit lässt sich – überspitzt formuliert – also aussuchen.

An einem gesamtschweizerisch homogenen Verständnis von Gemeinnützigkeit fehlt es somit. Die Rechtswirklichkeit zeigt eindrücklich, dass der Gemeinnützigkeitsbegriff einer präzisen allgemeingültigen Definition nicht zugänglich ist. Was im konkreten Fall gemeinnützig ist, liegt in einem nicht zu unterschätzenden Ausmass im Auge des Betrachters – oder eben im Ermessen der rechtsanwendenden Behörde. Eine Lücke schliessen mögen hier womöglich Einschätzungen von nicht staatlichen Organisationen wie der renommierten Zewo-Stiftung.

Der Stiftungssektor: Gegenwart mit Zukunft

Ein Blick auf den Schweizer Stiftungssektor zeigt prima vista ein florierendes Bild: Mit derzeit rund 13 000 gemeinnützigen Stiftungen, die ein Vermögen von gegen 100 Mrd. Franken verwalten, präsentiert sich die Schweiz im internationalen Vergleich als ausgesprochenes Stiftungsland. Mit rund 15,6 Stiftungen pro 10 000 Einwohner belegt die Schweiz einen Spitzenplatz – in Deutschland liegt der Wert mit derzeit nur rund 2,7 Stiftungen vergleichsweise tief. Dennoch hat sich die positive Entwicklung in der Schweiz im letzten Jahr merklich abgeschwächt – seit 20 Jahren wurden nicht mehr so wenige Stiftungen neu errichtet wie im Jahr 2018. Gleichzeitig sind noch nie so viele Stiftungen liquidiert worden. Wie lässt sich dieser Rückgang erklären? Der Ursachen dürften verschiedene sein.

Schwierigkeiten bereiten sicherlich die jüngsten Entwicklungen am Kapitalmarkt: Herkömmliche Vermögensanlagen versprechen – wenn überhaupt – nur noch geringe Erträge (Stichwort Negativzinsen). Das Generieren von Mitteln ist schwieriger geworden. Und damit auch die Erfüllung der gemeinnützigen Zwecke. Die Schweiz stellt hier keine Ausnahme dar, aufgrund der vergleichsweise hohen Personal- und Mietkosten zum Unterhalt einer aktiven Stiftung ist sie aber von den Schattenseiten der Zinspolitik besonders betroffen.

«Die wachsende Bürokratie führt dazu, dass sich Stiftungen immer weniger auf ihr eigentliches ‹Kerngeschäft›, die gemeinnützige Tätigkeit, konzentrieren können.»

Eine zunehmende Herausforderung stellen weiter das gewachsene Interesse des Staates am Stiftungssektor und der verstärkte Wunsch nach Kontrolle dar: Die Regulierungsbestrebungen nehmen stetig zu. So sind Stiftungen nicht nur ins Visier der Bestrebungen zur Geldwäscherei- und Terrorismusbekämpfung geraten, sondern sollen neu auch in den internationalen automatischen Informationsaustausch (AIA) in Steuersachen eingebunden werden. Obschon gemeinnützige Stiftungen in der Schweiz staatlich beaufsichtigt sind und zudem regelmässig von den Steuerbehörden kontrolliert werden – mithin bereits einer doppelten staatlichen Kontrolle unterstehen –, wird im Stiftungssektor offenbar ein Gefahrenpotenzial geortet. Vorangetrieben werden diese Entwicklungen vor allem durch die OECD, die global agiert und den Besonderheiten des kontrollierten Schweizer Stiftungsrechts, das Missbräuche weitgehend unterbindet, nur unzureichend Rechnung trägt. Die wachsende Bürokratie führt schliesslich dazu, dass sich Stiftungen immer weniger auf ihr eigentliches «Kerngeschäft», die gemeinnützige Tätigkeit, konzentrieren können oder, wo doch, externe Unterstützung hinzuzuziehen genötigt sind. Dem Gemeinnützigkeitssektor werden dadurch Kapazitäten und Mittel entzogen, ohne dass dies durch einen wirklichen Gegenwert aufgewogen würde. Allgemein verlangt die gewachsene Regulierungsdichte von den Stiftungsräten mehr ab als früher, die Anforderungen sind gestiegen – zugleich nehmen die Haftungsrisiken zu, qualifiziertes und diesen neuen Bedingungen zugeneigtes Personal wird knapp, zumal das Engagement idealerweise ehrenamtlich erfolgen soll.

Welche Veränderungen stehen bevor? Wo «hakt» es?

Im NPO-Sektor hat in den letzten Jahren zunehmend unternehmerisches Gedankengut Fuss gefasst. Traditionellerweise richten Stiftungen Zahlungen à fonds perdu an die Destinatäre aus, d.h. ohne die Vereinbarung einer Gegenleistung. Die Mittel sind damit für die Stiftung und jede weitere Zweckverwirklichung endgültig verloren. Inzwischen ist jedoch das Bewusstsein gereift, dass sich nicht nur mit der Vergabe von Mitteln, sondern auch mit deren Bewirtschaftung Wirkungen erzielen lassen. Das «Zauberwort» heisst Venture Philanthropy. Ziel ist es, zweckbezogen zu investieren, d.h. das Vermögen so zu bewirtschaften, dass es bereits zur Verwirklichung des Stiftungszwecks beiträgt. Im Idealfall lässt sich über einen Mittelrückfluss die Zweckverwirklichung perpetuieren.

Ein anderer Trend, der sich beobachten lässt, ist der sich geografisch zunehmend ausweitende Wirkungsradius von Stiftungen. Immer weniger Stiftungen sind rein lokal tätig – die Anzahl an Stiftungen mit nationaler oder sogar internationaler Ausrichtung nimmt beständig zu.

Den sich abzeichnenden Veränderungen begegnen die hiesigen (Steuer-)Behörden eher mit Skepsis, dabei wäre hier rasches Umdenken gefragt, möchte man die Standortattraktivität der Schweiz nicht zugunsten anderer, weitaus aufgeschlossenerer Staaten gefährden: So ist etwa Grossbritannien bekannt dafür, modernen Förderformen mit Wohlwollen zu begegnen. Als ausgesprochen reaktionär erweist sich auch die Praxis zahlreicher kantonaler Steuerbehörden, wenn sie für die Steuerbefreiung verlangen, dass sich das gemeinnützige Tun zum Teil oder sogar schwergewichtig auf ihrem Kantonsgebiet entfaltet. Ein derart introvertiertes Denken ist insbesondere in Bereichen wie der wissenschaftlichen Forschung, die kaum mehr innerhalb von geografischen Grenzen erfolgt, nicht mehr haltbar.

Antiquiert behandelt wird weiter die Frage der Honorierung von Stiftungsräten: Das von der Eidgenössischen Stiftungsaufsicht in ihrem Leitfaden noch immer empfohlene und von den Steuerbehörden für die Steuerbefreiung regelmässig vorausgesetzte ehrenamtliche Engagement der Stiftungsräte erscheint nicht mehr zeitgemäss, zumal das Anforderungsprofil und die Haftungsrisiken ständig steigen. Zu bedenken ist, wie es der Stiftungsrechtler Hans-Michael Riemer einmal formuliert hat, dass ein «teurer» Stiftungsrat, der professionell arbeitet, für die Stiftung durchaus «billig» sein mag, während ein «billiger» Stiftungsrat, der unprofessionell arbeitet, die Stiftung «teuer» zu stehen kommen kann.

Ausblick

Das schweizerische Stiftungsrecht zeichnet sich durch ausgeprägte Flexibilität und Liberalität aus, Rechtsfortbildung kann daher weitgehend innerhalb des geltenden rechtlichen Rahmens geschehen. Ein Umdenken der Behörden vermag also vieles zu bewegen – selbst wenn es zwecks Findung guter Lösungen erfahrungsgemäss etwas länger dauern mag. Es gibt aber auch Bereiche, in denen der Gesetzgeber unmittelbar gefordert ist. Etwa beim Ausbau der rechtlichen Kontrollmechanismen, und zwar dort, wo sie direkt wirken, nämlich in der Stiftung selbst. So wird dem Stiftungsrat derzeit die Erhebung von Aufsichtsbeschwerden erschwert. Ein amtierender Stiftungsrat ist nach geltender Praxis dann nicht beschwerdebefugt, wenn er mit der Beschwerde nicht zugleich seine eigenen Interessen verfolgt. Auch die Rechte der wesentlichen Stakeholder (Stifter und Destinatäre) sind im geltenden Recht nur unzulänglich reflektiert. De lege ferenda gilt es, den involvierten Personen ein griffiges rechtliches Instrumentarium an die Hand zu geben, um die Kontrolle «von innen» heraus sicherzustellen – und nicht nur seitens der staatlichen Behörden. Letztlich geht es darum, die Glaubwürdigkeit des Stiftungssektors nachhaltig zu festigen, ohne ihn durch Überregulierung unberechenbar zu machen.

Innerhalb von zwei Tagen lässt sich offenbar genug Geld zusammenbringen für den Wiederaufbau der Notre-Dame-Kathe­drale – die Weiterentwicklungen im Stiftungssektor benötigen sicherlich mehr Zeit. Wichtig scheint aber, dass sie jetzt in Angriff genommen werden – und zwar bevor es brennt. Hallo, Bern!

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