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Die Rückseite von Novellen

Peter Stamm: Seerücken. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2011.

Den Duktus von Peter Stamms Erzählungen meint man zu kennen: die scheinbar kunstlose Sprache voller Wiederholungen, die doch alles so sachgenau benennt, die enge Alltagswelt, an der seine Figuren klanglos scheitern, das Warten und die Leere in diesen Geschichten, die so ereignislos sind und den Leser gleichwohl unwiderstehlich mitziehen.

Auch in Stamms neustem Erzählband kommt einem manches vertraut vor. Mustergültig etwa die erste Geschichte «Sommergäste», in welcher der Ich-Erzähler sich in ein zerfallendes Kurhaus in den Bergen zurückzieht, um eine Arbeit über Gorki zu schreiben, und an dem kargen Ort als Betreuung nur eine einzelne, rätselhafte Frau vorfindet. Obwohl weder die Wasser- noch die Stromversorgung funktionieren, bleibt er hängen, gebannt von dieser Person, deren widersprüchliches Verhalten seine Phantasie erregt und die sich dennoch jeder Annäherung entzieht. Eines Morgens ist die Frau plötzlich verschwunden, und der Erzähler erfährt von einem unvermittelt auftauchenden Konkursbeamten, dass das Hotel seit dem letzten Herbst stillgelegt sei. Zwanzig Seiten lässt Stamm uns hier darauf warten, dass etwas geschieht – vergeblich. Und doch: Im Hintergrund der Geschichte, irgendwo muss da etwas sein, eine unerhörte Begebenheit, ob sie die Frau betrifft oder das Kurhaus oder wen auch immer. Aus einem solchen unsichtbaren, opaken Kern lässt Stamm seine Geschichten immer wieder wachsen und führt uns damit gleichsam auf die Rückseite einer Novelle.

«Seerücken» heisst der Band. Der Titel verweist untergründig auf das Rückseitige dieser Geschichten, doch zunächst bezeichnet er die Umwelt, in welcher der Autor die meisten spielen lässt, den hügeligen Landstrich am Untersee zwischen Kreuzlingen und dem bereits zürcherischen Stammheim. Freilich, wer den Zauber des Thurgauer Hinterlandes lesend erfahren will, greift besser zu den Büchern Beat Brechbühls. Peter Stamms Erzählungen hingegen berichten von einem beklemmend jetztzeitigen Seerücken, in den die Agglomeration Konstanz-Kreuzlingen hineinwuchert, von einer nur noch halb ländlichen Welt zwischen Gemüsegärtnereien, stillgelegten Industriebetrieben und schummrigen Vorstadt-Bars. Eine Rückseite auch hier, die Rückseite der Schweiz von heute.

Kein Wunder, bleiben Stamms Figuren in einem rückseitenhaften Dasein gefangen, der Ausbruch daraus ein rasch zersplitternder Traum. Der Portier des Gewerbeareals wird nie sein Bed & Breakfast in Kanada eröffnen, und der Versuch der Klavierlehrerin, den Chefdirigenten des Musikkollegiums mit Rachmaninow zu beeindrucken, mündet in ein Debakel. Die Präzision, mit der diese Geschichten erzählt werden, lässt vergessen, wie berechenbar sie im Grunde angelegt sind.

Allerdings lässt der Autor diesmal nicht alle Figuren in der Enge stranden. Wenn nicht der Ausbruch, so doch eine verändernde oder verstörende Erfahrung wird dem einen oder andern zuteil. Dem über Gorki schreibenden Gast im leeren Kurhaus etwa oder der Mutter, die sich erinnert, wie sie als Mädchen von zu Hause davongelaufen ist und allein im Wald gelebt hat, oder dem Pfarrer, der in seiner verstockten Bodenseegemeinde kein Gehör findet, bis er eines Sonntags vor leeren Bänken predigt und hernach draussen im Nebel den Möwen das Abendmahl spendet. Es sind dies die interessantesten, aber auch heikelsten Stücke des Bandes. Den Farben, die Stamm hier benutzt, fehlt jene letzte persönliche Tönung, die seine Texte da haben, wo er Grau in Grau malt. Auch sprachlich lässt die Trittfestigkeit nach. In der Waldgeschichte lesen wir Sätze wie «Sie berührt den Stamm einer Buche, ihre kühle silberne Rinde», und die Erzählung vom Pfarrer endet mit den Worten: «Nach vielen dunklen Wochen sah er endlich das Licht.» Solche Anflüge von Sonntagsschulprosa mögen quer in dem sonst so stimmigen Band stehen – als Leser verfolgt man es jedenfalls gerne, wenn der Autor immer neue Belichtungen, neue Blickrichtungen erprobt.

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