Die Rückkehr des Wettbewerbs
Die Politik Arzachs war zuletzt zu sehr vom Gehorsam gegenüber den Machtzentralen in Stepanakert und Jerewan beherrscht. Nun scheint der Wettbewerb der politischen Ideen wieder frei zu spielen.
Seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 hat die Republik Arzach (bis 2017 Republik Bergkarabach) einen langen und holprigen politischen Weg zurückgelegt. Die späten 1990er Jahre waren stark von der Logik und Dynamik der Nachkriegszeit geprägt. Das militärische Establishment verfügte nach dem Krieg über die eigentliche Macht im Land und kontrollierte praktisch alle Entscheidungsprozesse. Das politische System war unterentwickelt und kaum institutionalisiert. Dennoch war der Einfluss Armeniens auf die Innenpolitik von Bergkarabach relativ begrenzt. Hingegen war die militärische Elite Bergkarabachs ein Faktor, mit dem man im politischen Leben Armeniens rechnen musste. Ihre Rolle beim Rücktritt des ersten postsowjetischen armenischen Präsidenten Lewon Ter-Petrosjan im Jahr 1998 wird weitgehend anerkannt. Beachtenswert ist auch, dass gleich zwei Präsidenten Armeniens ihre politische Karriere in Bergkarabach begannen: Robert Kotscharjan war von 1994 bis 1997 Bergkarabachs erster Präsident und Sersch Sargsjan 1992 Vorsitzender des Karabach-Komitees.
Die 2000er Jahre: Der Einfluss Armeniens nimmt zu
In den 2000er Jahren übernahm die armenische Regierungselite nach und nach die Führung und begrenzte die Rolle und den Einfluss des militärischen und politischen Establishments in Bergkarabach. Jerewan unternahm grosse Anstrengungen, um alle demokratischen Prozesse in Bergkarabach zu untergraben und die Autonomie seiner politischen Elite einzuschränken. Noch 2004 war Stepanakert die erste Hauptstadt im Südkaukasus, in der ein Oppositionskandidat die Bürgermeisterwahlen gewann: Eduard Aghabekjan von der neugegründeten Bewegung 88 besiegte im zweiten Wahlgang Pawel Najarjan, den Kandidaten des herrschenden Regimes.
Ermutigt durch diesen Erfolg beschlossen die beiden wichtigsten Oppositionsparteien Bergkarabachs, Bewegung 88 und Armenische Revolutionäre Föderation, vor den Parlamentswahlen 2005 ihre Kräfte zu bündeln und einen gemeinsamen Oppositionsblock zu bilden. Das herrschende Regime in Jerewan sah das jedoch als Bedrohung und griff mit beträchtlichen finanziellen Mitteln in den Wahlprozess ein. Um die Unterstützungsbasis des Oppositionsblocks zu spalten, schuf Jerewan zudem eine neue Pseudooppositionspartei namens Freies Mutterland. Mit Erfolg: Nur drei oppositionelle Kandidaten schafften es schliesslich ins 33-Sitze-Parlament.
«Mehr als zehn Jahre lang war es schwierig und gefährlich, sich in der Oppositionspolitik zu engagieren.»
2007, auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, folgte die armenische Elite einem populären postsowjetischen Trend und erkor den Leiter des Nationalen Sicherheitsdienstes, Bako Sahakjan, zu ihrem Präsidentschaftskandidaten für Bergkarabach. Sahakjan, ein Mann mit eher überschaubarem politischem Talent, nutzte diese Unterstützung und gewann die Präsidentschaftswahlen 2007 mit Leichtigkeit. Als Marionette des neuen armenischen Präsidenten Sersch Sargsjan eliminierte er die letzten Relikte des politischen Wettbewerbs im Land.
Mehr als ein Jahrzehnt lang war Sahakjan das Bollwerk des Sargsjan-Regimes und leistete seinem Gönner bei Bedarf Unterstützung. So zum Beispiel 2008, als nach den hart umkämpften Präsidentschaftswahlen in Armenien eine Bewegung aufkam, die gegen vermuteten Wahlbetrug von Seiten Sargsjans protestierte – bis sie am 1. März bei Strassenkämpfen in Jerewan blutig niedergeschlagen wurde; zehn Menschen starben. Schon einige Tage vor der Niederschlagung waren Truppen und paramilitärische Gruppen von Bergkarabach nach Jerewan versetzt worden – was nicht ohne Sahakjans Zustimmung geschehen konnte. Zu erinnern ist auch an 2015, als Mitglieder der armenischen Antiregierungsgruppe Preparliament an der Grenze zwischen Armenien und Bergkarabach angehalten und von karabachischen Polizei- und Sicherheitskräften verprügelt wurden.
Während Stepanakert und Jerewan vor Sahakjans Amtszeit bisweilen unterschiedliche Meinungen vertraten – bis Mitte der 2000er Jahre unterschied sich beispielsweise Stepanakerts Haltung zu den Lösungsvorschlägen im Karabach-Konflikt immer von der Haltung Jerewans –, wurde Bergkarabach während seiner Präsidentschaft zu einem gehorsamen Vertreter Armeniens. Im Gegenzug für seine unerschütterliche Loyalität erhielt Sahakjan freie Hand in der Innenpolitik, und das bedeutete eine Versorgung mit allen notwendigen finanziellen und administrativen Ressourcen für die Aufrechterhaltung seiner absoluten politischen Dominanz im Land. So verwandelte sich Karabachs politisches System in ein Schaufenster für eine kleine, aber mächtige informelle Gruppe von Generälen, die offiziell keine politischen Ämter innehatten, aber den Entscheidungsprozess im Land monopolisierten. Mehr als zehn Jahre lang war die Innenpolitik Karabachs extrem berechenbar und langweilig, jeglicher Wettbewerb fehlte. Fast alle politischen Akteure büssten das geringe Mass an Autonomie ein, über das sie verfügten, und folgten lediglich den Befehlen des Präsidentenbüros. Das öffentliche Interesse am politischen Leben des Landes entwickelte sich zurück, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung entpolitisierte sich.
Die Samtene Revolution
Armenien und Arzach haben zwar unterschiedliche politische Systeme, sie existieren aber im gleichen politischen Raum. Der Grad der institutionellen Integration zwischen den beiden Ländern ist so hoch, dass politische Veränderungen, die in Jerewan geschehen, in Stepanakert nicht unbemerkt bleiben können. So hat die sogenannte Samtene Revolution Armeniens von 2018 auch die politische Landschaft in Bergkarabach völlig verändert. Sersch Sargsjans Versuch, die Macht in Jerewan zu halten, indem er vom Amt des Präsidenten in das des Premierministers wechselte – nach zwei Amtszeiten durfte er als Präsident nicht erneut antreten, hatte aber rechtzeitig das Premierministeramt deutlich aufgewertet –, sorgte für enormen öffentlichen Aufruhr. Eine gewaltfreie Protestbewegung unter der Führung des Oppositionspolitikers Nikol Paschinjan schaffte es, Hunderttausende von Menschen in Armenien zu mobilisieren und Sargsjan zu verdrängen.
Danach fanden auch in Arzach mehr als 20 Demonstrationen unterschiedlicher Ausrichtung statt. Die Teilnehmerzahl dieser Kundgebungen variierte zwischen 10 und 1000 Personen. Proteste und Demonstrationen wurden zur neuen Normalität in einem Land, das zuvor eine lange Zeit der zivilen und politischen Stagnation erlitten hatte. Die herrschende Elite Karabachs reagierte ratlos auf die politischen Veränderungen in Armenien. Weil es an Koordination mangelte, entstand ein Machtvakuum. Der Entscheidungsprozess in Arzach wurde für eine Weile lahmgelegt, da vor der Samtenen Revolution alle wichtigen Entscheidungen in Jerewan getroffen wurden, von Sersch Sargsjan selbst: Arzachs Elite befolgte nur Befehle.
Nach dem revolutionären, aber reinigenden Gewitter begannen politische Parteien wie Pilze aus dem Boden zu schiessen: «Identität und Einheit» wollte die Interessen von Kleinunternehmern vertreten, die Jugendorganisation der etablierten regierungsfreundlichen Partei Armenische Revolutionäre Föderation spaltete sich ab und gründete die Partei Vereinigtes staatsbürgerliches Bündnis, eine Gruppe von mittleren Bürokraten gründete eine Partei namens Gerechtigkeit. Nach und nach kamen selbst die Leader der formell regierenden Parteien zum Schluss, dass sie unabhängige Entscheidungen treffen können: So spielt der Wettbewerb der politischen Ideen heute endlich frei. Erstmals in der Geschichte der Republik Arzach ist die herrschende Elite in verschiedene Lager aufgeteilt, die je eine eigene Agenda verfolgen und die um die Unterstützung des herrschenden Regimes konkurrieren müssen.
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im März 2020
Obwohl die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen erst im März 2020 stattfinden werden, haben die wichtigsten politischen Akteure der Republik ihre Wahlkämpfe bereits begonnen. Eine ganze Reihe potentieller Präsidentschaftskandidaten hält Kundgebungen in verschiedenen Teilen des Landes ab. Sie und ihre Parteien versuchen so, Zukunftsvisionen zu präsentieren, neue Mitglieder zu gewinnen, ihre Lokalparteien zu stärken. Die Tatsache, dass die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen am selben Tag stattfinden, hat für alle Parteien den Anreiz geschaffen, einen Präsidentschaftskandidaten zu präsentieren. Ins Parlament einziehen wird, wer fünf Prozent der Wähler von sich überzeugen kann. Staatliche Mittel erhalten alle Parteien, die einen Wähleranteil von drei Prozent für sich verbuchen können.
«Aufgrund der politischen Liberalisierung, die durch die Samtene Revolution in Armenien ausgelöst wurde, werden die Wähler 2020 so viel Auswahl haben wie noch nie.»
Wie in jedem Wahlkampf nutzen die Parteien unterschiedliche Narrative für ihre politischen Zwecke. Das Lager der Silowiki – pensionierte Generäle und andere im Sicherheitssystem tätige Beamte – setzt auf die Geschichte vom «Land im Belagerungszustand». Seine Vertreter warnen die Öffentlichkeit immer wieder vor der Gefahr des Ausbruchs eines neuen Krieges und versuchen, sich als die einzige Kraft zu präsentieren, die in der Lage sei, die Heimat zu verteidigen. Witali Balasanjan, ein Kriegsheld und ehemaliger Chef des Sicherheitsrates, ist der Kandidat dieser informellen Gruppe. Die Generäle verfügen jedoch über keine starke politische Basis. Sie werden Mühe haben, Sympathisanten im demokratischen Prozess zu gewinnen.
Die zweite grosse Gruppe der herrschenden Elite ist das Lager der Oligarchen. Seit mehr als einem Jahrzehnt nutzen die Mitglieder dieser Gruppe ihre privilegierte Position, um sich zu bereichern und die Wirtschaft des Landes zu kontrollieren. Weil sie sich in der grössten politischen Partei Arzachs vereinen – der Partei Freies Mutterland –, sind sie im Gegensatz zu den Silowiki ziemlich etabliert. Bereits jetzt nutzen die Oligarchen ihre finanziellen Ressourcen, um Unterstützer zu gewinnen, indem sie ihnen zinsgünstige Kredite und andere Vergünstigungen gewähren. Führer dieser Partei ist der ehemalige Premierminister Arajik Harutjunjan; auch er hat seine Präsidentschaftskandidatur angekündigt. Harutjunjan und seine Parteikollegen versprechen den Wählern wirtschaftliche Entwicklung, grosse Investitionen und Wohlstand. Ironischerweise sind sie selbst das vielleicht grösste Hindernis für die Erreichung dieser Ziele.
Die beiden anderen Regierungsparteien sind die Demokratische Partei Arzachs und die Armenische Revolutionäre Föderation. Die Erfolgsaussichten ihrer Präsidentschaftskandidaten sind ohne den Einsatz administrativer Ressourcen allerdings gering, deren Verteilung mit dem zunehmenden internen Kampf im Lager des herrschenden Regimes ebenfalls umkämpfter wird. Sie werden die Erfolge der letzten Parlamentswahlen kaum erreichen können. Anders als ihre Konkurrenz werden sie wohl nicht mal in der Lage sein, der breiten Öffentlichkeit ein attraktives Narrativ zu verkaufen.
Endlich Raum für Opposition
Festzustellen bleibt: Die postrevolutionäre Liberalisierung hat Raum geschaffen für die politische Opposition. Denn mehr als zehn Jahre lang war es schwierig und gefährlich, sich in der Oppositionspolitik zu engagieren. Die herrschende Elite benutzte ihren repressiven Apparat, um abweichende Stimmen einzuschüchtern. So wurde im Juni 2016 der einzige oppositionelle Abgeordnete in der Nationalversammlung – unser Parteimitglied Hajk Chanumjan – vor dem Parlamentsgebäude in Stepanakert von mehreren Männern in Uniform entführt und schwer geschlagen. Er hatte am Vortag eine Demonstration organisiert, die gegen die Politik der Regierung protestierte. Vor den Parlamentswahlen 2015 taten die Polizei und der nationale Sicherheitsdienst ihr Bestes, um den Wahlkampf unserer Partei zu verhindern. Sie traten buchstäblich in unsere Fussstapfen und rieten Menschen, denen wir begegneten, nicht für uns zu stimmen. So waren wir gezwungen, unser Hauptquartier inmitten der Kampagne zu verlassen. Das Risiko des Arbeitsplatzverlustes war ein wichtiges Mittel der Regierung, das gegen Personen eingesetzt wurde, die versuchten, politisch aktiv zu werden. Der Staat ist der grösste Arbeitgeber und die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist stark von ihm abhängig.
Die politischen Veränderungen in Armenien machten die Regierung Arzachs jedoch vorsichtiger und sie ist weniger dazu geneigt, extreme Massnahmen zu ergreifen. Es eröffneten sich neue Möglichkeiten, und Leute, die vor der Samtenen Revolution nicht bereit waren, sich politisch zu engagieren, werden jetzt politisch aktiv. Die überwiegende Mehrheit der neugegründeten Parteien stellt sich gegen die aktuelle Regierung. Das Problem dieser neuen Kräfte ist ihr Mangel an politischem Wissen und Erfahrung. Sie sind oft sehr naiv in ihrem Handeln und ihrem Verständnis politischer Fragen. Deshalb nutzen sie fast alle populistische Botschaften, um neue Unterstützer zu gewinnen. Samwel Babajan, der Kommandant der Verteidigungsarmee während des Krieges, ist die prominenteste Figur unter ihnen. Er hat eine beachtliche Unterstützungsbasis in der Gesellschaft und wird von vielen als ein starker Mann angesehen, der in der Lage sei, die herrschende Elite zu besiegen und die Lebensbedingungen des einfachen Volkes zu verbessern. Allerdings lebt er seit zehn Jahren nicht mehr in Arzach. Weil er kein Bürger mehr ist, verbietet es ihm die Verfassung des Landes, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Babajan startete eine Petition zur Änderung der Verfassung. Ihre Chance auf Erfolg ist jedoch gering.
Unsere Partei – Nationale Wiederbelebung – wird sich 2020 gegen Korruption und für Demokratie stark machen. Wir befürworten die Dezentralisierung der Macht, die Trennung von Business und Macht, Deregulierung, eine wirtschaftliche Liberalisierung und andere marktorientierte Reformen. Im Falle eines Sieges werden wir keine Mühen scheuen, um die zerfallene Infrastruktur wiederherzustellen und die wirtschaftliche Entwicklung anzuregen. Auf unserer langfristigen Agenda steht der Aufbau tragfähiger politischer Institutionen. Wir sind überzeugt, dass die Demokratie in Armenien und Arzach keine Alternative hat.
Es ist fast sicher, dass das Schicksal der Präsidentschaftswahlen im zweiten Wahlgang entschieden wird. Sollte eine starke Oppositionskraft entstehen, die in der Lage ist, das Segment der sich nach Veränderung sehnenden Wähler anzusprechen, hat sie sehr gute Chancen, die etablierten Vertreter zu besiegen und einen Prozess der politischen und wirtschaftlichen Modernisierung einzuleiten. Wenn es jedoch dem Lager des herrschenden Regimes gelingt, an der Macht zu bleiben, werden wir eine weitere Phase der Stagnation durchlaufen müssen. Eines ist jedoch bereits klar: Aufgrund der politischen Liberalisierung, die durch die Samtene Revolution in Armenien ausgelöst wurde, werden die Wähler 2020 so viel Auswahl haben wie noch nie.
Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Bader.