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Die Rückkehr des Irrationalen
Maximilian Tarrach, zvg.

Die Rückkehr des Irrationalen

Wenn Intellektuelle zu Priestern werden, ist das Ende der offenen Gesellschaft eingeläutet. Die Geschichte bietet genügend Beispiele für geistigen und politischen Rückschritt.

 

Ayn Rand hat in ihrer 1961 erschienenen Essaysammlung «For the New Intellectual» eine Unterscheidung eingeführt, die auch noch in der Gegenwart bedeutsam ist. Demnach bestehen die zwei wesentlichen Phänotypen vorzivilisatorischer Herrschaft im Mann der Tat, gemäss der Philosophin am deutlichsten von Attila, dem Hunnenkönig, verkörpert, und im Mann des Geistes, repräsentiert vom Hohepriester oder dem Medizinmann. Der Mann der Tat herrscht mit roher Gewalt über seine Untertanen, während der Mann des Geistes mit Hilfe seiner Ideen und seiner intellektuellen Überzeugungskraft Macht auszuüben weiss.

Attila würde am liebsten allein herrschen, doch er benötigt geistige Unterstützung, um seine Herrschaft moralisch und transzendental zu legitimieren. Der Priester erklärt Attilas Macht für heilig und unantastbar, womit er diesen vor inneren Feinden schützt, würde aber am liebsten selbst und allein herrschen. Ohne das Schwert kann er seinen Worten jedoch keine Taten folgen lassen. Er ist so auf Attila angewiesen wie dieser auf ihn. Sie bilden eine unfreiwillige Symbiose. Keiner kann ohne den anderen, und dennoch verachten sie einander.

Der kurze Triumph der «neuen» Intellektuellen

Laut Ayn Rand reduzierte die Moderne, vor allem aber das Aufkommen des Kapitalismus, die Vorherrschaft der Attilas dieser Welt erheblich – auf ihren leer gewordenen Platz konnten Unternehmer vorrücken, ohne jedoch die primitive Despotie zu wiederholen, weil der tatsächliche Mehrwert ihres Gewinnstrebens ein gesellschaftlicher war: Vom Wohlstand profitierten alle. Bei den Intellektuellen verhält es sich jedoch anders. Obwohl diese nur aufgrund kapitalistischer Produktivität überhaupt zu einer eigenständigen sozialen Gruppe werden können, die relativ komfortabel lebt, lautet Ayn Rands These, dass konventionelle Intellektuelle dazu neigten, den Kapitalismus Stück für Stück zu zerstören. Neben diesen «alten» Intellektuellen haben sich noch Wissenschafter (hier sind vor allem Naturwissenschafter und technische Neuerer gemeint) als «neue» Männer des Geistes entwickelt. Ayn Rand begreift Unternehmer und diese Wissenschafter als soziale Inkarnation der Vernunft, während Intellektuelle in ihrer überwältigenden Zahl der Irrationalität anhingen.

Ich glaube, dass Ayn Rand recht hat in bezug darauf, dass die meisten Intellektuellen ein unvernünftiges Erbe als Priester antreten. Wenn wir uns fragen, was ihre Rolle in einer freien Gesellschaft ist, können wir nüchtern feststellen, dass diese an sich sehr bescheiden ist. Weitaus ­bedeutender als ihre Erkenntnisse, die in der Regel als Kommentarkultur Gestalt annehmen, sind der Empirie und Objektivität verpflichtete Wissenschaft, technischer Fortschritt und das Unternehmertum. Wenn wir uns erinnern, dass die historischen Vorläuferfiguren des Priesters auch als Medizinmann, als Erklärer der Naturgewalten und als religiöser Führer Gestalt angenommen hatten, fällt auf, dass ihnen sämtliche Rollen und Funktionen von der Wissenschaft genommen wurden. Wer Physiker und Astronomen hat, braucht keine Astrologen mehr, wer Mediziner kennt, braucht keinen Medizinmann anzurufen.

Als Lenker des Guten und Anständigen, als moralischer Erzieher und Bezugsperson für Fragen der Rechtsprechung ist der Priester darüber hinaus durch den Rechtsstaat entmachtet, denn dieser garantiert Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit. All diese zivilisatorischen Errungenschaften behindern das Entstehen eines modernen Priestertums mitsamt seinem Machtstreben, denn Intellektuelle können niemanden zwingen, nach ihren Vorstellungen zu leben. In einem Rechtsstaat ist dies auch vollkommen unnötig, weil niemand auf «richtiges» Verhalten in Form von Moralregeln anderer angewiesen ist – alle Bürger geniessen unveräusserliche Rechte, die sie schützen. Individuelle Freiheit ermöglicht es jedem Menschen, sein Leben nach seiner Vorstellung zu führen. Der historisch erstrittene Pluralismus der Lebensstile macht den Priester als Leit­figur überflüssig. Die liberale Gesellschaft hat der selbst verschuldeten Unmündigkeit der Bürger ein Ende gesetzt. Sie können nun selbst darüber befinden, wie sie leben wollen.

Wider die Verkündiger «richtigen Lebens»

Es kann also nicht die Aufgabe der Intellektuellen sein, das richtige Leben zu propagieren. Wollen sie der Vernunft folgen, müssen sie kritische Rationalisten sein. Ihre erste Aufgabe wäre es, ihren Verstand in keinerlei Dienst zu stellen, sondern die Welt, so gut es geht, zu erklären – nicht aber zu sagen, wie die Welt auszusehen habe. Mit fehl­baren Hypothesen die Komplexität der sozialen Wirklichkeit zu erfassen, ist Aufgabe genug. Weil Intellektuelle mehr Begabung und mehr Spezialisierung auf dem Gebiet des Denkens besitzen, können sie Vorstellungen, die jedermann über die Gesellschaft und das Leben hegt, hinterfragen und ihre Antworten in einen möglichst konsistenten und kohärenten Zusammenhang stellen. Sie können Brücken zwischen den Wissenschaften schlagen und die wichtigsten Erkenntnisse der Fachwissenschaften einem breiten Publikum verfügbar machen, den Fortschritt erklären, die technische Entwicklung vermitteln und Prognosen über die Zukunft anstellen. Kurzum: Sie ermöglichen es den anderen Bürgern, geistige Klarheit und Übersicht über das verfügbare Wissen zu erlangen, auf das diese aufgrund der spezialisierten Arbeitsteilung ansonsten nicht zugreifen könnten.

Dies ist selbstredend genau das Gegenbild zu dem, was beispielsweise die Marxisten predigen. Marx’ berühmtester Ausspruch lautete: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.» Genau dies ist aber nicht die Aufgabe von Philosophen in einer freien Gesellschaft. Das Begreifen der Wirklichkeit ist weit wichtiger für sie als das Verändern der politischen Verhältnisse. Karl Popper nannte Marx deshalb auch einen falschen Propheten, eine Erkenntnis, die sich bis heute nicht durchsetzen konnte. Statt kritische Denker und kritische Journalisten zu sein, betätigen sich die meisten Intellektuellen bis heute als falsche Propheten und moralische Erzieher des Volkes. Wie konnte es dazu kommen?

In Erinnerung an die Anfänge der USA

Meine These ist, dass der Kapitalismus sich gegen den Wunsch der Intellektuellen durchgesetzt hat, dass darüber hinaus eine Zeitlang die Männer der Tat die Männer des Geistes dominierten, doch dass Wohlstand und die zunehmende Lähmung der kapitalistischen Dynamik Platz geschaffen haben für die Intellektuellen «alter» Schule, sich den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Wenn wir überlegen, dass der Kapitalismus an einem historischen Punkt entstand, an dem in Europa weltliche wie geistige Herrscher walteten, sehen wir, dass diejenigen, die heute noch «Intellektuelle» genannt werden, in den nachfolgenden Jahrhunderten entmachtet wurden, um sich nun wieder auf den Thron zu schwingen.

Deutlich wird dies auch am historischen Umstand, dass der Erfolg des Kapitalismus selbst in den USA nicht selbstverständlich war. Einige der Gründerväter wollten keinen Kapitalismus. Thomas Jefferson etwa war eine der treibenden Kräfte hinter der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung der Vereinigten Staaten. Wirtschaftlich wollte er aus den USA jedoch einen Agrarstaat machen, in welchem jeder Bürger potentiell Kleinbauer oder Plantagenbesitzer werden sollte, weil harte Arbeit den Menschen an das Leben binde. Hier trat sein Puritanismus hervor: Jefferson blickte mit Argwohn auf Grossstädte, Industrie und Handwerk, in denen er Lasterhöhlen sah, in denen der Mensch verkomme.

Der Kapitalismus konnte sich, von England und Westeuropa aus über den Atlantik schwappend, nur deshalb so gut in den USA durchsetzen, weil die Gründerväter um jeden Preis eine allzu mächtige Zentralregierung verhindern wollten. Aus den Erfahrungen des Absolutismus in Europa hatten sie gelernt, dass Macht niemals zu konzentriert in den Händen einiger weniger liegen darf, sondern geteilt und stets kontrolliert werden muss. Dies verhinderte eine zen­tralisierte Wirtschaftspolitik mit Sozialstaat, Konjunkturpolitik und Protektionismus – nichts hätte es vermocht, die Entwicklung des Kapitalismus in den USA zu verhindern. Nur deshalb und weil das Land sehr gross ist sowie über eine Währung, eine Sprache und ein Rechtssystem verfügt, konnte der freie Markt hier Fuss fassen wie in keinem anderen Land der Welt zuvor.

Bei den nicht körperlich arbeitenden Intellektuellen hingegen gedieh über Generationen das Ressentiment gegen den Wohlstand: Der Begriff des «amerikanischen Traums» etwa wurde seit seiner Erfindung von Literaten vorwiegend abschätzig verwendet – als dummes Märchen, das den einfachen Arbeitern erzählt werde, damit diese ihre Ausbeutung besser ertrügen. Materialismus und zunehmenden Wohlstand geisselten allerdings stets auch die ­vielen zerstreuten Kirchen des Landes: Amerikaner seien konsumsüchtig, zu wenig an höheren Dingen interessiert, zu wenig fromm. Im selben Zug wurden Unternehmer als moderne Attilas diffamiert, die selbstsüchtig die Welt eroberten und rücksichtslos Profite auf Kosten anderer machten, ohne Achtung vor Traditionen.

Zwischen 1860 und 1960 versechsfachte sich die Bevölkerung des Landes von 30 Millionen Einwohnern auf 180 Millionen – bei einer Verhundertfachung der Wirtschafts­leistung von fünf auf über 500 Milliarden Dollar pro Jahr. In dieser Ära hatten die alten Priestertypen keine Chance gegen den Kapitalismus. Das Wachstum und die Steigerungen der Lebensqualität waren zu offensichtlich, um sie als falsch oder lasterhaft darzustellen. Die Bürger ­zogen die Teilhabe an diesem Fortschritt moralischen Geboten vor.

Die Rückkehr des Alten

Doch mit der zunehmenden Erlahmung der Dynamik auf sehr hohem Niveau begannen die «alten» Intellektuellen des Ressentiments wieder Fuss zu fassen. In den vergangenen Jahrzehnten erstritten sie sich enorme Gelder für ihre Einrichtungen – darunter Zeitungen, Universitäten, Stiftungen, Vereine, NGOs – und dominierten zunehmend ­öffentliche Debatten. In einem fort predigen sie seitdem gegen die Industrie, gegen den Konsum, gegen den Hedonismus, gegen die Technik, gegen die Wissenschaft, gegen den Fortschritt, gegen den Rechtsstaat, gegen die individuelle Freiheit. Wer sich heute fragt, wo das Ende der politischen Korrektheit einmal sein wird, muss sich nur an den Index Librorum Prohibitorum der katholischen Kirche erinnern. Dieser verbot von den Liebesgeschichten Balzacs über die Werke von Descartes und Diderot bis zur «Kritik der reinen Vernunft» von Immanuel Kant geradezu treff­sicher genau die wesentlichen Erzeugnisse der europäischen Aufklärung (insgesamt über 6000 Titel) und wurde erst 1962 abgeschafft.

Hieraus spricht die ganze Kleingeistigkeit und Enge des realen Priestertums, seine einstige Angst vor neuen Ideen und die intellektuelle Ignoranz, welche die Mächtigen nur allzu schnell ereilt. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte man der Menschheit die besten Werke des Geistes vorenthalten und verboten. Das neue Priestertum hingegen operiert mit «Triggerwarnungen» und cancelt unliebsame Individuen. Es ist ­davon auszugehen, dass es vor nichts haltmachen wird, solange es nicht unter seiner Kontrolle ist. Es geht am Ende nicht einmal um tatsächliche Moral, sondern um die Deutungshoheit über diese. Die neuen Priester wollen entscheiden, was getan werden darf und was getan werden muss. Im Hass auf den Prototypen des modernen Unternehmers, Elon Musk, kommt die Verachtung des freien Menschen exemplarisch zum Ausdruck. Niemals würden Priester es erlauben, dass jemand einfach eine Rakete in den Orbit schiesst. Was sie stört, ist nicht einmal die Tat an sich, sondern dass Musk dafür nicht um ihre Erlaubnis bitten musste. Hätte er es getan, ist davon auszugehen, dass ein Ethikrat jahrelang darüber beraten hätte, ob die Rakete als Phallussymbol nicht «proble­matisch» oder Ausdruck des westlichen Imperialismus sei, von unvorhersehbaren Umweltschäden ganz zu schweigen.

Gegen die Verlockung des Irrationalen

Der drohende Rückfall in die Irrationalität ist historisch kein Einzelfall. Als das Römische Reich unter Kaiser Augustus seine grösste Ausdehnung erreicht hatte und Wohlstand, Zivilisation mit Kanalisation, Handel, Recht, eine einheitliche Sprache in Wort und Schrift sowie ein komplexes politisches System waltete, was taten da die Römer? Sie wandten sich in Scharen sogenannten Mysterienkulten zu – heidnisch inspirierten Kulten, die ihnen «das wahre Leben» zurückbringen sollten. In einem davon belief sich der Initiationsritus darauf, dass sich der Initiant einer symbolischen Wiedergeburt unterzog. Er musste sich in ein für ihn ausgehobenes Grab legen, die anderen Gläubigen schlachteten über ihm ein Rind und liessen das Blut über seinen Körper fliessen. Dann musste dieser selbständig aus dem Grab klettern und galt als gereinigt. Dass Erwachsene, die in eine solche Hochkultur hineingeboren worden sind, an solch primitiven Ritualen teilnahmen, weist bereits darauf hin, weswegen auch das Christentum leichtes Spiel hatte, seine Werte, die das irdische Leben verneinten oder seinem Gott unterwarfen, zu implementieren. Bekanntlich besiegelten sie Roms Schicksal. Schon dieses Beispiel lehrt, dass sich Vernunft niemals alleine durchsetzt. Die ­Zivilisation kann nur Bestand haben, wenn sie aktiv gegen das Irrationale verteidigt wird.

Wir müssen deshalb für eine echte Rückbindung an die Vernunft kämpfen, wie Ayn Rand schon vor mehr als einem halben Jahrhundert betonte: für die strikte Trennung von Recht und Moral, Glaube und Staat, Verfassung und politischer Bewegung, Aktivismus und Parlamentarismus sowie Wissenschaft und Dogma, Intellektuelle und Priester. Nur wenn wir das moderne Priestertum zurückdrängen, hat der Westen eine Chance.

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