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Die Revolution von 1848  ermöglichte die Genfer Konvention
Nina Tannenwald, zvg.

Die Revolution von 1848
ermöglichte die Genfer Konvention

Kurz nach der Bundesstaatsgründung wurde das Rote Kreuz ins Leben gerufen. Dass die Organisation in der Schweiz entstand, ist kein Zufall.

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Am 24. Juni 1859 reiste Henri Dunant, ein Schweizer Geschäftsmann aus Genf, nach Italien, als er zufällig die Folgen der Schlacht von Solferino im Rahmen der italienischen Unabhängigkeitskriege sah. Vierzigtausend verwundete, tote und sterbende österreichische, französische und italienische Soldaten lagen vor ihm vernachlässigt auf dem Schlachtfeld. Es gab keinen ernsthaften Versuch, sie zu versorgen. Dunant war schockiert. Entsetzt über das Leid gab er seine Pläne auf und verbrachte die nächsten Tage damit, die Bürger der Stadt zu organisieren, um den Soldaten medizinische Hilfe und Pflege zukommen zu lassen.

Als er nach Genf zurückkehrte, schrieb er ein Buch über das Ereignis, «Eine Erinnerung an Solferino», in dem er fast nebenbei die Schaffung einer neutralen Organisation forderte, die den Kriegsverwundeten ohne Diskriminierung Hilfe leisten sollte. 1863 gründeten Dunant und vier weitere Genfer, darunter der berühmte Guillaume Henri Dufour (der Anführer der eidgenössischen Truppen im Sonderbundskrieg von 1847 und erste General des schweizerischen Bundesstaates), das spätere Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), die erste neutrale Hilfsorganisation der Welt. Ein Jahr später verabschiedeten zwölf europäische Staaten auf einer Konferenz im Genfer Rathaus die erste Genfer Konvention zur «Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen». Sie sollte die Neutralität von Hilfsorganisationen garantieren, um das Kriegsleid zu mindern. Ausserdem wurde das berühmte Symbol des Roten Kreuzes eingeführt, das die Farben der Schweizer Flagge umgekehrt wiedergibt.

Damit begann die besondere Beziehung der Schweiz zum IKRK und zu den Genfer Konventionen über das humanitäre Völkerrecht. Bald darauf wurden nationale Hilfsgesellschaften gegründet (heute bekannt als Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften). Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 begann das IKRK mit seiner grundlegenden Arbeit, indem es verwundeten Soldaten Hilfe und Rückführung gewährte und Listen von Kriegsgefangenen erstellte. Während des Ersten Weltkriegs protestierte das IKRK energisch gegen den Einsatz chemischer Waffen und leistete umfangreiche humanitäre Arbeit mit Kriegsgefangenen. Das beinhaltete den Besuch von Kriegsgefangenenlagern, um zu überprüfen, ob die Gefangenen unter akzeptablen Bedingungen festgehalten wurden, und Unterstützung bei der Rückführung von 425 000 Gefangenen nach dem Krieg. Nach den Greueltaten des Zweiten Weltkriegs wurden die Konventionen auf Zivilisten ausgedehnt. Heute bilden die Genfer Konventionen von 1949 und die Zusatzprotokolle von 1977 den Kern des Rechts zum Schutz der Opfer interner und internationaler bewaffneter Konflikte. Jedes Land der Welt ist Vertragspartei. Das IKRK hat sich von einer winzigen Organisation zu einer Institution entwickelt, die an ihrem Hauptsitz in Genf 900 und weltweit fast 21 000 Mitarbeiter in mehr als 100 Ländern beschäftigt. Das IKRK hat sich zur bedeutendsten humanitären Organisation der Welt entwickelt und wurde bereits dreimal mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet (1917, 1944 und 1963). Die Schweizer Regierung ist ein wichtiger Geldgeber, und die letzten Präsidenten des IKRK waren ehemalige Schweizer Diplomaten.

Neutrale Organisation in einem neutralen Land

War es Zufall, dass Henri Dunant Schweizer war und dass die Schweiz zum Brutkasten des neutralen Humanitarismus wurde? Könnte diese Entwicklung auch in einem anderen Land stattgefunden haben? Das ist möglich, scheint aber unwahrscheinlich. Drei Schlüsselfaktoren erklären die Ursprünge des neutralen Humanitarismus in der Schweiz: die lange Neutralitätstradition der Schweiz, die liberale Schweizer Bundesverfassung von 1848 und die stark calvinistisch geprägten progressiven sozialen Werte im Genf des frühen 19. Jahrhunderts.

Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) pflegen Verwundete, die durch Bombenangriffe am 1. April 2022 in der ukrainischen Stadt Irpin in der
Region Kiew verletzt wurden. Bild: IKRK.

Erstens ist klar, dass die Schweizer Neutralität eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung der Neutralität des IKRK und der Etablierung der Schweiz als Trägerin der Genfer Konventionen gespielt hat. Die Schweiz ist seit dem Wiener Kongress 1815 offiziell neutral. Damals gewährleisteten die europäischen Grossmächte offiziell die «immerwährende Neutralität der Schweiz und die Unverletzlichkeit ihres Gebietes». 1867, während der ersten Konferenz der Rotkreuzgesellschaften, lehnte die Konferenz einen französischen Vorschlag ab, den Hauptsitz in Paris anzusiedeln. Sie erkannte, dass der Hauptsitz in einem kleinen, neutralen Land und nicht in einer Grossmacht angesiedelt sein sollte, damit das IKRK seine Rolle als neutraler Vermittler wirksam wahrnehmen konnte.

Ein zweiter Faktor ist der Erfolg der liberalen Verfassung der Schweiz von 1848. Von den revolutionären Erhebungen des Jahres 1848, die in vielen europäischen Ländern zu Umwälzungen führten, war die Schweiz die einzige, in der die liberale und nationale Bewegung erfolgreich war. In der Schweiz führte die Revolution von 1848 zur Verabschiedung einer neuen Verfassung, die die Schweiz zu einem liberalen, föderalen Staat machte. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern, wo die Kräfte der konservativen Reaktion die Aufstände von 1848 unterdrückten, gab es in der Schweiz keine repressive Reaktion auf die Errungenschaften von 1848. So wurde die Schweiz zu einer Insel der relativen Stabilität in einer Nachbarschaft von Grossmächten, die sich in den 1850er- bis 1870er-Jahren in verschiedenen Staatsgründungskriegen bekämpften und die Landkarte neu zeichneten.

Der dritte Faktor schliesslich war die protestantisch-calvinistische Kultur Genfs mit ihrer Betonung der Sozialarbeit, der Verbesserung öffentlicher Wohlfahrt und der Förderung des Friedens. Soziale Wohlfahrts- und Friedensvereine waren in Genf schon vor 1848 weit verbreitet. Dunant, der 1828 geboren wurde, wuchs in einer frommen calvinistischen Familie auf, die sich aktiv für die Armen engagierte. Er setzte sich auch für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit, den Pazifismus und den Feminismus ein. Dunant formulierte seinen Appell zur humanitären Hilfe im Sinne der christlichen Moral und der Verpflichtungen der christlichen Herren und der «zivilisierten Nationen». Auch sein Mitbegründer Gustave Moynier, ebenfalls Calvinist und später Präsident des IKRK, war ein aktiver Unterstützer karitativer Zwecke und präsidierte die Genfer Gesellschaft für öffentliche Wohlfahrt. Das Konzept der neutralen «Hilfsgesellschaften» erscheint somit als logische Erweiterung lokaler Werte.

Neue Hindernisse für die ­Konventionen

Diese drei Faktoren – die Schweizer Neutralität, die liberale Verfassung von 1848 und das calvinistische Genf – erklären die Entstehung der Genfer Konventionen nach 1848. Doch die schweizerische Neu­tralität und die humanitäre Neutralität sind nicht dasselbe, und diese Konzepte können in Konflikt geraten. Der Zweite Weltkrieg markierte das grösste Versagen des IKRK, als es im Oktober 1942 dem Druck der Schweizer Regierung nachgab, den Holocaust an den Juden durch das Naziregime nicht öffentlich zu machen. Die Schweizer Regierung wollte im Krieg neutral bleiben und Hitlers unwillkommene Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen, was jedoch mit der moralischen Verpflichtung des IKRK kollidierte, Opfer bewaffneter Konflikte zu schützen. Das IKRK war nicht in der Lage, den «nationalen Kontext» seiner Aktionen zu ignorieren oder sich dem Einfluss der Schweizer Regierung zu entziehen. Unter dem politischen Druck des Krieges verriet es dessen Opfer.1

Die Genfer Konventionen stehen für den tiefen Glauben, dass die menschlichen Kosten des Krieges durch das Recht begrenzt oder reduziert werden können. Ist das wahr? Heute gibt es viele Gründe, an der Wirksamkeit der Konventionen zu zweifeln. Im Sudan, in Syrien, Mali, Myanmar, Eritrea und Burkina Faso scheinen bewaffnete Kräfte, die einen Bürgerkrieg führen, gezielt Zivilisten zu töten.2 Am offensichtlichsten ist der brutale Krieg Russlands in der Ukraine, der durch massive Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung und eine entsetzliche Behandlung gefangener Soldaten gekennzeichnet ist. Welche Wirkung haben also die Genfer Konventionen?

Anhänger der «Realpolitik» neigen dazu, skeptisch zu sein, dass das Völkerrecht in Kriegen eine wesentliche einschränkende Wirkung auf das Verhalten von Staaten haben kann. Sie geben Cicero recht, der sagte: «In Zeiten des Krieges schweigt das Gesetz.» Auf der linken Seite fragt sich der Historiker Samuel Moyn, ob wir so viel Zeit darauf verwenden sollten, den Krieg humaner zu gestalten. Wäre es nicht effektiver, einfach weniger davon zu führen?

Weniger Krieg wäre sicherlich wünschenswert. Dennoch ist die Entstehung der Genfer Konventionen ein ­Beweis dafür, dass es selbst in Kriegszeiten Grenzen für akzeptables Verhalten gibt. Auch wenn die Durchsetzung uneinheitlich ist, haben die Standards die Situation von Gefangenen und Zivilisten in vielen Kriegen deutlich verbessert. In den letzten Jahrzehnten sind neue Durchsetzungsverfahren hinzugekommen, darunter internationale Strafgerichte mit Zuständigkeit für das humanitäre Völkerrecht und eine zunehmende Tätigkeit nationaler Gerichte nach den Grundsätzen der universellen Gerichtsbarkeit. Die Zahl der Militärjuristen hat zugenommen, und der UNO-Menschenrechtsrat hat zunehmend Verstösse gegen das Kriegsrecht untersucht.

Der Schock und die Brutalität des russischen Krieges in der Ukraine haben den Anstoss für neue Bemühungen um Rechenschaftspflicht gegeben. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber die russische Führung wird das Stigma der Kriegsverbrechen, ob angeklagt oder nicht, wahrscheinlich jahrzehntelang tragen. In der realen Welt der internationalen Beziehungen sind die Instrumente der internationalen Gemeinschaft gegen eine Grossmacht begrenzt, aber sie sind nicht wirkungslos. Es ist schwer vorstellbar, wie die Welt ohne die Genfer Konventionen oder den Grundsatz der neutralen humanitären Hilfe besser dran wäre.

  1. Siehe Jean-Claude Favez: «Das Internationale Rote Kreuz und das Dritte Reich: War der Holocaust aufzuhalten?». Zürich: NZZ Libro, 1989.

  2. Das Verbot des Angriffskrieges in der UNO-Charta, Art. 2, gilt nur für zwischenstaatliche Kriege.

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