Die Revolution cist ihre Kinder
Die Debatten über politische Korrektheit haben groteske Züge angenommen: Der Begriff ist allgegenwärtig, seine Bedeutung aber völlig unklar. Eine Richtigstellung.
«Politische Korrektheit» ist zu einem ideologischen Kampfbegriff geworden. Als rhetorische Keule dient er vornehmlich dazu, rationale Diskurse und sachliche Auseinandersetzungen zu umgehen. Passt etwas nicht ins eigene Weltbild, fühlt sich etwas nicht richtig an, bereitet etwas gar Verständnisschwierigkeiten, ruft man empört: «Das ist doch wieder nur der Tugendterror der politischen Korrektheit!» Die Diskussion ist damit oft beendet, denn die Fremdzuschreibung geht ins Leere: Kaum jemand bezeichnet sich hierzulande selbst als «politisch korrekt». Zum «politisch Korrekten» wird man abgestempelt.
Ein solcher Sprachgebrauch, vor allem in der Öffentlichkeit, verletzt die Standards, die Sprache als reziprokes, kooperatives System verlangt. John Rawls hatte eine entsprechende Diskursethik in seinen Theorien zum «politischen Liberalismus» entwickelt: «Menschen sind […] unvernünftig, wenn sie an kooperativen Systemen teilnehmen wollen, aber nicht bereit sind, irgendwelche allgemeinen Grundsätze oder Standards, die faire Bedingungen der Kooperation festlegen, zu achten oder gar vorzuschlagen, es sei denn als eine notwendige öffentliche Verstellung.» Rhetorische Keulen zerschlagen solche faire Bedingungen. Wird da also überhaupt noch im eigentlichen Sinne debattiert? Was ist es, das die sozialen Netzwerke und Feuilletons zum Glühen bringt? Warum allerorten die teils erbitterten Kulturkämpfe zwischen auseinanderdriftenden sozialen Milieus? Versuchen wir, etwas Ordnung in das hin und her wogende Wortgemenge zu bringen.
Herkunft eines Begriffs
Die Idee von «politischer Korrektheit» geht auf die Neue Linke der 1970er Jahre zurück. Damals wurde der Begriff zum einen verwendet, um Personen zu begegnen, die andere, insbesondere Angehörige von Minderheiten, ausgrenzen, stigmatisieren, diskriminieren oder auf sonstige Weise benachteiligen. «Politische Korrektheit» sollte der Mehrheitsgesellschaft ihre blinden Flecken aufzeigen und daran erinnern, dass universelle Gerechtigkeit längst nicht erreicht sei. Entsprechend wurde unter anderem der Kanon an Hochschulen einer teils längst überfälligen Kritik unterzogen. Es galt, die real existierende pluralistische Gesellschaft auch in Lehrplänen sichtbar zu machen. Zum anderen wurde «politisch korrekt» selbstironisch auf die Dogmatiker in den eigenen Reihen bezogen. Mitnichten verhielt es sich demnach so, dass linksprogressive Parteien und Gruppierungen nicht zur Selbstkritik fähig wären. Genau das wird seit den 1980ern und verstärkt im neuen Jahrtausend seitens konservativer Revolutionäre mantramässig behauptet. Das Gegenteil trifft zu: Die Linke zeichnet sich seit jeher durch interne Grabenkämpfe und exzessive Selbstkritik aus.
Jüngst wurde dies im von Patsy L’Amour laLove herausgegebenen Sammelband «Beissreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten» (Querverlag, 2017) deutlich. Anders als der Titel erwarten lässt, handelt es sich nicht um die politisch unkorrekte Streitschrift eines konservativen Verlages, sondern um eine bisweilen ins Polemische entgleitende Selbstkritik aus der queeren Szene. Im Zentrum steht die Diagnose, dass der subversive Kern von Queerness, also die Kritik an hegemonialen Vorstellungen von «Identität» und «Natur», seinerseits naturalisiert und identitär festgezurrt worden sei. An Stelle lustvoller, spielerischer Gegenkultur treten priesterlicher Ernst und elternhafte Belehrung. Die Aufsätze handeln denn auch von «Inquisition auf dem e*camp 2013», einer queerfeministischen Veranstaltung mit «Awarenessteam», «Meckerbox» und «Schutzraum». Von den Spannungen zwischen «Glitzerschwulen» und «Transradikalen», von der unterkomplexen, verdrucksten Auseinandersetzung mit dem Islamismus: «Kritik hieran denunziert [das Sammelsurium von Netzfeminismus, Queer Theory und Geschlechterforschung] einfallsreich als ‹rassistisch›, ‹orientalistisch›, ‹islamophob› und so weiter.»
Teile der linken Szene sind sich also sehr wohl bewusst, dass sie gleichsam pietistisch-paternalistische Sezessionen ausgebildet haben. Sie führen eine offene Auseinandersetzung mit den Schattenseiten und Defiziten der politischen Korrektheit. Damit öffnen sie sich nicht zuletzt dem Austausch mit breiteren Gesellschaftsschichten. Das hat Grösse. Das führt weiter. Dem gebührt Respekt.
Wie neue Elfenbeintürme entstehen
Anders verhält es sich mit aktivistischen, meist aus akademischen Milieus stammenden Strömungen, die derzeit primär damit beschäftigt sind, Ideen von Reinheit, authentischer Identität und Ausgrenzung des politischen Gegners («No Platform»)1 zu propagieren. Oft sind sie bestrebt, die in weiten Teilen hybriden, bewusst diffus gehaltenen Theorien der «Critical Studies» in konkrete politische Handlungen zu übersetzen – der platonische Philosophenkönig lässt grüssen.
«Wer Machtverhältnisse über die Sprachpolitik verändern will,
begeht einen Denkfehler.»
Beispiele sind die bereits notorischen Forderungen, Reden konservativer Politiker an US-amerikanischen Universitäten abzusagen oder Kunstwerke, die als verletzend empfunden werden, aus Ausstellungshäusern zu entfernen. Linksradikale aber geniessen, den historischen Gräueln des Linkstotalitarismus zum Trotz, Auftritts- und Ausstellungsfreiheit. Hier wird mit zweierlei Mass gemessen. Entweder erklärt man die genannten Orte zu politikfreien Zonen, gute Gründe dafür gibt es, oder man lässt ein breiteres Spektrum an Positionen zu.
Unterlässt man beides, verwandeln sich Hochschulen und Kulturinstitutionen in dubiose Elfenbeintürme. Insinuiert wird, dass die direkte Auseinandersetzung mit dem «anderen» bereits dessen Bejahung impliziert. Ungewollt wird der Gegner dadurch aufgewertet: Seine Macht, seine Stärke, seine Bedrohung wird als so gross eingeschätzt, dass man vor ihm flüchtet, dass man Barrikaden, Mauern, Gräben errichtet und sich dahinter versteckt. Auf diese Weise verunmöglicht politische Korrektheit das für demokratische Auseinandersetzungen elementare Nahkampftraining. Der Gegner wird nicht als Wesen aus Fleisch und Blut, sondern nur als ferne Abstraktion erfahren. In Demokratien wird man jedoch früher oder später direkt mit ihm konfrontiert werden. Verfügt man in dieser Situation über keinerlei Erfahrung im Umgang mit ihm, ist das Desaster vorprogrammiert.
Wer nur über, nicht aber mit den «anderen» spricht, erzielt einen geringen Erkenntnisgewinn. Aus den eigenen Peer Groups erhält man vorwiegend Bestätigung. Ganz anders sah das aus, als Hannah Arendt in den 1950er Jahren mit dem als konservativ geltenden politischen Philosophen Eric Voegelin über die Ursprünge des Totalitarismus korrespondierte. Oder als Martin Luther King 1960 öffentlich mit dem Verfechter der Rassentrennung James J. Kilpatrick debattierte. Oder als Theodor W. Adorno 1965 mit dem früheren NSDAP-Mann Arnold Gehlen im Fernsehen auftrat. In allen Fällen handelte es sich um intensive Gespräche mit politischer Sprengkraft. Dennoch verliefen sie ruhig, konzentriert und fokussiert. Das hatte nichts mit unseren heutigen überhitzten, den Diskurs pervertierenden Polittalkshows gemein. Nicht von ungefähr tragen diese Namen wie «Arena».
Vielsagend ist, dass Arendt, King und Adorno ambivalente Figuren waren und in komplexen Zusammenhängen dachten. Sie traten für progressive Ziele ein, die man dem Kanon der politischen Korrektheit zuordnen könnte: gegen Diskriminierung, für Gerechtigkeit. Während Radikale wie Malcolm X zu populistischen Szenarien neigten – «es gibt keinen Kapitalismus ohne Rassismus» – und zu Gewalt aufriefen, setzte der von der biblischen Bergpredigt inspirierte King auf Synthesen und Gewaltfreiheit. Das gleiche lässt sich über den stillen Widerstand der Bürgerrechtlerin Rosa Parks sagen. Die Wege von Parks und King haben sich als die nachhaltigeren erwiesen.
Adorno wiederum pflegte auch als Linker – darin Friedrich Engels und Karl Marx nicht unähnlich – den ihm von Kindesbeinen an vertrauten grossbürgerlichen Lebensstil und die bürgerliche Debattierkultur. Als 1969 Studierende das Frankfurter Institut für Sozialforschung besetzten, rief er die Polizei. Die rabiaten Methoden seiner Vorlesungsbesucher weckten in ihm Erinnerungen an die Militanz der Nationalsozialisten. Wie Jürgen Habermas befürchtete er, die Studentenbewegung könne ihrerseits in Faschismus umschlagen. Arendt schliesslich liess sich nicht in das bipolare Schema von links und rechts pressen. Sie suchte Freiheit und Gerechtigkeit jenseits komfortabler Gruppenzugehörigkeiten und lehnte jegliche Form totalitärer Herrschaft ab.
Arendt, King und Adorno bezeichneten sich nicht als «politisch korrekt». Sie vermittelten mit kluger Dialektik zwischen moderaten und radikalen Kräften sowie zwischen unterschiedlichen politischen Milieus. Ihnen war bewusst, dass in jedem Mittel bereits ein politischer Zweck impliziert ist. Jedes noch so redliche Ziel wird diskreditiert, wenn die Mittel zu seiner Erreichung unredlich sind. Umso schlimmer ist es, dass exklusionistische, partikularistische Mentalitäten heute wieder Konjunktur haben und das liberaldemokratische, friedliche Zusammenwachsen der Gesellschaft gefährden. An den politischen Polen ist dies ein alter Hut. Hier wir, dort die anderen. Wir die Guten, sie die Bösen. Wir die Opfer, sie die Täter. Wir das (Kultur-)Volk, sie die Barbaren. Jede progressive Bewegung tut gut daran, diese Muster nicht einmal im Ansatz zu reproduzieren.
Die Abkapselung der «Progressiven»
Es mehren sich die Zeichen, dass genau diese Einsicht ins Hintertreffen gerät. So fand etwa im vergangenen Jahr in Bern ein öffentlich annoncierter «queer-feministischer Nachtspaziergang» statt. Wohlgemerkt handelte es sich nicht um einen «Safe Space», einen Schutzraum, der für stigmatisierte Gruppen unerlässlich ist. Wunderbar, dachte ich, hatte ich doch gerade einen Lexikonartikel zu «Camp & Trash» verfasst und darin ausführlich Queerness thematisiert – weniger mit Blick auf das Geschlecht, sondern vielmehr als «rallying point [for] affiliations of unofficial, non-national, non-familial, non-state-sanctioned kind», wie der Literaturwissenschafter Ross Chambers treffend formulierte. Dann las ich weiter: «für alle fltiq*menschen. keine cis-männer.»
Eine neue Negatividentität als Fremdzuschreibung ist geboren: der Cis-Mann. Wer das Pech hat, dass sein aktuelles Geschlecht mit dem seiner Geburt übereinstimmt – das nämlich bedeutet «cis» –, muss nachts alleine durch Bern flanieren. Oder sich bei den Cis-Jungs von der SVP ausweinen. Ein besseres Rekrutierungsprogramm könnten die sich nicht wünschen. Die Revolution cist ihre Kinder.
Müsste politische Korrektheit nicht den Identitätsfetischismus bekämpfen, statt ihn durch die Schaffung immer neuer Identitätskategorien zu intensivieren und Menschen ex cathedra in Kollektiv-singularen zu kasernieren? Während die Rechte von einer «linksgrünversifften» Verschwörung phantasiert – und dabei ausblendet, wie bürgerlich-spiessig die vermeintlichen «Linken» und «Grünen» längst sind –, hat sich in linksprogressiven Kreisen die Rede von «alten, weissen Männern» breitgemacht. Diese bilden offenbar eine verschworene Truppe und unterdrücken alles, was nicht alt, weiss, männlich ist, mit vereinten Kräften. Die Übergänge zwischen gefühlter und faktischer Unterdrückung sind dabei fliessend. Gebraucht die Rechte «politisch korrekt!» als Keule, so nutzen manche linksprogressive Aktivisten den «Alt-weiss-männlich-» oder «Mansplaining»-Vorwurf, um Diskurse abzuwürgen.
Wie aber könnte man einen deutschen Nationalsozialisten und einen polnischen Widerstandskämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg in denselben Alte-weisse-Männer-Topf werfen? Was hat der Vorkämpfer für Frauenrechte John Stuart Mill mit der Misogynie eines Arthur Schopenhauer zu tun? Ist es möglich, Argumente als eindeutig «männlich» zu labeln und damit als «Mansplaining» abzutun? Gerade in der «Multioptionsgesellschaft» (Peter Gross) kommt man nicht umhin, sich mit konkreten Menschen zu befassen anstatt mit den vermeintlichen Bewohnern von Identitätskasernen. Schon 1994 sang die linke Punkband NOFX: «Don’t Call Me White!» Die Philosophin Beate Rössler betont, dass «wir unsere konfligierenden, ambivalenten Identitäten nie ganz miteinander versöhnen können, dass das Selbst komplex bleibt». Analog dazu gilt in den Worten des früheren deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss: «Wir dürfen nicht immer sagen: Er ist ein Franzose – also; er ist ein Engländer – also; er ist ein Deutscher – also; er ist ein Jude – also. Nein, so geht es nicht. Wir müssen im Verhältnis Mensch zu Mensch eine freie Bewertung des Menschentums zurückgewinnen.» Dieser freien Bewertung widerspricht die Reduktion von Menschen auf Repräsentanten von Klassen, Geschlechtern, Staaten. Was nicht bedeutet, dass sie dies nicht auch sind.
Dauererregung: die prolongierte Pubertät
Während Teile der Linken wenn nicht den Begriff, so doch die Prinzipien der politischen Korrektheit verteidigen, aber damit nur ein schwaches Medienecho erzielen, ist die Diskreditierung politischer Korrektheit auf der anderen Seite des politischen Spektrums – vom rechten über das liberalkonservative bis ins libertäre Milieu – zum medial erfolgreichen Sprachspiel geworden. Dies hat nicht zuletzt (aufmerksamkeits)ökonomische Gründe: Provokationen und Invektiven treiben zuverlässig die Klick- und Kommentarzahlen in der digitalen Medienöffentlichkeit nach oben, auch bei grossen liberalen Tageszeitungen in Deutschland und der Schweiz. Der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen spricht in diesem Zusammenhang von einer «Empörungsdemokratie». Der Grund hierfür liegt jedoch nicht nur in der Digitalisierung und in den sozialen Netzwerken, die die spontane Absonderung von Emotionen und schnell gefassten Meinungen begünstigen. Es gibt einen weiteren, viel banaleren Grund: In den sogenannt westlichen Gesellschaften entwachsen Menschen der Pubertät heute nachweislich sehr spät oder gar nicht.2 Das zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel der sogenannten «Wutbürger», die meist älteren Semesters sind.
Hält man den prolongiert pubertären, von Berufsjugendlichen verwalteten Gesellschaften ein Gebotsschild vor, auf dem explizit «politisch korrekt!» steht, so sollte man sich nicht darüber wundern, dass sie eine diebische Freude daran verspüren, sich unkorrekt zu verhalten. Appelle an die Vernunft verfangen bei Teenagern, auch den geriatrischen, erfahrungsgemäss selten, ja es ist ihnen im Gegenteil eine Freude, sich des Korsetts des Vernünftigen zu entledigen.
Wie der Politikwissenschafter Francis Fukuyama in den frühen 1990er Jahren richtig bemerkte, wurde in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts oft übersehen, dass die menschliche Seele nicht nur nach Lust («Eros») und Vernunft («Logos») strebt, sondern auch nach Anerkennung vermittels Trotz und Stolz («Thymos»). Der aktuelle pubertäre Furor, der sich gegen politische Korrektheit richtet, entstammt wohl zu einem ansehnlichen Prozentsatz diesem Seelenteil. Die Ideen hinter politischer Korrektheit wiederum appellieren prinzipiell an Vernunft und Wohlbefinden. Allein, der aufmüpfige «Thymos» ist Realität. Er existiert. Jegliche Theorien und Handlungen zur politisch-sozialen Transformation müssen dies miteinbeziehen, statt Stolz und Zorn Hasardeuren und Hetzern zu überlassen.
Man wird den Widerstand gegen politische Korrektheit also nur verstehen, wenn man den Thymos als Analysekategorie nutzt. Wohlgemerkt: als Analysekategorie und nicht als weiteren ideologischen Kampfbegriff, wie es beispielsweise Teile der Partei Alternative für Deutschland tun. Diese fordert lautstark die Abkehr von politischer Korrektheit. Allein, das Lob des politisch Inkorrekten gilt für die AfD selbstredend nur für die Attacke auf die eigenen Gegner und Feinde. Wendet sich das Blatt, wird also die AfD Zielscheibe politisch inkorrekter Invektiven, ist das Wehklagen gross, stilisiert sich die Partei zum Opfer linken Tugendterrors.3
Was tun?
Es spricht viel dafür, den Begriff «politische Korrektheit» ersatzlos aufzugeben. In seinem plattpädagogischen, dialektikfreien Zuschnitt fordert er politisch unkorrekte Gegenreaktionen geradezu heraus. Da er aus taktischem Interesse als Kampfbegriff und nicht etwa als Selbstbeschreibung seitens der «politisch Korrekten» gebraucht wird, dürfte sich dies allerdings schwierig gestalten. Realistischer ist es, in den Debatten über «politische Korrektheit» zukünftig auf präzise Unterscheidungen zu pochen: Sprechen wir über Ziele hinter «politischer Korrektheit» oder über die Wege, sie zu erreichen? Sprechen wir über gefühlte oder tatsächliche Ausgrenzung? Sprechen wir über konstruktive, langfristig orientierte Vorschläge oder über kurzatmige Symbolpolitik? Kollektivsingulare und Kampfbegriffe sind zu vermeiden. Gefragt sind Differenzierung und Geduld.
Die mit «politisch korrekt» gemeinten Anliegen sind hingegen überwiegend legitim und unterstützenswert, sei es der Kampf gegen rechtliche Diskriminierung etwa von Homosexuellen, für Lohngleichheit von Frauen und Männern oder für einen respektvollen Umgang mit dem Gegenüber. Viele Taktiken und Strategien, mittels derer diese Ziele verwirklicht werden sollen, sind jedoch schlicht kontraproduktiv: Maulkörbe, Bevormundung und Ausgrenzung sind nur bei Extremisten angebracht – um alle anderen muss geworben und gerungen werden.
Wer Machtverhältnisse über die Sprachpolitik verändern will, begeht einen Denkfehler. Dass sich Machtstrukturen auch in der Sprache ausdrücken, ist zwar richtig. Doch Sprache und soziopolitische Verhältnisse stehen in keinem natürlichen oder monokausalen Verhältnis, wie schon einige wenige Beispiele zeigen. So existieren im Englischen keine Genera wie im Deutschen, gleichwohl führte Deutschland das Frauenwahlrecht vor Grossbritannien ein. Die Türken und Japaner wiederum haben in ihren Sprachen kein Genussystem, aber gleichwohl patriarchalische Gesellschaften. Klüger wäre es deshalb, mehr Ressourcen in politische Basisarbeit zu investieren, auseinanderdriftende Bevölkerungsschichten an einen Tisch zu bringen und sich mit Blick auf die Sprache im freien Wettbewerb zu üben: Möge die bessere, die überzeugendere, die ansprechendere, die sinnfälligere Redeweise gewinnen! Das Werben um eine politisch korrekte, also respektvolle und angemessene Sprache ist nicht Aufgabe der Politik und ihrer Institutionen, sondern der Zivilgesellschaft. Allen sollte es freistehen, ob sie Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Mitarbeiter-Innen oder Mitarbeiter*innen einstellen. So viel Pluralismus verträgt unsere Kommunikation locker. Zudem würde so jede und jeder qua Genuspräferenz Flagge zeigen müssen – das läuft Konformisten, Heuchlern, Karrieristen und Opportunisten, die sich nur zu gerne nach irgendwelchen Fibeltextchen richten, zuwider. Wer Regelwerke aushändigt, in denen steht, welche Formulierungen verwendet werden dürfen und welche nicht, richtet sich genau an diese Klientel: an Mitläufer, nicht an Mitdenker.
Die Aufgabe politisch korrekten Handelns – das von nun an nicht mehr so genannt werden soll! – besteht nicht darin, möglichst viele Gedichte von Hauswänden zu kratzen. Auch nicht darin, Identitätskirchen zu gründen oder den Sprachgebrauch zu verfibeln. Vielmehr gilt es, an die Unwahrscheinlichkeitsgebilde postmoderner Ethik und Lebensstile anzuknüpfen – her mit den christlich-queeren Stammtischen! Für einen Schulterschluss zwischen Stadt- und Landbevölkerung! Im Sinne von John Rawls sollten in den öffentlichen Diskurs nur solche Argumente eingebracht werden, die tatsächlich dazu beitragen, ein geordnetes politisches Gemeinwesen zu generieren und die öffentliche Vernunft zu stärken. Ob die Argumente islamischen, christlichen oder atheistischen; linken, rechten oder liberalen; ökologischen, ökonomischen oder politischen Ursprungs sind, ist sekundär. Wichtig ist, dass die jeweiligen Protagonisten bereit sind, ihre Weltanschauungen zu segmentieren und zu relativieren, um sie im freien Dialog mit anderen, im Hinblick auf allgemeine Gerechtigkeit, weiterzuentwickeln. Wer das nicht kann oder will, hat in offenen Gesellschaften nichts verloren.
In Zürich eskalierte 2017 die Kontroverse um ein Podium im Theater Gessnerallee, das ich mitinitiiert hatte. Geplant war eine Diskussion zwischen dem libertären Aktivisten Olivier Kessler, dem rechtsnationalistischen AfD-Mitglied Marc Jongen, der sozialliberalen Aktivistin Laura Zimmermann von der Operation Libero sowie dem Autor, der als Wissenschafter und Journalist eine interlektuelle Perspektive vertreten hätte. Als Moderator vorgesehen war Christopher Kriese vom linken Theater- und Performance-Kollektiv «Die Neue Dringlichkeit». Aufgrund der Heftigkeit der Proteste, die auch Drohungen, Beleidigungen und Verwerfungen innerhalb des Theaters umfassten, wurde die Veranstaltung gestrichen – nicht aufgrund der sachlichen und berechtigten Kritik, die ebenfalls geäussert wurde. ↩
Der Philosoph Leszek Kołakowski attestierte den postmodernen Wohlstandsgesellschaften bereits in den 1970er Jahren einen Zug zur «Neotenie». Die Perseveranz von Jugendmerkmalen halte bis ins hohe Alter an, wobei die «ewige Unreife» des Menschen unter ökonomischen Gesichtspunkten als Bedingung seiner Kreativität und Vielseitigkeit verstanden werden könne. Die Kehrseite ist, dass auch weniger erquickliche juvenale Charakterzüge überdauern. ↩
Ähnlich verhält es sich mit der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei PiS [Prawo i Sprawiedliwość, dt. Recht und Gerechtigkeit]. Hatte sie sich eben noch vehement über politische Korrektheit und Sprechverbote echauffiert, erliess sie wenig später ein Gesetz, das die Verwendung des Begriffs «polnische Konzentrationslager» unter Strafe stellt (ausgenommen davon sind – angeblich – Wissenschaft und Kunst). Inhaltlich ist das Gesetz gerechtfertigt, handelte es sich doch um deutsche Konzentrationslager auf polnischem Boden. Wer aber vorgibt, politische Korrektheit abzulehnen, sollte von staatlichen Sprechverboten absehen. ↩