Die realen Risiken heutiger Kriege
Terrorismusattacken. Hackerangriffe. Flüchtlingsströme. Das sind die Bedrohungen westlicher Staaten im 21. Jahrhundert. Welche Möglichkeiten haben sie, darauf angemessen zu reagieren?
Die Zeit der klassischen Staatenkriege ist vorbei. Damit haben auch die riesigen, aus der männlichen Bevölkerung eines Landes ausgehobenen Landheere ausgedient.
Einige Politiker und Generäle machen zwar geltend, die jetzigen Konstellationen könnten sich wieder ändern, und dann werde man Truppen brauchen, die zur Führung eines high-intensity-Kriegs fähig seien. Doch sprechen alle verfüg-baren Daten und deren Extrapolation in die Zukunft dagegen, dass in Europa wieder Kriege der Art geführt werden, wie sie vom 15. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Geschichte des Kontinents bestimmt haben.
Der erste Grund ist: die Herstellung einer umfassenden Kriegführungsfähigkeit ist so teuer geworden, dass derlei nur noch im Rahmen grösserer Bündnissysteme möglich ist. Das aber heisst, dass die Partner eines solchen Bündnisses ge-geneinander nicht kriegführungsfähig sind. Infolgedessen können politische Konflikte die Eskalationsschwelle zum Krieg nicht überschreiten. Dass es in den letzten Jahrzehnten nicht zum Krieg zwischen Griechenland und der Türkei gekommen ist, ist ein Beleg dafür.
Aber wie sieht es dann mit der Konfrontation zwischen kriegführungsfähigen Bündnissystemen aus? Seit dem Zu-sammenbruch des Warschauer Pakts vor zwei Jahrzehnten gibt es weder in Europa noch weltweit einen Kontrahenten, der der Nato in einer symmetrischen militärischen Konfrontation gewachsen wäre und der sie dementsprechend her-ausfordern könnte. Dass dies auch in Zukunft so bleibt, hat sicherlich zur Voraussetzung, dass die Anstrengungen des Westens nicht unter einen gewissen Stand fallen.
Der zweite Grund für das Verschwinden des klassischen Staatenkriegs aus den Bedrohungsszenarien der Europäer ist in den demographischen Veränderungen fast aller Länder zu suchen. Die Zahl der Söhne ist so dramatisch zurückge-gangen, dass sich keine europäische Gesellschaft mehr leisten kann, eine beträchtliche Anzahl von ihnen in Kriegen zu opfern, wie sie das in der Vergangenheit getan hat. Parallel dazu ist der Anteil der Alten und Pflegebedürftigen drama-tisch angestiegen. Längst übertreffen die Sozialetats das Volumen der Verteidigungsetats um ein Vielfaches, was vor einigen Jahrzehnten noch unvorstellbar war.
Die Zeit und Energie, die junge Männer vor kurzem noch für den Wehrdienst aufwandten, werden dringend für die Pflegedienste gebraucht, sollen diese nicht zusammenbrechen. Die Folgen langwährender Prosperität und stabiler sozia-ler Sicherungssysteme schlagen nach innen durch, und weil das tendenziell in allen europäischen Gesellschaften so ist, können sie einander nicht bedrohen, selbst wenn irrationale politische Führungen dies wollten. Überalterte Gesellschaf-ten wie diejenigen Europas und Ostasiens sind kriegführungsunfähig.
Das Szenario, an dem die meisten europäischen Armeen dessenungeachtet noch immer orientiert sind, ist der un-wahrscheinlichste Fall der Bedrohung: der mit konventionellen Kräften geführte Angriff auf das Territorium eines an-deren Staates, der mit ebensolchen konventionellen Kräften gestoppt und zurückgeschlagen werden soll. Natürlich spielt die Vorstellung militärischer Grenzsicherung bzw. der Raumverteidigung nach wie vor eine grosse Rolle. Aber diese Art von Verteidigung schafft heute keine Sicherheit mehr, sondern verursacht nur noch Kosten. Sie ist der phantasielose Verbrauch knapper Ressourcen, die andernorts sehr viel dringlicher gebraucht würden. Hackerattacken und Terroran-griffe sind auf diese Weise ebensowenig abzuwehren, wie konventionelle militärische Kräfte geeignet sind, die Geisel-nahme eigener Staatsbürger in fremden Ländern zu verhindern oder angemessen darauf zu reagieren. Der Aufbau von Fähigkeiten zum Schutz des eigenen Territoriums war die Reaktion auf äussere Bedrohungen in den Zeiten der Agrar- und der frühen Industriegesellschaft. Heute dagegen ist oft nicht mehr zu unterscheiden, ob die Bedrohung von innen oder von aussen kommt, und in der Regel ist sie mit militärischen Mitteln nicht abzuwehren. Der Sammelbegriff dafür heisst Asymmetrie.
Zunächst ist zu beachten, dass es zwei Formen von Asymmetrie bzw. Asymmetrierung gibt: eine der Stärke, die auf der Basis ökonomischer und technischer Überlegenheit erfolgt, und eine aus Schwäche, die darauf aus ist, die überlegene Stärke des attackierten Gegners in Schwäche zu verwandeln.
Beginnen wir mit der Asymmetrie der Stärke. Sie findet sich immer wieder auf Seiten von Seemächten, wenn diese mit Landmächten konfrontiert sind. Von Perikles’ Plan im Krieg gegen Sparta bis zum Agieren der Briten und der Amerikaner im 19. und 20. Jahrhundert ist das immer wieder zu beobachten: asymmetrisch überlegene Akteure handeln aus einer Posi-tion tendenzieller Unangreifbarkeit und Unverletzlichkeit heraus und fügen dem Gegner einen Schaden zu, gegen den er sich nicht wehren kann oder wo er sich, wenn er sich dagegen wehrt, dadurch ins Unrecht setzt.
Das Element der See, später der Luft und des Weltraums, wirkt hier mit technischer Überlegenheit zusammen, und militärische Mittel werden durch ökonomische und fiskalische Instrumente ergänzt. Seemächte haben Krieg schon im-mer auch in Form des Wirtschaftskriegs geführt. Die Folge ist, dass die Kriegsentscheidung nicht territorial konzentriert werden kann, sondern von der dominanten Seite permanent in andere Räume verlegt wird. In der Konfrontation mit Seemächten haben Landmächte nicht die Option der Symmetrierung. Sie haben nicht nur andere, sondern prinzipiell schlechtere Karten.
Etwas anders liegen die Dinge im Falle der Asymmetrierung aus Schwäche. Auch hier geht es um die Erschliessung neuer Dimensionen des Krieges, etwa im Partisanenkrieg, aber dabei spielt weniger der Raum als vielmehr die Zeit die ausschlaggebende Rolle. Diese Form von Asymmetrie setzt auf die strategische Kapitalisierung der Zeit, in deren Folge sie einen ansonst überlegenen Gegner erschöpft und ermattet, um ihn in die Resignation zu zwingen. Dabei kann, gera-de im Fall des Partisanenkrieges, auch der Raum als Ressource des Zeitgewinns dienen, aber ausschlaggebend ist die Zeit. Mao hat diese Form der Symmetrierung deswegen als «den lange auszuhaltenden Krieg» bezeichnet.
Ob man ihn zu führen und zu gewinnen in der Lage ist, hängt von der eigenen Opferbereitschaft ab. An ihrer Gren-zenlosigkeit erschöpft sich der Gegner. Das haben die USA in Vietnam erfahren. Die Voraussetzung einer solchen Form asymmetrischer Kriegführung sind grosse demographische Ressourcen. Der Palästinenserführer Arafat hatte das im Auge, als er vom «Kampf der Wiegen» sprach, den man gegen die Israelis führen und gewinnen werde. Auch die Asymmetrie aus Schwäche komplementiert den Gebrauch von Waffen also durch andere Formen konfrontativer Willensdurchset-zung.
Auch wenn der klassische Staatenkrieg politisch-militärisch obsolet geworden ist, so ist der Krieg doch nicht ver-schwunden. Definiert man Krieg mit Clausewitz als ein Messen der moralischen und physischen Kräfte mit Hilfe der letzteren, so hat der Krieg seine Erscheinungsform geändert, ist aber nicht verschwunden. Er ist, um eine weitere Über-legung von Clausewitz aufzunehmen, «ein wahres Chamäleon», also dadurch gekennzeichnet, dass er beständig seine Erscheinungsform ändert und dies in Abhängigkeit von äusseren Gegebenheiten.
Wer die Frage beantworten will, worauf ein Land gefasst sein muss, ist somit gut beraten, wenn er sich als erstes mit diesem Chamäleoncharakter des Krieges beschäftigt, um sich sodann den unterschiedlichen Formen der Asymmetrie zuzuwenden. Wer das nicht kann oder will, hat schon verloren. Er investiert seine Ressourcen in Abwehrlinien, an de-nen niemand mehr angreift, und wo der Angriff erfolgt, fehlen ihm die Mittel zur Abwehr.
Mehr denn je ist beim Umgang mit den Risiken heutiger Kriege eine Form politisch-strategischer Kreativität ge-fragt, wie sie in der herkömmlichen Offiziers- und Stabsausbildung nicht unbedingt gefördert worden ist. Man kann das daran beobachten, wie die USA ihre asymmetrische Überlegenheit zu wahren suchen. Sie investieren dabei keines-wegs bloss in moderne Ausrüstung, wie Marschflugkörper und Kampfdrohnen, mit denen sie militärische Präsenz ohne Verletzlichkeit herzustellen vermögen, sondern suchen auch nach Möglichkeiten, den demographischen Veränderun-gen im eigenen Land und einer sich in deren Gefolge ausbreitenden postheroischen Mentalität Rechnung zu tragen.
So wurde die Wehrpflicht schon vor längerem kassiert, und das Gros der Kampfverbände speist sich aus den unteren sozialen Schichten, wo der Militärdienst eine Alternative zu Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung darstellt. Aber selbst das genügt nicht mehr. 20 Prozent der US-Soldaten im Irak waren und sind green-card soldiers, überwiegend Lateiname-rikaner, die in der US-Armee dienen, um amerikanische Staatsbürger zu werden. Hinzu kommen die private military companies, die auf dem Weltmarkt militärische Arbeitskraft aufkaufen, um sie den USA verfügbar zu machen: von ehe-maligen Elitesoldaten europäischer Streitkräfte bis zu Lastwagenfahrern aus den Philippinen, Bangladesch oder Pakistan, die gefährliche Logistikaufgaben ausführen. So werden die Verluste, welche die USA selber betreffen, in Grenzen gehal-ten. Die Privatisierung militärischer Dienstleistungen wird in Zukunft noch zunehmen.
Diese Option ist den Europäern aus politisch-kulturellen Gründen versperrt – vielleicht mit Ausnahme der französi-schen Fremdenlegion und der in Nepal rekrutierten britischen Gurkhas. Wie die zölibatäre Bürokratie des Vatikans keine jungen Männer hervorbringt, die für deren Schutz sorgen, sondern solche in der Schweiz rekrutiert, kompensieren nun einige politische Akteure ihre demographischen Defizite durch die Nutzung des Weltmarkts. Nur so werden die Länder des Nordens dauerhaft militärisch handlungsfähig bleiben.
Aber damit kann man es nicht bewenden lassen, sondern muss damit rechnen, zum Ziel asymmetrischer Angriffe zu werden. In der Abwehr solcher Angriffe lässt sich eine defensive und eine offensive Reaktion unterscheiden. Bei der defensiven Reaktion ist vor allem die Bevölkerung selbst gefragt, die auf Anschläge mit grosser Ruhe und Gelassenheit reagieren sollte. Da terroristische Attacken im wesentlichen darauf abzielen, die Bevölkerung des angegriffenen Landes in Angst und Schrecken zu versetzen, die Panik also die grössere und eigentliche Bombe darstellt, ist ein Verhalten, das sich zwischen mürrischer Indifferenz und heroischer Gelassenheit bewegt, eine überaus wirksame Abwehr.
Selbstverständlich haben Polizei und Geheimdienste alles zu unternehmen, um solche Anschläge zu verhindern. Ver-teidigung kann dabei auch darin bestehen, die kritische Infrastruktur eines Landes so zu verstärken, dass sie hinreichen-de Reserven enthält, um bei Anschlägen nicht sogleich zusammenzubrechen. Solche Reserven stellen unter betriebswirt-schaftlichen Aspekten jedoch einen Kostenfaktor dar, den bei einer weiteren Privatisierung der Infrastruktur wegzurati-onalisieren eine starke Neigung besteht. Solche Reserven entgegen der betriebswirtschaftlichen Rechnung aufrechtzuer-halten, ist eine probate Stärkung der Defensive.
Vermutlich ist aber die grösste und häufigste Herausforderung für west- und mitteleuropäische Staaten das Erforder-nis, ausserhalb der eigenen Landesgrenzen in friedenssichernden oder friedenserzwingenden Interventionen tätig zu werden. An der Peripherie der Wohlstandszonen wird es nämlich in wachsendem Masse zu Kriegen um knappe Res-sourcen, wie Land und Wasser, oder um die aus der Verfügung über Rohstoffe zu erzielenden Gewinne kommen. Diese Kriege können uns nicht gleichgültig sein, auch wenn sie uns nicht unmittelbar betreffen. Die aus der Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz erwachsenden Flüchtlingsströme werden schliess-lich ein Europa erreichen, das mit der Auf-nahme von Asylanten und Flüchtlingen schon bald seine Grenzen erreicht hat.
Also haben die Einsätze im subsaharischen Afrika oder in Zentralasien auch die Aufgabe, die Entstehung solcher Flüchtlingsströme am Entstehungsort zu verhindern, indem den Leuten in ihrer Heimat Frieden und Lebensmöglich-keiten gesichert werden. Aber das sind Herausforderungen, die nicht mit klassischen militärischen Mitteln zu bewältigen sind. Daher ist eine kluge und nachhaltige Kooperation zwischen humanitären Hilfsorganisationen, staatlichen Aufbau- und Ausbildungsprogrammen und dem mit Sicherungs- und Durchsetzungsmassnahmen befassten Militär erforderlich.