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Offen für Fortschritte, wachsam gegenüber Rückschritten
Illustration von Illustrateuse (Christina Baeriswyl), illustrateuse.ch.

Offen für Fortschritte, wachsam gegenüber Rückschritten

Die Lust am Experimentieren wird durch identitäres Denken und Angst vor Veränderung verdrängt.

Tempora mutantur, pflegten die Römer zu sagen. Und die Griechen wussten: Panta rhei. Die Zeiten ändern sich und alles fliesst; das weiss man seit der Antike. Wie geht ein liberal denkender Mensch damit um?

Wenn mein Gehör nachts ein Geräusch wahrnimmt, das nicht zur Nacht passt, erwache ich. Es ist ein angeborener In­stinkt. Ich glaube, wir haben auch einen Instinkt für Neuerungen, die unsere Freiheit bedrohen. Zum Beispiel Gendern. Da wollen mir Jungpolitiker, Schulbehörden und Gemeinde­verwaltungen vorschreiben, wie ich zu reden und zu schreiben habe – ohne die geringste Berechtigung. Ich soll immer, wenn ich von Menschen rede, zwingend daran erinnern, dass es auch Frauen gibt. Einwohnerinnen und Einwohner; Ärztinnen und Ärzte. Was für ein jämmerliches Frauenbild! Ich weigere mich, da mitzumachen, da hört meine Offenheit auf. Ich halte es mit dem kürzlich verstorbenen Doyen des korrekten Deutsch, Wolf Schneider: «Um ein berechtigtes Anliegen zu unterstützen, ist es nicht nötig, eine Sprache zu zerstören.»

Aber liberal denkende Menschen sind doch offen für Neues? Ja, wir richten unser Denken nicht nach dem Vorsorgeprinzip aus, das da lautet: «Etwas Neues darf erst akzeptiert werden, wenn bewiesen ist, dass es keinen Schaden anrichtet.» Man kann eine Nichtexistenz nicht beweisen. In dieser strikten Form ist das Vorsorgeprinzip also gar nicht anwendbar.

Das andere Extrem, man könnte es «Larifari» nennen oder Beliebigkeit, ist verantwortungslos und widerspricht den Grundsätzen des Liberalismus. Die Frage der Offenheit reduziert sich also auf die Frage: Wo zwischen den beiden Extremen stehen wir?

Das ist eine eminent persönliche Frage. Ich kann sie nur für mich beantworten. Als alter weisser Mann bin ich nicht nur liberal, sondern auch konservativ. Das muss kein Widerspruch sein.

Nicht alles Neue ist gut

Neue gesellschaftliche Ideen neigen dazu, illiberal zu sein. Zum Beispiel «Diversität, Inklusion und Gleichstellung». Da sträuben sich mir die (verbliebenen) Haare. Um eine Stelle zu kriegen, ist es nicht entscheidend, die dazu nötigen Fähigkeiten und Erfahrungen zu haben, sondern es braucht das richtige Geschlecht, die richtige Ethnie oder die richtige Behinderung. Zum liberalen Weltbild gehört das Leistungsprinzip, die Meritokratie. Den Job kriegt, wer dafür am besten geeignet ist, nicht wer am besten in das «woke» Weltbild passt. Da endet meine Offenheit.

Anders als gesellschaftliche Neuerungen schaffen technische Neuerungen in der Regel Mehrwert.1 Kernenergie? Ja, bitte! Grüne Gentechnik? Na klar. Laborfleisch? Her damit! Ein besonderer Fall ist die künstliche Intelligenz. Der Begriff ist irreführend. Intelligenz setzt Bewusstsein voraus. Maschinen können das nicht haben. Was heute künstliche Intelligenz genannt wird, ist das hocheffiziente Bewirtschaften riesiger Datenmengen. Damit droht eine Beeinträchtigung persönlicher Handlungsfreiheit. Da müssen wir Liberalen wachsam sein. Heisst das, wir sollten etwas verbieten? Natürlich nicht. Was man ­verbietet, verhindert man nicht. Man macht es bloss illegal, überlässt es den Gaunern und Ganoven. Siehe Drogen.

Liberale Offenheit ist anspruchsvoll. Welche Neuerungen sind aus liberaler Warte willkommen und welche nicht? Theoretisch ist die Wahl klar: Neuerungen, welche die Entscheidungsfreiheit des Individuums einschränken, sind nicht willkommen. Bloss: Wie verhindern wir sie? Wie gesagt: sicher nicht mit Verboten, sondern mit Argumenten. Heribert Illig hat ein Buch geschrieben, «Das erfundene Mittelalter». Als Nichthistoriker fand ich es interessant. Karl der Grosse als mythische Figur? Originell! Bis zum Kapitel, in dem Illig die Kohlenstoff­datierungen wegdiskutieren wollte. Da bin ich Spezialist, da sprechen die Fakten gegen den Buchtitel.

Argumente können unbequem sein, sogar gefährlich für Menschen, welche sie vertreten. Es braucht Mut, Argumente zu vertreten, die als unpassend, als Tabu gelten.

Liberal denkende Menschen dürfen keine Höseler sein. Man muss für seine Überzeugungen einstehen. Es sind die Hö­seler unter den Liberalen, welche die Freiheit gefährden.

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