Die älteste Idee von
Gerechtigkeit ist die frischeste von allen
Von der Tugend zum Kampfbegriff und zurück.
Früh in meinem Leben dachte ich über die Gerechtigkeitsfrage nach, weil ich meine Mittelschulzeit im Jesuitenkollegium Stella Matutina in Feldkirch verbringen durfte – einem Institut, von dem Thomas Mann einst schrieb, es sei zugleich «Pensionat, Mustergut, Sportakademie, Gelehrtenschule und Musentempel». In dieser wunderlichen scholastischen Welt war Gerechtigkeit ein von Gott vorgegebenes Gesetz, mal streng, mal mild – und besonders streng, gar ungerecht, wenn man morgens um sechs Uhr zusammen mit den Kollegen auf einer harten Kirchenbank kniete.
Der grosse mittelalterliche Denker Thomas von Aquin rezipierte die antike Philosophie für die moderne katholische Scholastik, und dank ihm galt an diesem Institut nicht nur das göttliche Gesetz, sondern auch die Tugendethik des Aristoteles. Dieser sah es als gerecht an, wenn man jedem das Seine gibt. Das «Seine» ist dabei, was einer Person aufgrund ihres Verdienstes zusteht. Die besten Instrumente sollen die besten Musiker erhalten und nicht diejenigen, die dafür am meisten zahlen.
Mit dem Anbeginn der Neuzeit, die für mich erst nach Verlassen des Jesuitenkollegiums begann, zog sich Gott von der Welt zurück. An seine Stelle trat der menschliche Vernunftgeist, woraus neue Konzepte entstanden. Gemäss dem Utilitaristen Jeremy Bentham kam es bei der Verteilung von Gütern einzig auf den Nutzen einer Handlung an und ob diese das grösste Glück für die grösste Zahl fördert. Ganz anders sahen dies wenig später die geistigen Väter des Liberalismus wie John Locke und Immanuel Kant. Bei ihnen standen die Freiheit des Einzelnen, aber auch Rechte, die diese Freiheit absichern, im Vordergrund.
Während meines Studiums in den USA konnte ich das moderne liberale Schisma beobachten: John Rawls entwickelte in den siebziger Jahren die liberale Grundrechtsvorstellung in Richtung egalitärer Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen wie Wohlstand und Chancen. Massgebend ist das Bedürfnis des Einzelnen und das Wohlergehen aller, womit Gerechtigkeit im vertragsrechtlich begründeten und institutionell abgesicherten Umverteilen von Gütern besteht. Zur gleichen Zeit betonte Robert Nozick als gesellschaftspolitisches Gegenmodell den grundrechtlichen Anspruch auf wohlerworbenen Besitz, weshalb gilt: Wenn ich zu stark besteuert werde, dann behandelt mich der Staat wie ein Sklave, was ungerecht ist. Nur der minimale Staat ist gerechtfertigt.
In der heutigen Realität ist der Utilitarismus die De-facto-Antwort der Politiker; diese fördern ganz philosophiefrei das Glück ihrer jeweiligen Wähler. Die Schwäche der utilitaristischen Philosophie ist, dass sie nur auf den Nutzen schaut und die Würde und Freiheit des Menschen ausser Acht lässt. Letzten Endes ist der Utilitarismus nicht viel mehr als eine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse, mit der man fast alles rechtfertigen kann, auch die Zwangsentnahme von menschlichen Organen.
Nozicks «libertärer» Version des Liberalismus fehlt der Gemeinsinn; keine Gesellschaft kann funktionieren, wenn man den Mitmenschen nur die eigene Freiheit und Rechte entgegenhält. Der «egalitäre» Liberalismus von Rawls leitet sich umgekehrt aus einer hypothetischen Übereinkunft aller Bürger ab, die es in den modernen pluralistischen Gesellschaften einfach nicht gibt.
Deshalb ist die älteste der Gerechtigkeitsideen die frischeste von allen, weil sie die Gerechtigkeitsfrage mit der Frage nach dem guten Leben verknüpft, womit ganz konkrete Aspirationen und Verdienste im gemeinschaftlichen Kontext ins Spiel kommen. Nicht zufällig leben wir in einem Zeitalter der Wiederentdeckung von Aristoteles, befördert von kommunitaristischen Philosophen wie Alasdair MacIntyre oder Michael Sandel. Allerdings sind derartige Gemeinschaftsideen an kleinräumliche Gegebenheiten gebunden. Im modernen Staat steht Tugend auf verlorenem Posten. MacIntyre schreibt, dass heutige Politik nicht mehr auf moralischem Konsens beruhe, sie sei vielmehr «Bürgerkrieg mit anderen Mitteln».
Nichts hat das so deutlich gezeigt wie die Diskussion um die 13. AHV-Rente: Immer mehr Leute sehen nur das als gerecht an, was in ihr eigenes Portemonnaie fliesst, und das als ungerecht, was in einem anderen landet. Die Gerechtigkeit verkommt zum emotionalen Kampfbegriff. Als grosser Algorithmus zur Steuerung der modernen Grossgesellschaft hat sie ausgedient, erhalten bleibt sie aber als Tugend, an der man sein eigenes Leben messen mag.