
«Die Polizei sollte nicht darauf fokussieren, was Menschen in sozialen Medien posten»
Die ehemalige britische Innenministerin Suella Braverman will, dass Grossbritannien aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austritt, um die Einwanderung in den Griff zu bekommen. Und sie begründet ihre ambivalente Haltung zu Überwachung und Sicherheit.
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Nach 14 Jahren konservativer Regierung in Grossbritannien liegt die Wirtschaft in Trümmern, der Staat ist grösser geworden und die Einwanderung hat stark zugenommen. Dies führte zur vernichtenden Niederlage der Tories bei der letzten Wahl. Was haben Sie falsch gemacht?
Wir haben auf vielen Ebenen versagt. In zentralen Bereichen haben wir unsere Versprechen nicht eingehalten. Wir versprachen, die Einwanderung einzudämmen, doch stattdessen kam eine beispiellose Zahl von Migranten ins Land. Auch bei der Kontrolle der illegalen Migration sind wir gescheitert. In den letzten Jahren sind 100 000 Menschen in Booten illegal über den Ärmelkanal ins Land gekommen. Auch unser Versprechen tieferer Steuern blieb unerfüllt. Im Gegenteil: Unter der konservativen Regierung stieg die Steuerbelastung auf den höchsten Stand seit 70 Jahren.
Wie würden Sie das Migrationsproblem lösen?
Wir haben es mit einer globalen Migrationskrise zu tun. Während meiner Zeit als Innenministerin traf ich viele europäische Amtskollegen, die alle mit demselben Problem kämpften. Ein Hauptgrund für unsere Schwierigkeiten bei der Kontrolle illegaler Migration liegt in unseren Gesetzen – insbesondere im Human Rights Act, der die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in nationales Recht umsetzt, sowie in anderen internationalen Gesetzen. Die Abschiebung illegaler Migranten scheitert häufig daran, dass sie sich auf Menschenrechte berufen können. Die Menschenrechtsgesetzgebung wurde dabei über die Jahre verzerrt und überdehnt.
Was wäre also die Lösung?
Wir müssen die EMRK kündigen und uns von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte lösen. Zudem gilt es, den Human Rights Act aufzuheben und die Gesetze dahingehend anzupassen, dass bei illegaler Einreise ins Vereinigte Königreich eine schnelle Inhaftierung und Abschiebung möglich ist. Dies muss in Verbindung mit unserer Partnerschaft mit Ruanda geschehen. Eine solche Lösung hat eine abschreckende Wirkung und verhindert, dass Menschen überhaupt erst ins Land kommen.
Könnte Australien als Vorbild dienen?
Die australische Regierung hat bei der Bekämpfung illegaler Migration einige Erfolge erzielt, indem sie illegale Einwanderer nach Papua-Neuguinea brachte. Dadurch wurden Menschen, die hauptsächlich aus Sri Lanka über den Ozean gekommen waren, davon abgehalten, die Bootsreise überhaupt anzutreten.
In Grossbritannien bekommen Leute wie die Journalistin Alison Pearson Besuch von der Polizei, nachdem sie Beleidigungen online gepostet haben. Ist die Meinungsfreiheit in Grossbritannien tot?
Sie ist nicht tot, aber sie ist definitiv in der Krise. Alison Pearson wurde von der Polizei wegen eines «nichtkriminellen Hassvorfalles» aufgesucht und bedroht – nachdem sie völlig legitime und legale Ansichten geäussert hatte. Zwar krebste die Polizei nach einem öffentlichen Aufschrei zurück, aber wie viele Menschen haben schon die privilegierte Position einer bekannten, erfolgreichen Journalistin? Tausende Menschen werden durch diesen übereifrigen Ansatz verfolgt, den ich als «Woke Policing» bezeichnen würde. Hier wird mit zweierlei Mass gemessen: Die Polizei überschreitet ihre Befugnisse bei der Kontrolle von Gedanken und Meinungen. In diesen Bereich sollte sie gar nicht erst eindringen. Sie sollte sich auf Einbrecher, Drogendealer und Gewaltverbrechen konzentrieren und sich nicht darum kümmern, was jemand in sozialen Medien postet.
«Tausende Menschen werden durch diesen übereifrigen Ansatz verfolgt, den ich als ‹Woke Policing› bezeichnen würde.»
Wie konnte es in Grossbritannien so weit kommen? Das klingt wie George Orwells «1984».
Es ist in der Tat orwellisch. Der Grund dafür ist derselbe wie bei unserem Versagen bei der illegalen Migration: eine Kombination aus ausuferndem Staat, Woke-Ideologie, vereinnahmten Institutionen und mangelnder Gegenwehr innerhalb dieser Institutionen. Ein «nichtkrimineller Hassvorfall» bezeichnet etwas, das kein Verbrechen darstellt. Dennoch betrachtet die Polizei es als Problem und erfasst die Daten. Das Konzept entstand Anfang der 2000er-Jahre nach einem tragischen, rassistisch motivierten Mord. In der Folge wurde es auf sämtliche geschützte Merkmale ausgeweitet: nicht nur auf ethnische Herkunft, sondern auch auf Religion, Geschlecht, Geschlechtsidentität, Alter und Behinderung. Schliesslich verkam es zu einer rein subjektiven Bewertung verletzter Gefühle. Es wurde also etwas, das sehr vernünftig begann, im Laufe der Jahre verzerrt, ausgeweitet und gekapert wurde, sodass es nun die Meinungsfreiheit ernsthaft gefährdet. Es ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie wachsam wir gegenüber staatlichen und polizeilichen Übergriffen sein müssen.
Apropos Staat und Polizei: In Grossbritannien kommt eine Überwachungskamera auf elf Menschen. Das Land zählt damit zu den am stärksten überwachten der Welt. Beunruhigt Sie diese «1984»-Dystopie nicht?
Wir müssen eine Balance finden: Einerseits sollen die Bürger vor staatlicher Einmischung und willkürlichen Eingriffen geschützt sein, andererseits muss die öffentliche Sicherheit gewährleistet werden. Als Innenministerin verfolgte ich den Einsatz von Videoüberwachung mit grossem Interesse. Die Technologie ist mittlerweile so ausgereift, dass sie Verdächtige präzise in einer Menschenmenge identifizieren kann. Zwar werden dabei auch Daten unschuldiger Personen erfasst, diese werden jedoch nicht gespeichert. Für die Strafverfolgung ist dies äusserst wertvoll, insbesondere bei der Identifizierung von Verdächtigen wie Terroristen. Wir hatten einige Erfolge durch den umsichtigen und sehr vorsichtigen Einsatz von Videoüberwachung.
Aber wollen Sie wirklich diese Art von Waffe einer «woken» Polizei anvertrauen, sodass diese künftig die Gesichter von Menschen erkennen kann, die «nichtkriminelle Hassvorfälle» begangen haben?
Das ist eine berechtigte Frage. Einerseits kritisiere ich die Polizei für ihre übereifrige, woke Ausrichtung. Andererseits habe ich auch den Einsatz von Videoüberwachung unterstützt. Aber zwei Fehler ergeben noch keine richtige Entscheidung. Wir brauchen eine grundlegende Reform der Polizeiarbeit. Wir brauchen eine Polizei, die sich viel stärker auf die Bekämpfung von Kriminalität und die Prioritäten der britischen Bevölkerung konzentriert, wie Gewaltverbrechen, Drogenhandel, Sexualstraftaten oder Terrorismus – und nicht darauf, was Menschen in sozialen Medien posten. Wenn sie auf diese Dinge fokussiert, dann sollten wir ihr auch jedes Werkzeug geben, um dies möglichst effektiv zu tun.
Die Schweiz und Grossbritannien verhandeln derzeit über eine Modernisierung ihres bilateralen Handelsabkommens. Ihr Parteikollege Daniel Hannan schrieb letztes Jahr in unserer Zeitschrift: «Die möglichen Vorteile eines erweiterten Handelsabkommens zwischen den Dienstleistungssupermächten Grossbritannien und Schweiz sind enorm – nicht nur für die beiden Länder, sondern auch für den globalen Freihandel.» Stimmen Sie zu?
Natürlich. Lord Hannan ist ein grosser Befürworter für die Schweiz in Grossbritannien. Er leitet sogar jedes Jahr die Skireise der britischen Abgeordneten in die Schweiz. Es gibt grosse Gemeinsamkeiten zwischen der Schweiz und dem Vereinigten Königreich – wir haben viele Sektoren mit gemeinsamen Zielen, beispielsweise im Bereich der Finanzdienstleistungen. Politisch pflegt die Schweiz eine gesunde Skepsis gegenüber supranationalen Organisationen, eine Einstellung, die wir in Grossbritannien teilen.
Sollten sich freiheitsliebende Länder wie Grossbritannien, die USA, die Schweiz, vielleicht auch Israel gegen die EU-Bürokratie und gegen die autoritären Regime des Ostens zusammenschliessen?
Wir befinden uns momentan in einem Kampf zwischen Demokratie und Autokratie. Die Welt teilt sich in zwei Lager: Auf der einen Seite steht die westliche Zivilisation mit Rechtsstaatlichkeit, Schutz der Minderheiten, demokratischen Werten und Gleichberechtigung der Frauen. Auf der anderen Seite herrschen Totalitarismus, Tyrannei, Brutalität, Menschenrechtsverletzungen und Extremismus. Ich bin nicht sicher, welche Seite gewinnen wird, denn es gibt immer weniger Demokratien auf der Welt. Die autokratischen, feindlichen Staaten rüsten auf und schliessen sich zusammen. Sie destabilisieren die Demokratien nicht nur durch klassische militärische Kriegsführung, sondern auch durch Cyberangriffe, Spionage und andere Formen der Unterwanderung. Die demokratischen Staaten müssen sich zusammenschliessen, um sich zu verteidigen.
Wie sehen Sie die Schweiz allgemein?
Ich liebe die Schweiz! Ich habe hier viele wunderbare Urlaube verbracht. Das Besondere an der Schweiz ist ihre lebendige demokratische Kultur und die Tatsache, dass sie die Demokratie auf sehr effektive Weise dezentralisiert hat. Die regelmässige Durchführung von Volksabstimmungen hat zu einer bemerkenswert hohen Bürgerbeteiligung geführt. Das ist etwas, von dem wir in Grossbritannien lernen könnten.