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Die politische Ökonomie  des Populismus
Philip Manow, zvg.

Die politische Ökonomie
des Populismus

Der Aufstieg linker und rechter Populisten in Europa hat weniger mit sozialem Abgehängtsein, nackter Dummheit oder politischer Naivität zu tun, als mit den tatsächlichen Souveränitätsverlusten einzelner Staaten und ihrer Ökonomien. Lesen Sie hier die Gedanken des deutschen Politikwissenschafters der Stunde.

Herr Manow, was ist Populismus und wie kann man wissenschaftlich mit diesem Begriff umgehen?
Definitionsfragen haben mich eigentlich immer sehr gelangweilt, beim Populismusbegriff sind sie aber tatsächlich zentral (lacht). Zunächst müssen wir feststellen: «Populismus» ist ein politischer Kampfbegriff; er wird benutzt, um andere zu diskreditieren. Die ak­tuell prominenteste wissenschaftliche Annäherung an das Wesen des Populismus ist denn auch nicht inhaltlicher, sondern «formaler» Natur – sie untersucht Stil und Modus der verschiedenen Populismen, klopft populistische Äusserungen auf Gemeinsamkeiten ab und fasst sie zusammen. Die Politikwissenschafter Cas Mudde und Jan-Werner Müller haben das in den letzten Jahren sehr erfolgreich getan.

Beide waren sich weitgehend einig: Populisten egal welcher Couleur, so ihre Definition, nehmen für sich allein in Anspruch, «das gute Volk» zu vertreten – und geben vor, es in einem Kampf gegen korrupte, «schlechte Eliten» zu unterstützen. Nun muss man allerdings sagen: So ziemlich jeder demokratisch gewählte Politiker vertritt doch im weitesten Sinne «sein Volk»?
Das stimmt. Ralf Dahrendorf hat bereits vor Jahrzehnten zu bedenken gegeben, dass, was dem einen ein «Populist» ist, durchaus dem anderen ein «Demokrat» sein kann. Und dieser Einwand wird aktuell innerhalb der Wissenschaft wieder lebhaft diskutiert: Die Politikwissenschafterin Chantal Mouffe hat Müller und Mudde vorgehalten, dass keine Politik ohne «Wir gegen sie»-Satzungen auskomme, Müllers und Muddes Definition des Populismus also nur die Camouflage einer TINA-«There Is No Alternative»-Politik sei. Ganz unrecht hat sie nicht: Wenn alles, was links und rechts etwas polemischer daherkommt, als «populistisch» gilt, adelt man damit umstandslos die «Mitte» als einzig «vernünftig». Das ist dann selbst eine politische Position, keine Definition. Trotzdem kann man mit der formalen Definition des Populismus erst mal arbeiten. Zentral sind der Volk-Elite-Antagonismus – Müller – und die Feststellung, dass Populisten stets durch «dünne Ideologien» zusammengehalten werden, «die sich mal mit Strömungen auf der Linken und mal auf der Rechten verbinden» – Mudde. Kombiniert man beides, hat man eine Formel, die das ganze Phänomen über die Struktur und die Argumentationsmuster definiert.

Sie wählten dennoch einen anderen Weg, um dem Phänomen wissenschaftlich beizukommen, indem Sie diese und andere Populismusthesen aus Wissenschaft, Politik und Feuilleton mit statistischen Daten abglichen. Dabei stellten Sie fest, dass die eher kulturalistischen Definitionen den Populismus zwar definieren, aber seinen Erfolg damit nicht erklären können. Was fiel Ihnen ganz konkret auf?
Zunächst, dass die zeitgeistige Populismusforschung viele steile Thesen in die Diskussion wirft, ohne dass man sie empirisch überprüfen könnte. Heute kann jeder, der irgendeinen Zusammenhang eines Phänomens zum Populismus feststellt, diesen postwendend zur Universalerklärung aufblasen und erntet grosses Echo; ob sie empirisch wirklich eine Rolle spielt, ist nachrangig. Ich begann also zu falsifizieren, denn das war einfacher, als zu verifizieren. Und stellte bald fest, dass der wissenschaftliche Umgang mit dem Populismus in Europa fast immer einem «Selektions-Bias» unterliegt. Das bedeutet etwa: Weil man sich fast nur mit dem Rechtspopulismus beschäftigte, vergass man, die südeuropäischen Länder zu untersuchen…

…weil es dort lange gar keinen landesweit einflussreichen Rechtspopulismus gab, bevor die italienische «Lega Nord» zur «Lega» wurde?
Genau. Selbst die empirisch solide Forschung zum Thema tendierte also dazu, «den Rechtspopulismus aus dem Rechtspopulismus» zu erklären. Das ist in etwa so, als würden Sie, um das Wahlverhalten von Frauen zu erklären, eben nur das Wahlverhalten von Frauen anschauen. Den Erstsemestern bringt man zwar bei, dass eine solche Erklärung zwingend einen Vergleich mit dem Wahlverhalten von Männern erfordert – in der Populismusforschung leistete man es sich aber jahrelang, eben nicht festzustellen, dass genau die Gesellschaftsgruppen, die man in Ländern mit Rechtspopulismus als Trägerschichten identifiziert hatte, in anderen Ländern, die eben keinen starken Rechtspopulismus kennen, gar nicht rechtspopulistisch, sondern häufig linkspopulistisch wählen. Für mich beginnen die spannenden Fragen eigentlich erst nach den Definitionen von Mudde und Müller: Warum genau verbindet sich Populismus denn mal mit linker, warum mal mit rechter Politik?

«Sagen wir es offen: Viele demokratisch gut legitimierte Regierungen

haben das Heft nicht mehr in der Hand.»

Ihre Antwort ist, etwas populistisch formuliert: It’s the economy, stupid!
Meine Erklärung stellt zumindest auf die jeweiligen Wirtschaftsmodelle ab. Spätestens mit der Eurokrise ab 2010 trat ja ins allgemeine Bewusstsein, dass die politischen Ökonomien im Norden und im Süden der EU gänzlich verschieden sind. Klar ist: EU-weit müssen sie zwar mit denselben Globalisierungsschocks umgehen, werden aber unterschiedlich davon getroffen – und reagieren dann auch politisch sehr unterschiedlich. Im Prinzip sprechen wir beim aktuellen Populismusphänomen über zwei Schocks: Der eine ist ein Güter- und Kapital-Globalisierungsschock, der andere ist ein Personen-Globalisierungsschock, sprich: Einwanderung. Der erste trifft den Süden mit seinen meist nachfrageorientierten Ökonomien mit traditionell bis anhin weichen Währungen empfindlich, der zweite den Norden mit seiner Exportorientierung und der für Wachstum nötigen, hochspezialisierten Arbeitsmärkte und Sozialsysteme. Der erste manifestierte sich in der «Eurokrise», der zweite in der «Flüchtlingskrise». Die erste ist ein Produkt des Verlusts der Souveränität über Währungs- und Fiskalpolitik, die zweite ein Produkt des Souveränitätsverlusts an den Innen- und Aussengrenzen der EU. Im ersten Fall können die Südländer nicht mehr souverän über die Währung, ihre Abwertung, oder über fiskalische Stimuli entscheiden, im zweiten Fall die Nordeuropäer nicht mehr über die Einwanderung in den Arbeitsmarkt oder in die Sozialsysteme. Im Norden sorgt das für starken Zulauf bei den Rechtspopulisten von Wilders bis Gauland, im Süden bei den Linkspopulisten von Tsipras bis Iglesias oder Di Maio.

Und überall versprechen sie das gleiche: die Rückgewinnung der Kontrolle auf nationalstaatlicher Ebene. «Souveränität» wird zur «semantischen Brücke», über die linke und rechte Populisten Hand in Hand in die Parlamente schreiten.
So ist es. Das eine Mal ist es eher Fiskalsouveränität, das andere Mal eher Grenzsouveränität.

Bleiben wir kurz bei diesem neuen Phänomen, das ja nicht nur die Südländer betrifft, diese aber besonders: Linke und rechte Protest­parteien vereinigen in Italien aktuell 60 Prozent der Wählerstimmen auf sich, bilden gar eine Regierungskoalition. Und in Frankreich toben sich die «Gilets jaunes» – dabei Seite an Seite: Antisemiten und schwarzer Block – auf den Prachtboulevards von Paris aus. Haben diese «Allianzen» denselben Hintergrund?
Das ist zumindest die weitgehend übereinstimmende Deutung dieser Phänomene in der aktuellen politikwissenschaftlichen Debatte. Die identifiziert eine neue dominante Spaltungslinie, die in den Parteiensystemen Europas nicht mehr nach dem alten Schema links – «Mehr Staat!» – oder rechts – «Mehr Markt!» – verläuft. Sie wird vielmehr in der Beantwortung der Frage nach der Souveränität festgelegt. Die neuen Pole sind dann europäische Integration vs. nationale Demarkation oder Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus. Anywheres, die sich mit dem Absterben nationalstaatlicher Souveränitäten zugunsten universaler Rechtsverhältnisse abfinden können, stehen Somewheres, die lokale Verwurzelung für sinnvoll halten, gegenüber. Meine Interpretation geht dabei von den jeweiligen ökonomischen Verteilungsfolgen dieser Souveränitätsverluste aus, die Literatur hingegen stellt das oft eher als einen neuen Kulturkampf zwischen toleranten und nicht so toleranten Mitbürgern dar, was ich weder politisch für sonderlich hilfreich noch für sonderlich erklärungskräftig halte. Die von den Protestparteien beklagten Souveränitätsverluste sind jedenfalls nicht eingebildet.

Woran denken Sie hier konkret?
Auf einer grundlegenden Ebene geht es natürlich auch um demokratische Selbstbestimmung. Nehmen Sie Grossbritannien: Dort existiert das schöne Prinzip der Parlamentssouveränität, und wenn das House of Commons – demokratisch gut legitimiert – ein Gesetz beschliesst, etwa dass Häftlinge ihr Wahlrecht verwirken können, das aber danach vom EuGH oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einkassiert wird, ob mit gutem Grund oder nicht, erzeugt das natürlich die Frage nach der Legitimation dieser überstaatlichen Instanzen. Das Demokratiedefizit der EU ist ja altbekannt.

Moment: Es gibt eine ganze Reihe von Anwärterländern, die gern dazugehören würden, und weder ins Eurosystem noch in die EU hat man die Länder, die schon beigetreten sind, gezwungen. Der Entscheid mitzutun, die Vorteile zu geniessen, aber auch die Kröten zu schlucken, wurde auf nationalstaatlicher Ebene demokratisch gefällt.
Nun, als der EuGH in mehreren bahnbrechenden Entscheidungen in den 1960er Jahren den Vorrang und die Direktwirkung des Europarechts postulierte, war das auf keinerlei demokratische Willensentscheidung irgendeines europäischen Mitgliedslandes zurückzuführen. Es war eine Art Selbstermächtigung des EuGH, mit der er eine Konstitutionalisierung der Verträge betrieb und damit die in ihnen festgeschriebenen Freiheiten quasi unabänderlich gemacht hat. Dass auch ansonsten Ministerrat und EU-Parlament schwach demokratisch legitimiert sind, ist seit langem bekannt und wurde lange hingenommen. Aber mit der enormen Intensivierung der Integration ab den 1990er Jahren – Maastricht, Schengen, Euro – ist dieses Arrangement politisch umstrittener geworden. Sagen wir es offen: Viele demokratisch gut legitimierte Regierungen haben das Heft nicht mehr in der Hand. Sie können ihre Grenzen nicht mehr schützen, sie können keine eigene Währungspolitik mehr betreiben, haben nur wenig fiskalpolitischen Spielraum, sie können ihre Sozialsysteme den neuen Realitäten der europäischen Binnenmigration nur mit viel Mühe anpassen. Klar: Der Wohlstand ist gestiegen, in vielen nationalen Ökonomien und auch im europäischen Schnitt. Aber alles das mit deutlicher gewordenen Verteilungseffekten – einige gewinnen, einige verlieren, und die, die verlieren, artikulieren sich momentan lautstark.

Interessant sind in dieser Hinsicht die kürzlich laut gedachten, weiteren Integrationsschritte von Emmanuel Macron. Er schlägt vor, noch mehr europäische Agenturen, Gremien und Behörden zu schaffen, um die Probleme der EU – er benennt viele richtig – auf suprastaatlicher Ebene anzugehen. Was tough klingt, ist eigentlich «more of the same» und also nicht besonders erfolgversprechend, vor allem wenn wir auf die Souveränitätsdiskussion schauen, oder?
Ich glaube nicht, dass «am französischen Wesen» auch «Europa genesen» wird. Mehr Beamte, mehr staatliche Agenturen, ein Euro- und ein Sozialbudget, mehr Umverteilung und mehr überstaatliche Handlungsspielräume, einschliesslich der Kompetenz, Konzerne zu verbieten: Das ist eine sehr französische Vision des «ever closer», die als Antwort auf die anwachsende EU-Skepsis eher überrascht.

Vor allem in Zeiten des ewigen Brexits, der den Briten als «letzter Ausweg» präsentiert wurde. Ganz ehrlich: Wäre es nicht an der Zeit, auch klare Regeln des Rückbaus wenigstens einmal zu denken, um die Fliehkräfte nicht zu verstärken, sondern abzuschwächen?
Der Brexit zeigt tatsächlich, wie enorm schwierig es ist, Integrationsschritte wieder zurückzunehmen – und dabei ist Grossbritannien noch nicht einmal Mitglied im Euroverbund. Aber was heisst das dann politisch? Der bisherige Modus, also das Abwarten in der Hoffnung, dass durch die schwere Strukturkrise sich die südeuropäischen Länder schon irgendwann an ein «Hartwährungsregime» angepasst haben werden, ist politisch wenig nachhaltig. Es droht der politische Backlash – Italien scheint das beste Beispiel dafür.

Dort sitzt aber doch mit Cinque Stelle nicht nur eine linkspopulistische Partei in der Regierung, sondern mit der Lega auch eine rechtspopulistische Partei. Wie erklären Sie das?
In Italien finden wir im «Kleinen» vor, was für Europa im «Grossen» gilt: Der Populismus im Süden ist tendenziell links, der Populismus im Norden ist tendenziell rechts. Die Lega hat sich in kurzer Zeit von einer ethno-regionalistischen zu einer «gewöhnlichen» rechtspopulistischen Partei gewandelt und erreichte bei den letzten Parlamentswahlen 17 Prozent der italienischen Stimmen. Cinque Stelle, eine Art grün-libertäre, linkspopulistische Bewegung, kam auf 32 Prozent. Die Lega war bislang im Norden erfolgreich, Cinque Stelle im Süden. In meiner Erklärung liegt das daran, dass Italien ein klassischer Fall von einem Staat mit zwei verschiedenen Ökonomien ist. Im Mezzogiorno finden wir eine Mischung aus informeller Ökonomie und Abhängigkeit von staatlichen Transfers. Von der Exportökonomie des Nordens mit vielen kleinen und mittelständischen, sehr kompetitiven und produktiven Unternehmen ist sie grundverschieden. Damit einher gehen dann unterschiedliche Interessen: Der Norden will weniger Steuern zahlen, weil man dort weiss, wo sie am Ende hingehen, nämlich in den unproduktiveren Süden. Der Süden will hingegen genau diese Transfers. Nur so kommt dann auch der «grosse panpopulistische Kompromiss» zwischen Lega und Movimento zustande: Der Süden bekommt das Grundeinkommen, der Norden Steuersenkungen bzw. eine Steueramnestie. Die Rechnung präsentiert man dann Brüssel als Verletzung der Maastricht-Kriterien.

«‹Populismus› ist ein politischer Kampfbegriff;

er wird benutzt, um andere zu diskreditieren.»

Aber die Migrationsprobleme, die Italien hat, existieren doch vor allem im Süden, auf Sizilien, Lampedusa. Wieso ist die Lega, die das Thema nun landesweit thematisiert, dann hier nicht stärker?
Natürlich spielt das Migrationsthema in Italien eine Rolle, aber auch damit gehen die Ökonomien unterschiedlich um: Im Süden liessen sich Migranten schon immer viel leichter in die informelle Ökonomie integrieren als im Norden, zugleich ist der Sozialstaat, der in Italien im wesentlichen eine lokale Veranstaltung ist, im Süden nur sehr schwach entwickelt. Für den Norden stellt sich das anders dar: Nach der Flüchtlingskrise von 2015 wurde die Sekundärmigration Richtung Nordeuropa erschwert. Seither drohen die ankommenden Migranten vornehmlich im Land zu bleiben, was den Norden, wo sie sich stauen und die Ökonomie viel weniger informell ist als im Süden, stärker unter Druck setzt. Das heisst: Dort schwillt der Rechtspopulismus weiter, im Süden existiert er bislang kaum.

Testen wir Ihren Befund noch in Griechenland: Die Konstellation an der dortigen Regierungsspitze ist mit der linkspopulistischen Syriza und den rechtspopulistischen «Unabhängigen Griechen» – «Anel» – ähnlich, nur noch radikaler. Aber ein Wohlstandsgefälle oder grössere Wirtschafts- und Kulturunterschiede wie zwischen dem Mezzogiorno und Norditalien gibt es hier nicht.
Zunächst: Anel würde ich nicht als Rechtspopulisten bezeichnen, sondern als gewöhnliche rechtsextreme Partei. Aktuell rangiert die Partei in Umfragen unter zwei Prozent, der griechischen Wahlhürde. Wir haben es also mit einer Kleinst- und Splitterpartei zu tun, die zwar inhaltlich sehr radikal ist, aber in der Regierung Tsipras nur als nützliche Mehrheitsbeschafferin dient, mehr nicht. Wir haben es hier, wie in vielen anderen südeuropäischen Ökonomien, mit Klientelismus zu tun, nicht aber mit zwei grossen populistischen Fraktionen, die für die gegensätzlichen Wünsche und Ansprüche aus verschiedenen Ökonomien unter dem Dach ein- und desselben Nationalstaats stehen. Anel kriegt ein paar politische Ämter, Dienstwagen, Angestellte – und dafür nicken sie mehr oder minder ab, was Tsipras will. Solche und ähnliche rechtsextreme, teils offen neofaschistische Parteien sind überall in Europa, vor allem aber im Süden, reine Randphänomene. Mit dem Aufstieg der rechten Populisten haben sie nichts zu tun.

Weniger klar ist die Sache auch, wenn wir die Populisten Ost- und Westeuropas vergleichen. Was lässt sich dazu sagen?
Auf der Ost-West-Achse hängen der Brexit und die Abwanderung aus den Ländern Osteuropas eng zusammen: Der Brexit war stark beeinflusst von der enormen Zuwanderung aus Osteuropa nach der Osterweiterung der EU – die Flüchtlingskrise des Kontinents, von der Grossbritannien ja durch seine geografische Lage kaum betroffen war, wirkte als eher längerfristiges Bedrohungsszenario. Osteuropa hingegen hat entsprechend nicht mit Immigration, sondern mit Emigration zu kämpfen. Aber der populistische Protest in Osteuropa mobilisiert eher die Transformationsverlierer, also diejenigen der Landbevölkerung oder aus den alten schwerindustriellen Zentren, die von der enormen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft weniger profitiert haben.

Bis vor wenigen Jahren jubelte man angesichts dieses endlich möglichen Austauschs: Endlich war der Ostblock frei! Dass sich in England der rechtspopulistische Protest nun gerade in einer stark liberalisierten, spezialisierten Ökonomie gegen die Öffnung des Arbeitsmarkts für Geringverdiener stellt, ist so merkwürdig wie bedenklich.
Dass Zuwanderung in einen sehr flexibilisierten Arbeitsmarkt in den unteren Lohnsegmenten Ängste auslöst, finde ich nicht so überraschend. Und in Osteuropa ist der Protest aus meiner Sicht die Langfristfolge eines Globalisierungsschocks, den diese Länder schon zwanzig Jahre vor allen anderen EU-Ländern verkraften mussten, als sie aus dem kommunistischen System radikal ein kapitalistisches machen mussten.

Zwischen Polen und Grossbritannien liegt dann ziemlich viel Deutschland. In Ihren Studien zur dortigen Situation beschäftigen Sie sich sehr stark mit der AfD…
…denn sie ist ein Paradebeispiel für die Entwicklung rechtspopulistischer Parteien! Untypisch ist nur die hohe Geschwindigkeit, in der sie sich vollzogen hat.

Bitte erläutern Sie das.
Angefangen hat die AfD als biederer, ordoliberaler Protest gegen Merkels Eurorettungspolitik. Dabei war sie, ähnlich wie früher der Front National, die PVV von Wilders in den Niederlanden oder die Dänische Volkspartei, zunächst wirtschaftsliberal. Das trifft ganz übereinstimmend für frühere rechtspopulistische Gründungen zu, die zunächst häufig «Steuerrebellion» als Thema hatten und insbesondere einen Teil des Kleinbürgermilieus mobilisierten. Diese Parteien kombinierten also zunächst wirtschaftsliberale Positionen mit stark entwickeltem Wertekonservatismus. Seit einiger Zeit wandelten sie sich aber alle zu deutlich umverteilungsfreundlicheren, ökonomisch also «linkeren» Parteien: Sie lehnen Umverteilung nicht mehr ab, sondern vertreten eine Art Wohlfahrtsstaatsnativismus: Umverteilung, ja bitte, aber nicht für Einwanderer. Das ist eine eher linke Wirtschaftspolitik, die sich mit einer radikaleren Antieinwanderungspolitik verbindet.

Damit werden diese Parteien paradoxerweise gerade für das ehemalige sozialdemokratische Wählerbiotop interessant: die Industriearbeiterschichten und den unteren Mittelstand.
Ganz genau.

In der Schweiz ist diese Bewegung schon fortgeschritten: Viele Fabrikarbeiter und KMU-Angestellte wählen heute SVP, nicht mehr das sozialdemokratische Original. Ist dieser «Shift» die eigentliche Erklärung für die momentane Schwäche der Sozialdemokraten?
Durchaus! Das spiegelt eben den Wandel der Klientel der rechtspopulistischen Parteien wider – zunehmend weg vom Kleinbürgertum, hin zu den Arbeiterschichten, die von den neuen Sozialdemokraten mit ihrem gutsituiert-urbanen Wählermilieu nicht mehr repräsentiert werden. Der Politikwissenschafter Herbert Kitschelt nannte es in den 1990er Jahren noch eine «Winning Formula», sozial und kulturell konservativ, dabei aber ökonomisch liberal zu sein. Rechtspopulistische Parteien sind heute viel erfolgreicher, wenn sie sozial und kulturell sehr konservativ sind, aber ökonomisch eher links. Wenn Sie sich die Wählerwanderungen nach der deutschen Bundestagswahl 2017 hin zur AfD anschauen, so stellen Sie fest, dass es nicht stimmt, dass sich die Partei nur über den Zulauf enttäuschter Konservativer – sprich: von der Merkel-CDU Vernachlässigter – rekrutiert: 1,3 Millionen Stimmen kamen von vormaligen Nichtwählern, 1 Million von ehemaligen CDU-Wählern – aber aus dem linken Spektrum, also von ehemaligen SPD-, Linkspartei- und Grünen-Wählern, kamen genauso viele. Ein deutlich grösserer Teil ehemaliger CDU-Wähler, nämlich 1,3 Millionen Bürger, hat übrigens 2017 die FDP gewählt.

«Wie sich die rechtspopulistischen Parteien von Kleinbürgerparteien

zu neuen Arbeiterparteien entwickeln, entwickeln sich die

Sozialdemokraten von Arbeiter- zu Mittelschichtsparteien

mit Reformagenden, die nicht unbedingt im Interesse der

klassischen Arbeitsmarktinsider sind.»

Die Linkspartei, als linke populistische Kraft, hat bei den letzten deutschen Wahlen in Ostdeutschland mit 400 000 Stimmen einen grossen Teil ihrer Wähler an die AfD verloren. Warum?
Nun, ursprünglich war die PDS eine Regionalpartei als Interessenvertretung des Ostens. Nach 2005 entwickelte sie sich zur Linken als gesamtdeutschem Protest gegen die Agenda 2010. Aber ihrer Wählerschaft, die eben genau diese Kombination – viel Sozialstaat, aber wenig Migration – wünscht, hatte sie in der Flüchtlingskrise nichts anzubieten. Das verwundert nicht, denn es waren Fragen berührt, mit denen sich die Linke aus ideologisch-programmatischen Gründen schwer tut.

Flüchtlings- und Migrationspolitik.
Genau. In der Linkspartei hat sich die kosmopolitische No-Border-Fraktion durchgesetzt, und alle Versuche, das aufzulockern, werden relativ schnell innerparteilich abgebügelt, wie man am Schicksal von Sahra Wagenknechts «Aufstehen»-Bewegung sehen konnte. Der Zielkonflikt, gerade auf den Arbeitsmärkten für Geringqualifizierte, ist offensichtlich. Viele Wähler, die im Protest gegen die SPD-Agenda 2010 der Linken einmal zugeflossen waren, waren doch 2015 nicht unbedingt damit einverstanden, dass die Linkspartei auf Regierungslinie war. Als Alternative präsentierte sich nur die AfD. Das ist übrigens kein deutsches Phänomen: Den Sozialisten in Frankreich und der SP in der Schweiz geht es genauso. Wie sich die rechtspopulistischen Parteien von Kleinbürgerparteien zu neuen Arbeiterparteien entwickeln, entwickeln sich die Sozialdemokraten von Arbeiter- zu Mittelschichtsparteien mit Reformagenden, die nicht unbedingt im Interesse der klassischen Arbeitsmarktinsider sind: in Deutschland die Agenda 2010, in Schweden «Make Work Pay», in Dänemark die «Social Investment»-Reform.

In Ihrem neuen Buch haben Sie ganz konkret untersucht, wer AfD wählt. Die vielzitierten politisch, ökonomisch oder sozial «Abgehängten» der Globalisierung, die laut populärer Narration besonders affin für populistische Positionen sein sollen, sind es nicht, haben  Sie herausgefunden. Wer ist es dann?
Die «Modernisierungsverlierer»-These hat ja auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität: Das Prekariat begehrt auf, weil die neue, globale Konkurrenz besser oder günstiger ist als es, und wenn nicht beides, dann immerhin letzteres! Aber ich bin skeptisch, diesen Zusammenhang überall zu vermuten. Auf die USA scheint das ein Stück weit zuzutreffen, wenn Sie die Trump-Wahl anschauen, auch beim Brexit-Entscheid ist der grosse Einfluss des «abgehängten Nordens» von England nicht von der Hand zu weisen. In Deutschland allerdings stimmt sie empirisch nicht, ganz im Gegenteil: Aktuelle Arbeitslosigkeit korreliert in der Bundestagswahl 2017 negativ mit der Zustimmung zur AfD. Das heisst, dort, wo die Arbeitslosenquote überdurchschnittlich ist, schneidet die AfD unterdurchschnittlich ab. Das eben begründet mein Argument, dass wir es hier eher mit dem Protest von Arbeitsmarkt­insidern zu tun haben, die aufgrund der Sozialstaatsreformen der jüngeren Vergangenheit ohnehin schon von recht rapidem Statusverlust bedroht sind, und diese Statusprobleme durch die Flüchtlingskrise aktualisiert wurden.

Wie sieht es mit dem vom Geografen Christophe Guilluy – in seinem in Frankreich sehr populären Buch «No Society» – behaupteten Zusammenhang zwischen «geografischem Abgehängtsein» und populistischem Wahlerfolg aus?
Auch hier würde ich zwischen Ländern differenzieren. Es mag sein, dass es im zentralistischen Frankreich eine Rolle spielt, ob sie in peripheren Gegenden mit schlechter Infrastruktur leben und protestwählen – in Deutschland hat sich das in unseren Daten nicht gezeigt, das heisst wieder: kein Alleinerklärungsmodell. Im Gegenteil: Die AfD feiert vor allem in Gegenden und Bundesländern wie Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen. Das sind alles hochintegrierte Bundesländer, wirtschaftlich bestens aufgestellt, enorm globalisiert: Hier produzieren die Weltmarktführer – und alle profitieren davon, denn die Arbeitslosenquoten sind niedrig, die Infrastruktur ist sehr gut. Das ist also die kompetitive, aber eigentlich heile Welt und eine alles andere als abgehängte Peripherie.

Das gute alte deutsche Wirtschaftsmodell in a nutshell. Zusammengefasst muss man also sagen: Die Erfolgreichen wählen AfD und nicht die «Arbeitsmarkt-Outsider», wie Sie sie im Buch nennen?
Es sind nicht zwingend die Erfolgreichen, aber immerhin die Arbeitsmarkt-Insider: jene, die im alten industriellen Modell der Bundesrepublik angestellt waren und sind. Das sind aber auch die, die den Globalisierungsdruck am stärksten spüren und die sich als sozialstaatlich nicht mehr abgepuffert empfinden, wenn etwa ein Joe Kaeser vor die Mikros tritt und sagt: «Das Turbinenwerk in Görlitz wird geschlossen!» Der Weg vom Insider zum Outsider ist also potentiell sehr kurz geworden. Nach 12 Monaten sind sie dann auf Hartz IV. Dieser Kulturwandel von abschmelzender Statusprotektion bei ständiger Erhöhung der Volatilität, den man aus ökonomisch-wettbewerbspolitischen, mithin liberalen Gründen prinzipiell gutheissen kann, sorgte in Kombination mit einer nie dagewesenen Migrationskrise für zum Teil heftige Gegenreaktionen – das ist zumindest meine Interpretation des Geschehens und der Daten, die ich ausgewertet habe.

Also ist es die mit relativem Erfolg verbundene Abstiegsangst, die den Ausschlag gibt, nicht der Abstieg selbst?
Dafür spricht vor allem, dass in der letzten Bundestagswahl nicht Arbeitslose, sondern Wählerinnen und Wähler mit vergangenen Arbeitslosigkeitsepisoden statistisch besonders stark dazu neigten, AfD zu wählen. Insofern würde ich sagen: Es sind nicht nur diffuse Ängste, die hier eine Rolle spielen, sondern nachvollziehbare Kalkulationen.

Konkreter?
Die Verunsicherung darüber, was der Staat heute und morgen anbietet und was nicht, ist einfach recht gross geworden. Wenn die Regierung nicht plausibel erklären kann, wie sie eine hohe Zahl an Einwanderern ohne passende Qualifikation in einen hochgradig spezialisierten, kompetitiven Wirtschaftsstandort integrieren will, so muss man feststellen, dass die Bürger auf ein «Wir schaffen das» mit der Frage nach dem «Wie?» reagieren. Auf diese Frage ist ja keine Antwort gegeben worden.

Wenn man nun Ihre Forschung progressiv wenden will: Welches Angebot müssten die etablierten den Wählern populistischer Parteien machen, um sie zurückzugewinnen?
(Lacht) Das nenne ich mit Rio Reiser die «All das, und noch viel mehr, würdʼ ich machen, wenn ich König von Deutschland wär!»-Frage. Politik funktioniert so leider nicht. Wenn es die einfachen Lösungen für unsere Probleme gäbe, so hätten wir diese ja schon längst…

Aber?
In bezug auf die Frage von Souveränität und Souveränitätsverlust: Politiker und Kommentatoren, die eine immer weitere Delegation von Kompetenzen fordern, verfolgen eigentlich ein recht radikales Projekt – und wer nach diesem «Immer und immer mehr Europa»-Schema vorgeht, wird wohl die Frustration vieler Bürger eher erhöhen. Der deutsche Verfassungsrechtler Dieter Grimm hat recht, wenn er meint, dass immer mehr Europa auch immer weniger nationalstaatliche Demokratie bedeute. Denn wenn das, was auf europäischer Ebene entschieden wird – von der mit Ma­cron anvisierten Haftungsunion über den «europäischen Finanzminister» bis zum flächendeckenden Mindestlohn –, nicht über eine hinreichende demokratische Legitimation der Einzelstaaten verfügt, muss die Entwicklung irgendwann auf Kosten der demokratischen Legitimation der Einzelstaaten zurückwirken. Somit unterminiert Europas Demokratiedefizit auch demokratische Verantwortlichkeiten auf nationalstaatlicher Ebene.

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Am 24. Dezember 1968 schoss William Anders aus der Apollo 8 eines der ersten farbigen Bilder der Welt aus dem All. Die neue Perspektive war zugleich der Beginn mondialistischen Denkens unter dem Motto «One planet, one society». Bild: NASA Commons.
Eine Einführung:
Wie wollen wir zusammenleben?

Über den uralten und doch sehr aktuellen Widerstreit von mondialistischen und souveränistischen Gesellschaftsmodellen.

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