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Die Politik ignoriert die Realität
Corinne Bähler, zvg.

Die Politik ignoriert die Realität

Wenn es ums Essen geht, überbietet sich die Politik mit gutgemeinten Ideen – mit oft ­schädlichen Nebenwirkungen für Tiere und Menschen. Das zeigt sich exemplarisch beim ­Umgang mit Antibiotika für Tiere.

In der Schweizer Landwirtschafts- und Ernährungspolitik zeigt sich vermehrt das gleiche Muster: Die Behörden verfolgen gutgemeinte Ideen, die jedoch an der Komplexität der Wirklichkeit scheitern. Beispielhaft dafür steht der Umgang mit Antibiotika beim Tier. Aus dem nachvollziehbaren Bestreben, Resistenzen zu verhindern und Menschenleben zu retten, ist eine Eigendynamik entstanden, welche die Folgen für Tiere und ihre Betreuer weitgehend ignoriert.

Rund 50 Jahre nach der Entdeckung des Antibiotikums Penicillin und seinem unvergleichlichen Erfolg bei der Bekämpfung von bakteriellen Erkrankungen bei Mensch und Tier kamen die Antibiotika in den 1990er-Jahren zunehmend in Verruf. In der inländischen Fleischproduktion wurde das Zufüttern von antibiotischen Leistungsförderern 1999 verboten. Antibiotika und die mögliche Resistenzbildung von Bakterien wurden zu einem grossen medialen Thema.

In der Schweiz erschien 2015 der «Strategiebericht gegen Antibiotikaresistenzen» für die Bereiche Humanmedizin, Veterinärmedizin und Umwelt. Noch im gleichen Jahr wurde im Bereich Veterinärmedizin das Nationalfondsprojekt NFP72 mit einem Finanzrahmen von 20 Millionen Franken lanciert; vier Jahre danach folgte eine nationale Antibiotikadatenbank, obwohl der Einsatz von Antibiotika in der Veterinärmedizin im vorangegangenen Jahrzehnt bereits um 50 Prozent reduziert worden war. Zwar gab es zahlreiche Einwände von Akteuren, die mit den Verhältnissen in der Praxis vertraut sind – Nutztierärzte, Tierhalter und Landwirte –, hinsichtlich der Zielführung und Effektivität sowie des enormen Administrationsaufwands und der steigenden Kosten. Diese wurden jedoch mit der Drohung zum Schweigen gebracht, Tierärzten die Abgabe von Medikamenten zu verbieten.

Im Nutztierbereich müssen für eine erfolgreiche Behandlung eine Vielzahl von Kriterien wie zum Beispiel das Alter des Tieres, das Krankheitsstadium, die Witterungseinflüsse, die Haltungsbedingungen sowie die möglichen Ressourcen von Tierhalter und Tierärztin in einem sinnvollen Gleichgewicht stehen. Auch die besten Vorschriften können diese Abwägungen in der Komplexität der Wirklichkeit unmöglich ersetzen. Zumal sie in aller Regel weit weg von diesen Spannungsfeldern und den praktischen Konsequenzen erlassen werden.

Nebst den gesetzlichen Vorgaben gelten Leit- und Richtlinien für den Antibiotikaeinsatz als zunehmend verbindlich, strafrechtliche Ahndungen werden angestrebt. Viele dieser Vorgaben schränken die Arbeit an den tierischen Patienten ein. Die Komplexität tierärztlich richtiger und angemessener Entscheidungen in der Praxis wird auf einzelne Parameter reduziert. So muss zum Beispiel Krankheit A mit Medikament B behandelt werden, unabhängig davon, wie schlecht es dem Patienten geht, wie alt er ist und welche Umstände herrschen.

Das Narrativ und seine negativen Folgen

Die Massnahmenpakete zur Bekämpfung von antibiotikaresistenten Erregern basieren auf Hochrechnungen eines möglichen Risikos, die von der WHO unterstützt werden. Trotz hypothetischer Berechnungen setzen sich in den Medien fixe Zahlen von Millionen zu erwartenden Todesfällen bei Menschen fest. Ist dieses Narrativ erst einmal etabliert, setzt sich ein weitgehender Automatismus in Politik, Verwaltung und Forschung in Gang, der die Notwendigkeiten dieses Narrativs bedient – nicht selten zum persönlichen Nutzen der beteiligten Akteure: Es winken Sitzgewinne, höhere Budgets, neue Posten, Privilegien und Forschungsaufträge, welche in ihrer Auswahl die von den Medien erhobenen Glaubensinhalte stützen und bestärken.

Die so entstandene Eigendynamik übt auf Politik und Verwaltung systembedingt einen Druck aus, das erwartete Narrativ zu bedienen und dabei allfällige Kritik von Direktbetroffenen wie Tierhaltern, Tierärzteschaft und Landwirten zu missachten. Diesem Druck ist schwer zu widerstehen. Auch der universitäre Erkenntnisprozess scheint sich diesen Zwängen immer weniger entziehen zu können. Die Abhängigkeit von öffentlichen und privaten Geldern sowie zunehmend auch von der öffentlichen Meinung führt zu einem Anpassungsdruck, der eine neutrale Evaluation angewandter Modelle verunmöglicht und so den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess verhindert.

Diese Tendenz zeigt sich auch darin, dass qualitative und quantitative Erfolgskontrollen zu den Massnahmenpaketen, wie sie für jeden wissenschaftlichen Prozess essentiell sind und für politische Entscheide zu erwarten wären, weitgehend fehlen. Die durchaus vernünftige Annahme, dass von Tieren erworbene antibiotikaresistente Erreger auf Menschen übertragen werden können, sagt noch nichts darüber aus, in welchem Ausmass das tatsächlich geschieht und wie lebensbedrohlich diese Erreger für Menschen sind. So bleiben die eigentlich wichtigsten Fragen, welche die Eingriffe in hochkomplexe und verletzliche Themengebiete begleiten sollten, unbeantwortet. Nach Jahren mit hohen Investitionskosten müssten wissenschaftlich belegbare Zahlen zeigen, ob und wie viel Leid beziehungsweise Todesfälle bei Menschen verhindert werden konnten und ob die zu Beginn gehegten Befürchtungen gerechtfertigt waren.

Auf der Anwenderseite haben die getroffenen Massnahmen nebst allgemeiner tiefer Verunsicherung bei einigen tierbetreuenden Personen zu einem Kollaps in das herrschende Narrativ geführt, das durch die Medien und Labels gefördert, wenn nicht gar bejubelt wird. Propagiert werden Produkte von «glücklichen» Tieren, die keine Antibiotika erhalten, während das damit verbundene Leiden bei Tier und Mensch ausgeblendet wird. Das tägliche Dilemma, zwischen «keine antibiotische Behandlung» beziehungsweise «Behandlung gemäss Vorschrift» und «bestmöglicher Hege und Pflege» des tierischen Patienten entscheiden zu müssen, findet seinen Weg weder in die Wissenschaft noch in die Pu­blikationen von Vermarktern und Medien.

Über Jahre erworbene Erfahrungswerte bei der Behandlung von erkrankten Tieren sollen plötzlich falsch sein und können bei Anwendung mittlerweile zu strafrechtlicher Verfolgung führen. In der Literatur weitgehend unauffindbar ist die Frage, in welchem Mass und unter welchen Umständen erkrankte Tiere oder ganze Tiergruppen die Tierärzte und Tierhalter – sowie oft ihre ganze Familie – belasten: Der weitaus grösste Teil der Tierhalter in der Schweiz leidet mit den erkrankten Tieren mit und leistet Tag und Nacht einen immensen Mehraufwand an Betreuung und Fürsorge. Die wirtschaftlichen Folgen sind in dieser Phase noch nicht präsent und führen erst zeitversetzt zu einer weiteren, oft schwer zu tragenden Bürde. Die auffällige Interessen­losigkeit gegenüber den verschiedenen «externen Kosten» der Antibiotikamassnahmenpakete führt bei vielen Personen rund um das Tier zu grossem Unverständnis. Sie fragen sich, warum diese Kosten an Tier und Mensch in Kauf genommen werden oder ob diese von einigen politischen Akteuren sogar gewollt sind.

Missachtung der Komplexität

Ich habe versucht, den Sorgen und Bedenken Ausdruck zu geben, die viele Menschen teilen, denen ich in den vergangenen 20 Jahren auf allen Ebenen der Entstehung und Umsetzung von Massnahmen im Nutztier­bereich begegnet bin. Als praktizierende Tierärztin ­sowie während der Mitarbeit an wissenschaftlichen Studien hat mich die Frage beschäftigt, wie die Summe so vieler tatsächlich und scheinbar gutmeinender und engagierter Aktivitäten zu solch offensichtlich schädlichen Resultaten führen kann.

Dem beschriebenen Phänomen liegt eine grobe Unterschätzung der Komplexität der Wirklichkeit zugrunde sowie die Missachtung der Tatsache, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur aus einem sich entwickelnden Prozess hervorgeht. Das führt zur ganz praktischen Frage, inwiefern unsere gesellschaftlichen und politischen Prozesse die Wirklichkeit berücksichtigen und in für alle betroffenen Gruppen tragfähigen Entscheiden resultieren können. Der politische und wissenschaftliche Betrieb scheint sich zunehmend damit zu begnügen, komplexe Spannungsfelder in einfache Orthodoxien gemäss einem etablierten Narrativ zu pressen. Die wirklichen Konsequenzen und Kosten haben nicht die Entscheidungsträger zu tragen, sondern die täglich in der Praxis arbeitenden Menschen und im Fall von Antibiotika auch die Tiere.

Das ursprüngliche Ziel, gefährliche Antibiotika­resistenzen zu verhindern, um Menschenleben zu retten, ist durchaus gutgemeint. Aber die getroffenen Massnahmen führen zu einer unerhörten Belastung an der Basis, während Politik und Verwaltung laufend weitere Massnahmen ausarbeiten, deren Umsetzung einen stetig wachsenden Kontrollapparat zur Folge hat. Dabei bleibt unklar, ob und in welchem Ausmass das ursprüngliche Ziel erreicht wird. Das Resultat ist ein sich selbst bestärkendes System, in dem das Verhältnis von Aufwand und Ertrag völlig aus der Balance gerät. Und das bei den betroffenen Personen zu Frustration bis hin zur Erschöpfung führt.

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